Samstag, 23. April 2016

Chaoswasser

Ich war lange Zeit der Meinung, man dürfe sich nie zu früh freuen. Ein bisschen war es Aberglaube. Der Gedanke, dass positives Denken Unheil herbeizieht, hat mich seit der Kindheit begleitet. Natürlich wusste ich, dass das Unsinn ist, aber sicherheitshalber habe ich immer mit dem Schlimmsten gerechnet. Diese Einstellung hat mir sehr oft im Leben geholfen und mich vor großen Enttäuschungen bewahrt. Auf diese Art konnte ich auch traumatische Erlebnisse verarbeiten.

Als ich dann am Guillain-Barré-Syndrom erkrankte und mich von einem Tag auf den anderen auf der Intensivstation eines Krankenhauses wiederfand, funktionierte diese Lebensphilosophie aber nicht mehr. Die Aussicht auf die schlimmsten vorstellbaren Konsequenzen, die meine Krankheit mit sich bringen könnte, waren zu grauenhaft, um sie zu akzeptieren und mich darauf vorzubereiten.

Die schlimmste Konsequenz wäre nicht der Tod gewesen. Der ultimative Schrecken war für mich, den Rest meines Lebens nichts von meinem Körper mehr gebrauchen zu können, als meinen Kopf. Womöglich noch vierzig Jahre oder sogar mehr die Welt und das Leben vollkommen reglos beobachten zu müssen, war zu unerträglich, um mich damit abzufinden. Selbst nach zwei Monaten Intensivstation und vier Monaten Neuro, als ich meine Arme zumindest schon heben konnte und einen Hauch von Rumpfstabilität hatte, war der Gedanke an ein solches Leben noch unvorstellbar.

Inzwischen habe ich gelernt, dass die Vorstellung von den besten Dingen, die geschehen können, weder Unglück noch Enttäuschungen bringt. Wenn man sich im Zustand der Tetraparese in seiner Vorstellung als geheilten, gehenden, laufenden, schwimmenden und tanzenden Menschen sieht, hellt das die Stimmung auf und programmiert das Hirn auf Heilung.

Das eigentliche Geheimnis des positiven Denkens ist die neuronale Plastizität. Das Hirn passt sich in seiner Anatomie dem Verhalten und den Gedanken des Menschen an. Diese Entdeckung war in der Hirnforschung bahnbrechend. Es bedeutet nicht weniger als dass die Art, wie wir denken die anatomische Beschaffenheit des Gehirns verändert. Vielleicht kennen Sie den Ausspruch "Das Hirn ist ein Muskel". Das stimmt natürlich nicht, aber es kann seine Gestalt tatsächlich verändern. Ähnlich einem Muskel ist es also trainierbar. Konsequentes positives Denken und die achtsame Konzentration auf schöne Gedanken und Beobachtungen, zwingen das Hirn dazu, seine Form zu ändern und der neuen Sichtweise anzupassen. Dabei ist es anfangs egal, ob man die positiven Gedanken glaubt oder nicht. Die ständige Wiederholung alleine reicht bereits aus, um das Hirn zu einer positiven Lebensphilosophie zu erziehen.

Halten Sie sich nicht für hochmütig, wenn Sie glauben, dass Sie wieder gesund werden. Sie haben ein Recht auf Gesundheit, Glück und Lebensfreude. Sie haben sogar das Recht, sich dieses Recht selbst zu geben. Dafür brauchen Sie niemandes Erlaubnis. Gehen Sie davon aus, dass es völlig klar ist, dass Sie sowieso gesund werden. Ihr Schicksal ist schon längst besiegelt. Von Ihnen selbst. Viele Ereignisse im Leben kann man nicht beeinflussen oder gar verhindern. Aber man kann seine Einstellung dazu selbst bestimmen.

Es konnte offenbar niemand verhindern, dass ich eine Tiefenvenenthrombose bekam. Die Thrombose selbst hat mich nicht umgebracht, aber durch die schreckliche Angst, die ich damals zugelassen habe, wurden diese zehn Tage Bettruhe für mich zur Hölle auf Erden. Aber schon damals, mit 43 Grad Fieber aufgrund eines grippalen Infektes, dachte ich mir, wenn ich das hier überlebe, werde ich auch alle anderen Probleme meistern.

So war es dann auch. Zweifel haben mich immer wieder zurückgeworfen, und Ängste hielten mich lange in ihrem Klammergriff, aber bei allem, was nach der Thrombose noch geschah, war ein Gedanke immer stärker als jede Angst: Ich habe schon so viel überlebt, ich werde auch das noch überleben.

