Samstag, 30. April 2016

Du bist Dein Ziel!

Ich war gerade erst seit zwei Monaten im Behindertendorf in Altenhof am Hausruck, als mich ein Pfleger fragte, ob ich Interesse daran hätte, ihn und einen Mitbewohner bei einem Ausflug zu begleiten.
Er arbeitete damals gerade an der Abschlussarbeit für seine Ausbildung. Es sollte eine Powerpoint-Präsentation zum Thema Pflanzen und ihre gesundheitsfördernden Wirkstoffe werden. Ich weiß nicht viel darüber, aber es ging um Brennnesseln, essbare Birkenblätter und natürlich Holunder. Ob ich ein paar Fotos machen wolle. Zögerlich sagte ich zu, denn damals konnte ich nur meine Arme bewegen, die Hände und Finger kaum, wurde von meinem Dauerkatheter geplagt, und meine Mutter war sehr krank. Schließlich sollte sie an dieser Krankheit sterben. Das wollte ich damals nicht wahrhaben, ahnte es aber bereits. Das eigene Herz sagt einem immer die Wahrheit, egal, ob man sie hören will oder nicht.

Mein üblicher Tagesablauf bestand aus Angst, Hoffnungslosigkeit, Depressionen, dann doch wieder Hoffnung, gefolgt von schlechten Nachrichten über meine Mutter, kein Selbstvertrauen, keine Aussicht auf eine schöne Zukunft, und über allem lag ein vierundzwanzigstündiger, mehr oder weniger starker Harndrang. Trotz Katheter. Oder vielleicht deswegen, ich weiß es nicht. Mein ganzer Blick auf das Leben war sauer, bitter und ängstlich.

Ich war also seelisch in einem sehr schlechten Zustand und ausserdem noch immer fast vollständig gelähmt. Zwar machte ich bereits Physiotherapie, aber die beschränkte sich noch darauf, den Oberkörper im Rollstuhl ein kleines Stück nach vorne und zu den Seiten zu bewegen. Von wirklicher Rumpfstabilität konnte noch keine Rede sein. Außerdem hatte ich keine Freude am Gesundwerden und am Trainieren. Der Gedanke, dass eine kleine Bewegung in die falsche Richtung wieder Krämpfe, ständigen Harndrang und andere schwache, aber hartnäckige Schmerzen auslösen könnte, lähmte mich noch zusätzlich zu meiner Krankheit Guillain-Barré-Syndrom.

Falls Sie selbst gerade auf die Toilette müssen und sich fragen, warum dieses harmlose Gefühl für mich so unerträglich war, gebe ich Ihnen einen Tipp, wie Sie mich besser verstehen können: Bevor Sie aufstehen und auf die Toilette gehen, warten Sie doch bitte noch zwei Jahre.

Wir waren auf der Straße durch die Ortschaft unterwegs, der Pfleger zu Fuß, mein Mitbewohner und ich in unseren E-Rollis. Es war Anfang Juni und ein herrlicher Tag. Es war warm, aber nicht heiß. Ich nahm mir vor, diesen Tag zu genießen. Fast das ganze Jahr davor war ich nur im Bett gelegen oder im Rollstuhl gesessen. In die Natur war ich seit meiner Einlieferung ins Krankenhaus nicht mehr gekommen und ins Freie nur bei Krankentransporten zu Untersuchungen oder Operationen.

Jetzt, auf einmal, war ich einfach so in der Gegend unterwegs und war geradezu hingerissen von der Schönheit der oberösterreichischen Landschaft. Ich kannte diese Gegend nicht, aber sie steht der Region rund um den Attersee in nichts nach. Bis auf den See natürlich. Altenhof, Gaspoltshofen und der nahe Umkreis sind ideale Plätze zum Fotografieren, Zeichnen und Malen. Wenn ich heute an diesen Tag im Juni 2014 zurückdenke, erinnere ich mich nur an das Gute daran. Es hat mir sehr gefallen, die Felder auf den sanft geschwungenen grünen Hügeln zu sehen. Den blauen Himmel. Die Sonne zu spüren.
Heute muss ich sagen, dass die Lähmung meiner Willensstärke und meiner Zuversicht schlimmer war als die Tetraparese. Ich habe mich damals oft gefragt, wie weit ich mit meiner Genesung schon sein könnte, wenn ich nicht ständig diese absurde Angst vor Harnwegsinfekten und Blasenentzündungen gehabt hätte. Eine lange Zeit, gut ein ganzes Jahr lang, scheute ich vor jeder Bewegung zurück, die nicht unbedingt notwendig war. Damit der Ballon meines Katheters nicht gegen die Blaseninnenwand stößt und ein Gefühl auslöst, als würde ich gleich in die Hose machen. Es war eine entwürdigende Erfahrung für mich. Meine Gedanken kreisten den ganzen Tag nur darum. Entspannen konnte ich mich kaum, von einer Erholung meiner Nerven konnte ich nur träumen. 

