Samstag, 19. März 2016

Mein Heilungsweg, Teil 5 (von 5)

Mit einem gelähmten Körper ist der Fluchtreflex noch schlimmer als mit einem gesunden. So sehr ich immer wegrennen wollte, einfach nur rennen, bis ich in Sicherheit war, ich konnte nicht. Ich war ja in Sicherheit. Auch das ist ein Gedanke, den Sie sich immer in Erinnerung rufen sollten.
Ich habe ihn oft vergessen. In der ganzen Zeit meiner Krankheit, von der Intensivstation, über die Neuro und den Gmundnerberg bis hierher nach Altenhof war ich immer in Sicherheit.
Die Gefahren, die Bedrohungen und der Sensenmann existierten nur in meinem Kopf. Denken Sie bitte daran, dass Ihre Ängste auch nicht real sind, sondern nur Ihre falsche Interpretation der Dinge. Ich will Ihnen damit nicht unterstellen, dass Sie sich alles nur einbilden, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es beim Guillain-Barré-Syndrom viele Menschen gibt, die so ähnlich darauf reagieren wie ich.
Mit Fassungslosigkeit und der Überzeugung, dass ich keine Chance habe, das zu überleben.
Fällt Ihnen etwas auf? Ich habe mich geirrt. Und ich schreibe meine Blogbeiträge mit meinen eigenen Händen. Inzwischen könnte ich schon mit mehr als nur den beiden Zeigefingern tippen, aber ich habe mich inzwischen so daran gewöhnt und kann große Mengen in kurzer Zeit schreiben, dass ich erst wieder auf das Zehnfingersystem umsteigen werde, wenn meine Hände wieder so mobil sind wie früher.
Die seelischen Qualen sind schlimmer als die körperlichen. Das geht auch aus der Literatur über diese Krankheit hervor. Ich hoffe, ich sage jetzt nichts Falsches, aber wenn man das Anfangsstadium des Guillain-Barré-Syndroms, die sogenannte Plateauphase, überlebt hat, kann einem körperlich eigentlich nichts mehr passieren. Die Tiefenvenenthrombose dürfte dann die einzige wirkliche Komplikation sein, aber die hängt ja nicht unmittelbar mit der Krankheit zusammen, sondern ist eine Folge der langen Bettlägrigkeit.
Psychisch sieht die Sache aber ganz anders aus. Die Krankheit lähmt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Der eigene Verstand vertraut sich selbst nicht mehr. Ich wusste immer, dass alles in Ordnung war und dass ich, von der Plateauphase abgesehen, in keinerlei ernster Gefahr schwebte. Trotzdem fürchtete ich mich vor allen möglichen Dingen. Das ging so weit, dass diese nicht existenten Gefahren für mich realer waren, als die vielen Erfolge und Wunder, die ich jeden Tag erleben durfte.
Ich sah meine Fortschritte zwar, aber kaum war eine Therapiestunde vorbei, versanken sie für mich wieder in Bedeutungslosigkeit. Ich konnte mein Hände für gar nichts gebrauchen, nicht einmal zur Betätigung der Notrufglocke. Im Vergleich zu einem Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom mit dem Vollbild einer Tetraparese sieht jede griechische Statue aus wie ein Parcourtspringer.
Vor einer Lähmung kann man nicht davonlaufen. Zumindest nicht mit seinem Körper. Fluchtpunkte fand ich nur in meiner Phantasie. Wenn auch Sie mit einer üppigen Phantasie ausgestattet sind, werden Sie sie sicher auch nützen, um dem Grauen des Alltags zu entfliehen. Gleichzeitig wissen Sie dann aber auch, dass es dieselbe Vorstellungsgabe ist, die Ihre seelischen Konflikte überhaupt erst verursacht. Wenig Phantasie verursacht wenig Angst, aber großer Einfallsreichtum kann einen mehr lähmen als jede Krankheit.
Es gibt Menschen, die ihr Schicksal einfach hinnehmen, nicht zuviel grübeln, auf Gott vertrauen und positiv denken. Ich gehöre nicht zu diesem Menschenschlag. Wenn eine Krankenschwester irgendwo an meinem Körper einen kleinen Abszess entdeckt hat, hatte ich schon die gesamte blutige Farbpalette meines herannahenden Endes vor Augen, bevor sie den Satz "Mach dich deswegen nicht fertig. Das ist harmlos" überhaupt aussprechen konnte. Diesen Satz habe ich sehr oft gehört.
Im Februar 2014 bekam ich eine Tiefenvenenthrombose. Das war dramatisch und extrem beängstigend für mich, aber es war die einzige gesundheitliche Komplikation seit dem Beginn meiner Krankheit. Glücklicherweise gehöre ich zu den Menschen, die eine Recherche im Internet nicht noch mehr in Angst und Schrecken versetzt, sondern beruhigt. Ich komme aus einer Medizinerfamilie. Vater Arzt, Bruder Arzt, Mutter Diplomkrankenschwester. Darum habe ich den großen Vorteil, dass ich die ganzen Fachbegriffe kenne und nicht dauernd nachfragen muss, was irgendetwas bedeutet. Also sind medizinische Fachinformationen für mich eher eine Entspannung, als dass sie mich beunruhigen.