Diese Einstellung zum Leben verdanke ich dem Guillain-Barré-Syndrom und der Tiefenvenenthrombose. Ich hätte sie nie erlangt ohne diese Schläge. Auch der Tod meiner Mutter hat mich stärker gemacht. Ich bin nie mit jemandem auf Streit aus und lege mich mit niemandem an. Aber nicht aus Feigheit, sondern, weil in mir ein Gedanke immer stärker ist, als jeder, der mir blöd kommt: Ich bin fast gestorben und habe überlebt. Ich war gelähmt und kann wieder gehen. Meine Mutter ist gestorben und hat mich so zu einem stärkeren Menschen gemacht. Steig erstmal in meine Schuhe und mache damit nur einen einzigen Schritt.

Offenbar hatte Nietzsche doch recht. Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Voraussetzung für die Erlangung neuer Kraft ist, dass man selbst im Morast des Lebens den Blick zu den Sternen richtet. Jeder, der den Sternenhimmel sieht, beginnt über den Sinn des Lebens und über die Ewigkeit nachzudenken. Jeder. Der Blick in die Sterne ist der Blick ins eigene Ich. Das unendliche Dunkel des Universums ist nichts anderes als der Abrund unserer selbst. Am Boden des Abgrundes entspringt ein Fluss, dessen Quelle niemand kennt. Kraft, Inspiration, Kreativität, Weisheit und Liebe stammen aus diesem Fluss. 

Die drei Jahre meiner Krankheit, meiner Genesung und all die schönen und schrecklichen Erlebnisse, die ich in dieser Zeit habe, haben mein Leben bereichert. Auch die furchtbaren und traurigen Ereignisse. Ich habe dadurch gelernt, mit extrem belastenden Situationen umzugehen und sie zu akzeptieren.

Heutzutage wird viel vom Loslassen geredet. Man muss auch loslassen können ist eine Floskel, die Sie sicher schon oft gehört haben. Natürlich ist es wichtig und unvermeidlich, von geliebten Menschen und Dingen Abschied zu nehmen. Loslassen heisst ja nicht vergessen oder verdrängen. Aber die Erinnerung an verlorene Menschen und Zeiten sollten ein unsichtbaren seelisches Band sein und nicht ein Fallstrick, der einen in den Abgrund stürzen lässt. Leicht gesagt, ich weiß. Das Loslassen funktioniert nämlich nur dann, wenn man auch sein Gegenteil beherrscht. Ich glaube, es ist sogar wichtiger, als die Fähigkeit, Abschied zu nehmen, loszulassen und sich neu zu orientieren.

Ich spreche vom Annehmen. Zulassen ist ungleich schwerer als loslassen. Schmerz, Angst, Trauer, Wut, Zorn und Verzweiflung zuzulassen und das Schicksal hinzunehmen, wie es ist, das ist wirklich schwer. In einem Universum, das dem Schicksal eines Menschen genauso gleichgültig gegenübersteht wie einem Meteoritenbrocken, der durch das leere Weltall rast, die Suche nach der höheren Gerechtigkeit oder dem tieferen Sinn aufzugeben und den Zustand der eigenen Existenz einfach nur anzunehmen und zu akzeptieren, ist die größte Herausforderung im Leben eines Menschen.

Von einem Akteur zu einem Beobachter werden. Die totale Kontrolle über das eigene Leben war immer eine Illusion und wird es auch bleiben. Wir können uns noch so sehr wünschen, dass alles wieder gut wird. Die letzte Entscheidung können wir nicht treffen. Oft wird das Schlechte auch wieder gut, nur eben anders, als wir glauben. Heilung ist Veränderung. Immer. Es gibt keinen Rückweg zur Heilung. Heilung geht immer nach vorne, dreht sich nie im Kreis und ist immer auf dem Weg nach woanders. 

Die letzte Entscheidung zum Verlauf des Lebens nicht treffen zu können ist weit weniger erschreckend, als man vielleicht glauben mag. Sich darauf zu vertrösten, dass jemand anderer die bedeutenden Entscheidungen im Leben trifft, scheint mir ein Irrweg zu sein. Die eigene Schwäche zu delegieren und einer höheren Macht, sei es Mensch oder Gott, in die Hände zu legen ist letztlich ein weiteres Beharren auf Kontrolle. Ob ich über den Fortgang einer Situation entscheide oder jemand anderer, es wird trotzdem immer noch eine Form der Kontrolle und damit der scheinbaren Ordnung ausgeübt.

Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass niemand die Kontrolle hat und dass niemand die Entscheidungen trifft. Das Leben von Menschen, Völkern und ganzen Kulturen ist weder ein ewiger Kreislauf noch eine Kette aus Ereignissen. Das Leben ist eine Palette, auf der alle Farben und deren Mischformen bereits im ungemalten Bild existieren. Aus den Farben eines Aquarellkastens kann man die unterschiedlichsten Bilder malen. Aus den 26 Buchstaben unseres Alphabets können Liebesbriefe und Hasspredigten entstehen. Natürlich brauchen solche Werke einen Verfasser. Das gilt aber nur aus der Sicht einer zweidimensionalen Raumzeitstruktur. Solange wir in den Begriffen Anfang und Ende denken, werden wir immer einen Erschaffer oder einen Gestalter brauchen.

Wenn das Universum aber unendlich ist, sowohl im Raum und in der Zeit, steht alles Vorstellbare und Unvorstellbare zur Verfügung. So wie die Möglichkeiten des Verhaltens eines Atomteilchens, von denen nie alle zur selben Zeit beobachtet werden können. Das Elektron, das der Kern jedes Moleküls ist, existiert als verschwommene Wolke, aus der alle möglichen Gestalten entstehen können.

So bin ich für mich selbst zu dem Schluss gekommen, dass das Universum und unser Leben weder endlich noch unendlich sind, sondern eine rätselhafte und wunderbare Unschärfe. Eine Art Ozean aus Chaoswasser. Aus dem Chaoswasser lässt sich alles schöpfen, aber auch nichts. Beides. Alles und nichts. Ich weiß, das ist schwer zu akzeptieren.

Der französische Philosoph Blaise Pascal sagte, unabhängig davon, ob Gott existiert oder nicht, würde ein Mensch ein besseres und erfüllteres Leben führen, wenn er an Gott glaubt. Man bezeichnet seine Ansicht als "Pascalsche Wette". Was Pascal nicht wusste, ist, dass das Licht sowohl als Welle als auch als Teilchen Existieren kann. Aber nicht, indem es seine Erscheinungsform nach Belieben ändert, sondern in Wechselwirkung zur Erwartung des Beobachters. Das bedeutet, dass das Licht als Welle in Erscheinung tritt, wenn der Mensch es so will, und ebenso als Teilchen, wenn der Mensch ein Photon erwartet.

Wenn nun das Licht sowohl Welle als auch Teilchen sein kann, wäre es doch möglich, dass Gott sowohl existiert als auch nicht existiert. Er ist schließlich Gott und kann tun, was er will. Umgelegt auf das physikalische Doppelspaltexperiment mit den Lichtwellen und Lichtteilchen würde das aber bedeuten, dass Gottes Existenz von der Erwartung des Menschen abhängt. Gott existiert also nur dann, wenn man an ihn glaubt. Mit unserer menschlichen Denkweise, die auf Ursache und Wirkung beruht, hat das nichts mehr zu tun. Es wäre interessant zu wissen, was Pascal dazu sagen würde.

Ich betrachte das Leben als unscharfe Möglichkeit. Es geschehen viel zu viele unvorhersehbare Dinge, als dass man es kontrollieren könnte. Um aus diesem Meer der Möglichkeiten das zu schöpfen, was man will, braucht man ein Werkzeug.

Dieses Werkzeug heisst Kreativität. Wir benutzen es täglich. Ständig. Sogar jetzt gerade. Selbst die Menschen, die sich selbst nicht für kreativ halten, sind es in Wahrheit doch. Alles, was wir tun ist kreativ. Destruktivität ist eine Erfindung des Menschen. Aus allem entsteht immer etwas Neues. Zerstörung gibt es nicht. Destruktion ist Interpretation. Wir sagen, etwas sei kaputt, aber wurde in Wirklichkeit nicht etwas Neues erschaffen, das lediglich unserer Vorstellung von kontrollierbarer Schönheit widerspricht? Selbst, wenn wir ein Märchenschloss niederreissen, verschwindet es nicht. Es verwandelt sich in eine Ruine. Jede Zerstörung ist eine Neuerschaffung, auch wenn uns der Anblick nicht gefällt. Daraus können wir doch die Schlussfolgerung ziehen, dass jede Handlung kreativ ist. 

Alles ist ständige Schöpfung. Ob uns das gefällt, ist Nebensache. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als Akte der Zerstörung als Bewegungen in Richtung eines Neubeginns zu begreifen. Also kann man nichts loslassen. Loslassen wäre eine Unerschaffung. Aber Zerstörung gibt es nicht. Loslassen ist unkreativ. Es erschafft nichts. Aus dem Loslassen entsteht nichts Neues. Aus dem Annehmen schon. 