Wenn Sie meinen Blog schon länger kennen, werden Sie sich vielleicht denken, jetzt fängt der schon wieder mit seinem komischen Katheter und seiner blöden Blase an. Ich habe mir vorgenommen, über die Zeit meiner Krankheit so offen und so detailliert wie möglich zu schreiben, alleine schon deshalb, weil ich hoffe, dass irgendwo ein Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom meinen Blog entdeckt und sich wiedererkennt. Ich konnte mich an niemandem orientieren. Ich war zwar von vielen Menschen umgeben, und Mama lebte noch, aber letztlich war ich mit meiner Krankheit allein. Als ich auf der Intensivstation mit der Diagnose GBS aufwachte, wusste ich nichts über diese Krankheit. Als Kind und Jugendlicher war ich mit meinem Vater oft bei den Visiten zu seinen Patienten unterwegs. Ich habe auf diese Art viele Menschen und ihre Krankheiten kennengelernt. Ich dachte immer, ich hätte ein gutes Laienwissen über Medizin.

Im Juni 2013 stellte ich fest, dass ich gar nichts weiß. Kompliment, Sokrates, du hattest recht. Damals habe ich mir gewünscht, mehr über diese Krankheit zu erfahren, aber da ich vollkommen bewegungsunfähig war, konnte ich keinen Computer bedienen, um eigene Nachforschungen anzustellen. Das kam erst viel später. Den Blog habe ich begonnen, um interessierten Menschen von meinem Leben mit GBS zu berichten und, um eine Datenbank mit sehr persönlichen Erzählungen über diese Krankheit zu schaffen. Wie es einem so geht, wenn man das hat. Was einem durch den Kopf geht. Ich wollte über die Steine schreiben, die darauf warteten, mir endlich vom Herzen zu fallen. Ich hatte damals keinen Zugriff auf einen so reichhaltigen Erfahrungsschatz. 

Heute schreibe ich meinen 99. Blogpost. Oft frage ich mich, ob ich aufhören soll, schließlich will ich mich nicht wiederholen, aber dann mache ich doch weiter. Erstens, weil ich wissen will, ob meine Berichte Anklang finden und zweitens, weil ich mich sehr leicht in die Zeit zurückversetzen kann, als ich gelähmt im Bett lag und mir gewünscht habe, dass mir jemand, der selbst das Guillain-Barré-Syndrom hat, mehr darüber erzählen würde. Vielleicht helfen meine Texte ja einem GBS-Kollegen, der wissen möchte, was ihm nach der Diagnose Guillain-Barré-Syndrom bevorsteht. Natürlich verläuft das Guillain-Barré-Syndrom bei jedem Menschen anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Besonders die seelischen Auswirkungen auf den ganzen Menschen sind gleichermaßen verheerend wie bereichernd. Dazu zählt die endlos lange Zeit des Stillstands zwischen den Fortschritten. Mutlosigkeit und Angst verwandeln sich in Selbsterkenntnis und Zuversicht.

Wenn Sie Fragen an mich haben, hier geht' s lang: markus.paerm@gmail.com 

Diese Monate vom ersten schwachen Anheben der Arme einige Zentimeter über die Matratze, über das erste Aufstehen aus dem Rollstuhl mit der panischen Angst hinzufallen und mir doch noch das Genick zu brechen, bis hin zu den täglichen Trainingsübungen mit dem Gehbock von der Balkontür zur Zimmertür. Na ja, fast täglich. Ich will ja ehrlich sein.