Ich habe allen Ärzten, Therapeuten und Krankenschwestern immer alles geglaubt. Nie habe ich etwas angezweifelt, das sie sagten. Sie behielten auch alle immer recht. Nur mir selbst glaubte ich nichts. Wenn der Arzt zu mir sagte, "Das ist kein Tumor", glaubte ich ihm das aufs Wort und war beruhigt, aber sobald ich wieder allein war in meiner seelischen Festung der Einsamkeit, wurde der Abszess zu einem im Schlachtpferch des Operationssaals ausgeweideten Spiegelbild meines gelähmten Körpers.
Voraussetzung für die Zähmung der Phantasie im Krankheitsfall ist, dass man um Hilfe bittet. Wenn Sie etwas beunruhigt, plagt oder beängstigt, sagen Sie es. Trauen Sie sich. Ich habe mich oft nicht getraut, bis der Druck, der auf meiner Seele lastete einfach zu groß war. Irgendwann haben die Krankenschwestern und Krankenpfleger bemerkt, dass ich immer stiller und deprimierter wurde. Sie haben mich darauf angesprochen, und nach so manchem Gespräch fühlte ich mich viel besser. Ich habe immer geglaubt, meine seelischen Probleme alleine verarbeiten zu können. Kann ich nicht. Zumindest nicht im von Angst und Hoffnungslosigkeit geprägten Zustand einer so schweren Erkrankung wie dem Guillain-Barré-Syndrom.
Wenden Sie sich an die Fachleute, die Ihnen weiterhelfen können. Ärzte, Ärztinnen, Therapeutinnen und Therapeuten, aber ganz zuerst an Ihre Pflegekräfte. Die Krankenschwestern und Krankenpfleger sieht man jeden Tag, und Sie können sich jederzeit an sie wenden, wenn Sie Sorgen oder Angst haben.  Aber bitte, tun Sie eines nicht: Spielen Sie nicht den Helden! Schlucken Sie Ihre Furcht nicht einfach runter, versuchen Sie nicht, ein harter Mann oder eine starke Frau zu sein. Springen Sie über Ihren Schatten, geben Sie zu, dass Sie sich fürchten, und die Lösung Ihrer Probleme ist schneller da, als Sie glauben.
Zusätzlich zu der vielen Hilfe der Fachleute habe ich an meinem Geist gearbeitet. Entspannungstechniken und Autosuggestionen halfen mir, nicht total den Mut zu verlieren. Meditation beruhigt, entspannt den Körper und den Geist und fördert die Fähigkeit, in Extremsituationen die Ruhe zu bewahren. Das Guillain-Barré-Syndrom hat mich in einen solchen Zustand versetzt. Meine Muskeln waren so entspannt, das sie atrophiert sind, ich habe  auch immer die Ruhe bewahrt, ganz einfach, weil ich mich nicht bewegen konnte, war aber innerlich immer aufgewühlt, in einem Zustand des Dauerstress, der mich so weit gebracht hat, alles anzuzweifeln, was ich jemals war, geglaubt habe zu sein und zu erreichen hoffte. Ich kannte mich selbst nicht mehr und habe jeden Respekt vor mir verloren. 
Bis ich entdeckte, dass mir meine Krankheit die enorme Freiheit verlieh, alle Antworten zu finden, um mir ein phantastisches neues Leben zu erschaffen. Ich arbeite zwar noch daran, aber meine Zweifel haben sich in Luft aufgelöst. Der schlammige Weg, über den ich noch vor zwei Jahren in meinem Blog schrieb, ist inzwischen getrocknet und gut begehbar geworden. Die Hindernisse und Stolpersteine habe ich mit Hilfe meines Physiotherapeuten Wolfgang und all meiner anderen lieben Helfer beiseite geräumt. Jetzt muss ich mir nur noch die Füße eincremen und den Staub von meinen Händen schütteln. Ich bin davon überzeugt, noch immer alles erreichen zu können, was ich wirklich will. Vor nur einem Jahr war das noch nicht so. Da wurde ich noch von Ängsten und Pessimismus geplagt.