Ich habe festgestellt, dass das Annehmen des Unannehmbaren nicht nur Trost spendet, sondern auch Freiheit schenkt. Aber nicht die Freiheit von etwas loszukommen, sondern die Freiheit hin zu etwas Neuem. Das sind die zwei Arten der Freiheit: Die Freiheit von und die Freiheit zu. Frei von etwas zu sein ist rückwärtsgewandt, und das Echo der Abhängigkeit hallt uns ewig nach. Die Schatten der Vergangenheit ziehen wir hinter uns her, und sie kleben an uns wie Pech.

So gibt es also zwei Arten von eigenen Schatten. Den einen, über den wir springen können, und den anderen, von dem wir uns losreissen müssen. Dieser zweite Schatten ist dunkler, schwerer und hartnäckiger als der Sprungschatten. Er ist aber kein Fluchtschatten, der uns dazu bringt, vor ihm wegzulaufen. Flucht ist auch eine Form des Loslassens. Man entkommt der Bedrängnis nur für kurze Zeit, sie bleibt uns auf den Fersen. Dieser zweite Schatten unserer selbst hat einen anderen Namen. 

Ich nenne ihn den Spiegelschatten. Er ist all das, was wir unser ganzes Leben lang mit uns herumschleppen und was und bedrückt. Er bricht uns fast das Rückrat, denn der Spiegelschatten ist schwer. All die Träume und Verluste, unsere Schmerzen und die Angst, Wut und Trauer, Zorn und Selbsthass, lasten wie ein Fels auf uns. Verlorene Ideale sind dabei, ungegangene Wege und nie befahrene Straßen. Unerfüllte Träume. Vertane Chancen. Aus den Augen verlorene Ziele, sinnloses Warten und Zögern. Sie türmen sich immer höher über uns auf, bis wir den Blick auf das Leben verlieren.

Aber das Schlimmste daran, die uns niederdrückende Wahrheit, ist, dass wir es selbst sind, die auf uns lasten. Uns liegen keine Steine im Weg, wir müssen keine Grenzen überschreiten und Mauern niederreissen. Die Last, die Steine, die Grenzen und die Mauern sind wir selbst. Wir stehen unseren Schritten selbst im Weg, und darum ist der Schatten, den wir mit uns herumschleppen, ein Spiegel. Darum können wir über diesen Schatten nicht springen und darum wollen wir uns ihm nicht stellen. Wir erschaudern davor, ihm ins Gesicht zu blicken, weil wir uns selbst darin erkennen.

Marc Aurel sagte, wir können die Geschehnisse in unserem Leben nicht beeinflussen, aber wir bestimmen unsere Einstellung dazu. Diese Fähigkeit, unseren Blick auf das Leben zu variieren und die Perspektive zu wechseln, ist die einzige Möglichkeit auf Selbstbestimmung, die wir haben. Sie wirkt sogar rückwirkend und setzt damit alle Gesetze der Physik außer Kraft. Wenn wir mit einem Gefühl des Mißmuts oder gar der Furcht ein schönes Erlebnis haben, verbauen wir uns den Blick auf das Schöne dieses Augenblicks. Aber wenn wir uns daran zurückerinnern, blenden wir die Angst und die seelische Bedrängnis aus und können das Schöne, das wir damals versäumt haben, neu erleben.

Frei zu etwas zu sein, ist Unabhängigkeit. Das beinhaltet auch die Freiheit von Entscheidungen. Es bedeutet die Freiheit der Abschiebung der Entscheidung auf jemand Anderen. Der berühmte Sprung ins kalte Wasser ist ein Ausdruck der Freiheit hin zu einer ungekannten Vielfalt an Möglichkeiten.

Das Schwierige dabei ist, sich mit der Existenz der Möglichkeiten zu begnügen. Den Gedanken, das Leben genau zu planen und diese Pläne dann umsetzen zu können, muss man aufgeben. Man kann höchstens eine grobe Skizze anfertigen, aber die Palette muss sich jeder Maler so mischen, dass er auch andere Bilder malen kann als diejenigen, die er ursprünglich im Kopf hatte. Pläne abzuändern ist nicht leicht. Man muss damit rechnen, mit dem Ergebnis unzufrieden zu sein. Lohnenswert ist es trotzdem. 

So, wie das Hirn durch die Neuroplastizität eine konstruktive Umstrukturierung durchführt, ermöglicht eine alternative Denkweise einen völlig neuen Blick auf das Leben.



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