Es hätte alles viel schneller gehen können. Das haben meine irrationalen Ängste verhindert. Schon im Dezember 2014 war ich wieder auf den Beinen. Rein technisch gesehen. Da ist es mir zum ersten Mal gelungen, mit einem Rollator drei zittrige Minischritte zu machen. Wenn ich von diesem Moment an hart und gravitationsverachtend trainiert hätte, säße ich heute, im April 2016 nicht immer noch im Rollstuhl. Ich kann zwar gehen, wenn ich mich dabei an einem Gehbock abstütze, aber frei gehen und stehen kann ich noch immer nicht, obwohl ich die Kraft dazu schon längst habe.

Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Entweder ist die Myelinschicht rund um die Nerven meiner Füße noch nicht richtig abgeheilt oder die Muskeln sind noch zu schwach. Ich kann die Füße so gut wie gar nicht bewegen. Anheben ist unmöglich. 

Und dann, plötzlich, wird alles wieder anders. Stellen Sie sich darauf ein, lieber GBS-Kollege! Ich habe mich von Oktober 2015 bis März 2016 abgemüht, aus dem E-Rolli aufzustehen, indem ich mich an einem Rollator abgestützt habe. Dabei war die Sitzfläche des Rollstuhls nicht höhergestellt, und ich hatte auch keine anderen Hilfsmittel. Mein Physiotherapeut Wolfgang hat mich Woche für Woche motiviert und angespornt. Irgendwie schaffte ich es aufzustehen, dann wieder nicht. Er gab mir immer moralische Unterstützung, indem er meine Trainingshose oder mein Hemd festgehalten und eine Bewegung gemacht hat, als würde er mich hochziehen. Das war allerdings nur eine psychische Hilfe, sagte er dann immer. Wenn er an dem Poloshirt oder dem seitlichen Bund der Hose gezogen hat, schaffte ich es mit viel Schwung fast jedesmal aufzustehen. Wenn er es nicht tat, klappte es nie. Ich konnte meine Angst nicht überwinden, nach vorne zu kippen und der Länge nach auf den Boden oder den Rollator zu fallen.

Dann kam Wolfgang eines Tages mit dem Gehbock. Das ist jetzt etwa drei Monate her. In diesen drei Monaten habe ich an mir selbst mehr Fortschritte gesehen, als in den drei Jahren davor. Der Gehbock ist ein wackliges Gerüst aus Aluminium. Für mich war es natürlich unvorstellbar, damit aufzustehen. Ich brauchte dann aber nur vier- oder fünf Therapiestunden, bis ich den Dreh raushatte. Der Gehbock hat keine Räder, sondern steht vorne und hinten auf zwei Stangen, die quer miteinander verbunden sind. Er sieht so ähnlich aus wie ein Laufstall für Kleinkinder. Das übten wir die nächsten Stunden so lange, bis meine Angst weg war. Der Gehbock kann zwar kippen, wenn ich zuviel Schwung nehme oder ihn beim Gehen hinten zuerst anhebe, aber er kann weder wegrutschen noch wegrollen. Jetzt sind nur noch meine Fußgelenke schwach, darum werde ich den Gehbock noch einige Zeit brauchen.

Ich werde immer sicherer beim Gehen. Ich schwitze kaum noch, und meine Angst hinzufallen ist eher zu einer lästigen Befürchtung geschrumpft. Ich brauche zum Aufstehen auch keinen Schwung mehr. Ich muss nicht mehr fünfmal nach hinten ausholen, um mich dann schwerfällig in die Lüfte zu schwingen wie ein Albatross mit Flugangst. Auch meine Schritte werden größer und ich setze den Gehbock etwa einen halben Meter vor mir ab und nicht nur ein paar Zentimeter wie noch vor ein paar Wochen.

Alles, was mir zum normalen Gehen und Stehen jetzt noch fehlt, ist die Standfestigkeit in meinen Füßen. Wolfgang sagt, die würde mit dem Training kommen. Ich glaube ihm, obwohl es nie klappt, wenn ich es ausprobiere. Ich merke aber, dass ich wesentlich mehr Kraft habe als noch Anfang dieses Jahres. Und auch eine positive Denkweise habe ich mir angewöhnt.

Die Angst hinzufallen ist leichter zu ertragen, als die Angst nie wieder gehen zu können. Angst kann ein Motor sein. Eine ausweglose Situation ist zugleich auch ein Ziel. Wenn Dir Dein Ankunftsort nicht gefällt, zieh weiter. Egal, wie lang die Reise dauert und wie viele Schritte man machen muss, der Weg führt den Reisenden niemals irgendwo hin, sondern am Ende immer zurück zu sich selbst.

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