Ich fand schließlich heraus, dass die Ängste, die Zweifel, die Hoffnungslosigkeit und die negative Grundeinstellung nicht über mich hereingebrochen waren, sondern, dass ich sie selbst verursacht hatte. Zwar habe ich sie nicht gerufen, aber ich habe die Tür weit offen gelassen. Ich habe all den Dingen, die während der Zeit meiner Krankheit geschehen sind, viel zu viel Bedeutung beigemessen. Ich dachte, mein Leben sei vorbei, und mich würden nur noch Krankheit und Siechtum erwarten. Mir wurde klar, dass ein enormer Graben zwischen meiner Interpretation der Realität und der Wirklichkeit lag. Das liegt auch daran, dass ich mich selbst immer für viel zu wichtig gehalten habe. Letztlich war ich nur ein Patient unter zehntausenden auf der Welt mit Guillain-Barré-Syndrom. Nicht jeder Abszess, jede offene Stelle an der Haut, ein bisschen Fieber oder Herzrasen sind das Donnergrollen des herannahenden Endes. Hätte ich das schon früher erkannt, wären mir viel Stress und Angst erspart geblieben.
In den vergangenen drei Jahren sind so viele verrückte Dinge in meinem Leben geschehen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich habe gelernt, dass es kein festgeschriebenes Schicksal gibt, obwohl das schon immer meine Überzeugung war. Von meiner Krankheit wurden mir die Beweise für eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten geliefert. Meine Zukunft ist jetzt bunter denn je.
Wenn man mit Guillain-Barré-Syndrom oder einer anderen Erkrankung im Krankenhaus landet, heisst das noch lange nicht, dass das das Ende ist. Ich dachte lange Zeit, für mich würde es keine Chancen mehr geben. Das Schicksal oder eine andere höhere Macht hätten beschlossen, dass es für mich vorbei war. Dabei war ich früher nicht abergläubisch. Offenbar kann eine Ausnahmesituation wie diese Krankheit unter der Oberfläche des Bewusstseins liegende Persönlichkeitsschichten auftauchen lassen.
Ich weiß nicht, wie Sie über solche Dinge wie Schicksal, Bestimmung oder den freien Willen zur Gestaltung des eigenen Lebens denken. Aber ich kann Ihnen eines versichern: Der Beginn Ihrer Krankheit ist nicht automatisch das Ende Ihres Lebens. Welche Krankheit Sie haben ist dabei wohl zweitrangig. Die Chancen sind immer da. Die Möglichkeiten sind unendlich und die Essenz der eigenen Persönlichkeit auch. Selbst dann, wenn man sich nicht mehr wiederekennt und nicht mehr weiß, wer man wirklich ist.
Beim Guillain-Barré-Syndrom ist die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Genesung sehr hoch. Die gefährlichste Phase ist das Anfangsstadium der ersten paar Tage. Die Plateauphase. Danach folgt ein Fortschritt auf den anderen. Unterbrochen von Rückschlägen und mit langen Durststrecken dazwischen, in denen sich gar nichts tut.
Aber dann, auf einmal, so als wäre nichts gewesen, stehen Sie wieder aufrecht da und spüren den Boden unter Ihren Fußsohlen. Vielleicht können Sie die Griffe Ihres Rollators oder Gehbocks noch lange Zeit nicht loslassen, ohne nach hinten umzukippen, aber Sie können jederzeit aus dem Rollstuhl aufstehen und sich die Beine ein bisschen vertreten. Wenn Sie erst einmal soweit sind, wird es Ihnen ergehen wie mir. Aber unter Aufsicht, bitte.
Nach den ersten Schritten mit dem Gehbock auf einer nicht einmal zehn Meter langen Strecke von der Balkontür zur Zimmertür veränderte sich etwas in mir. Wieder einmal. Aber diesmal war es anders als nach dem ersten Aufstehen oder dem Aufheben einer Flasche.
Ich änderte meine Perspektive um 180 Grad. Der Betrachtungswinkel auf mich selbst kippte auf einmal um. Vom ersten zaghaften Schritt mit dem Gehbock bis zur Berührung der Zimmertür verwandelte ich mich und mein Selbstbild änderte sich schlagartig.
Von einer Sekunde auf die andere war ich nicht mehr ein Gelähmter mit Aussicht auf Besserung, sondern ein gehender Mensch, der noch eine Zeit lang im Rollstuhl sitzen wird. 
Auch, wenn meine Durchhalteparolen vielleicht ein bisschen nervig sind, möchte ich Ihnen sagen, dass es auch für Sie so sein kann. Ach was, ich lehne mich jetzt einfach ganz weit aus dem Fenster und garantiere Ihnen Folgendes: Wenn Sie die Plateauphase des Guillain-Barré-Syndroms überlebt haben, den Ärzten, Pflegekräften, Therapeuten und vor allem sich selbst vertrauen, nicht verzagen und sich mit Ihrem Schicksal nicht zufrieden geben, werden Sie aus dem Rollstuhl, dem Krankenbett oder wo auch immer Sie sich aufhalten, aufstehen, wie Sie es Ihr ganzes Leben davor getan haben.
Einfach so.
Und das Beste daran: Sie müssen nicht einmal glauben, dass Sie wieder werden gehen können.
Tun Sie' s einfach.





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