Samstag, 9. April 2016

Der bunte Tod

"I' m still standing 
After all these years.
Looking like a true survivor,
Feeling like a little kid."
– Elton John

"Nicht aufgeben", sagt mein Physiotherapeut Wolfgang immer zu mir, wenn es in einer Therapiestunde wieder einmal nicht so rund läuft, wie ich es gerne hätte. Bei meiner Krankheit sei es wie beim Zickzackkurs einer Aktie an der Börse, meinte er neulich. Zwischendurch gibt es ein paar kleine Einbrüche, aber ausschlaggebend ist die Grundtendenz. Langfristig verläuft der Pfeil nach oben. Ich verkniff mir jegliche Bemerkungen über Börsencrashs und Bankenkrisen.
  Damit hat er natürlich recht, aber trotzdem ist es für einen Zweifler wie mich immer wieder ein Rückschlag, wenn mir überhaupt nichts gelingt. Erst vor drei Tagen war wieder so ein Tag. Es war Viertel nach zwei Uhr nachmittags, es klopfte an der Tür, und Wolfgang kam herein.
  Ich wollte die üblichen paar Meter von der Balkontür in meinem Zimmer bis zu Eingangstür zurücklegen. Aber schon das Aufstehen aus dem Rollstuhl klappte nicht richtig. Ich bemerkte, dass es an meiner Fußstellung lag. Mein rechter Fuß war zu weit nach innen gedreht, und darum kippte ich beim Aufstehen nach rechts. Also korrigierte ich meine Fußstellung, saß aber immer noch zu weit hinten auf dem Sitz. Wolfgang sagte, ich sei nicht weit vorne genug. Das wusste ich zwar selbst, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das ändern könnte. Ich rutschte ein paar Zentimeter nach vorne, nahm Schwung, schaffte es wieder nicht, nahm noch mehr Schwung und setzte mich wieder hin.
  "Kurze Pause", sagte ich. Da wusste ich schon, dass das heute keine erfolgreiche Therapiestunde werden würde. Trotzdem nahm ich mir vor, es gleich wieder zu versuchen. Ich erhole mich relativ schnell, und ich wollte auf keinen Fall aufgeben.
  "Ja, mach eine Pause", sagte Wolfgang. 
  Es war nicht das erste Mal, dass er geduldig blieb. Ich frage mich immer, wie er das macht. Ich bin ja selber ein ruhiger Typ, aber wenn ich ein Therapeut wäre und einen Patienten wie mich hätte, wäre ich schon längst im Dreieck gesprungen. Ich verstand mich in diesem Moment wieder einmal selbst nicht mehr. Es war ein guter Tag, dieser erste Montag im April. Ich fühlte mich wohl. Nicht den Umständen entsprechend wohl, sondern einfach nur normal gut. Ich hätte an diesem Tag viel mehr schaffen können als dieses Fiasko.
  Dann unternahm ich den nächsten Versuch. Schwung nehmen, obwohl ich weiß, dass ich das gar nicht brauche. Ich kann auch ohne Schwung problemlos aus dem E-Rolli aufstehen. Aber aus irgendeinem Grund traute ich mich nicht so recht. Mir fiel ein, wie ich es richtig machen musste, tat es aber nicht. Irgendetwas hemmte mich, aber ich wusste nicht, was das war. Auch jetzt weiß ich es noch nicht. Es war kein außergewöhnlich schwieriges Training an diesem Tag, und wir probierten auch nicht etwas Neues aus. Ich sollte einfach nur von einer Tür zur anderen gehen und dabei vor jedem Schritt den Gehbock vor mir aufheben und wieder absetzen.
  Irgendwie kam ich dann auf die Beine und stand wacklig und unsicher da. Ich glaubte, meine Knie würden jeden Moment den Geist aufgeben und einknicken. In Gedanken versuchte ich mich selbst zu motivieren. Noch am Vormittag hatte ich mir vorgenommen, heute mit leichten und kräftigen Schritten dreimal von der einen Tür bis zur anderen zu gehen, ohne dabei zu schnaufen wie ein Elefant mit Rüsselkatarrh. Ich wollte meine Füße ordentlich anheben und schön gehen, wie Wolfgang mir nun schon seit einigen Wochen riet. Nicht nur effektiv und sicher gehen, sondern auch schön.
  "Jetzt geht es um die Qualität", sagte er. "Es ist nicht so wichtig, wie weit du kommst, sondern, dass du sicherer wirst und die Füße richtig anhebst. Stell dir vor, du müsstest über eine Gehsteigkante gehen."
  Schön gehen ging aber nur unschön. Ich schleifte den linken Fuß eher nach, als dass ich ihn anhob. Die ganze vergangene Woche war es während meiner täglichen Gehübung kein Problem gewesen, aber jetzt brachte ich die Beine und die Fußsohlen einfach nicht ordentlich in die Höhe. Ich hatte Angst einzuknicken, fühlte leichten Schwindel, befürchtete, ich könnte einen Kreislaufkollaps bekommen, atmete schwer und fühlte mich einfach nur schwach und erschöpft.
  Normalerweise lege ich nach jedem Schritt eine Pause von zwei Atemzügen ein. Das ist genug, um Kraft zu tanken, aber zu wenig, um wieder unsicher zu werden. An diesem Tag aber war ich von Anfang an unsicher und dachte mir, das würde nicht gut ausgehen.
  Schließlich schaffte ich es knappe drei oder vier Meter bis zum Rahmen der Innentür meines Zimmers. Die Tür wurde aber schon aus den Angeln gehoben, bevor ich hier einzog. Ich bin froh, dass diese Extratür zwischen dem Wohnbereich und dem kleinen Vorraum mit der Garderobe nicht da ist, sonst würde ich mich ganz eingeengt und alleingelassen fühlen.
  "Ich kann nicht mehr", sagte ich. "Ich muss mich hinsetzen." Trotzdem war ich noch optimistisch und nahm mir vor, es in ein paar Minuten nocheinmal zu versuchen. Normalerweise brauche ich nach solchen Anstrengungen nur eine kurze Erholungszeit und bin dann zwar nicht gerade fit, aber zumindest einsatzbereit. 
  Meine Knie waren weich wie zerkochtes Knochenmark, und ich glaubte, mir würde gleich schwarz vor Augen werden. Knapp die halbe Strecke, sogar etwas mehr, hatte ich schon geschafft. Ich stand schon unter dem Türrahmen und hätte nur noch drei Schritte machen müssen. Aber ich schaffte es einfach nicht mehr.
  "Ich bin da", sagte Wolfgang. Ich spürte den E-Rolli an meinen Waden und setzte mich vorsichtig hin. Dann fuhr ich rückwärts in mein Zimmer, den Gehbock zum Schoß hochgezogen, bis zur Balkontür.
  "Ich verstehe das nicht." Ich war richtig demoralisiert. Der Tag hatte gut angefangen, alles war in Ordnung, ich war optimistisch und gut gelaunt, und dann das.
  "Wir lassen es für heute." Wolfgang saß auf einem Besuchersessel neben mir und sah mich an. "Du hast heute keinen guten Tag, aber das ist kein Rückschritt", sagte er. "Nach deinen fünfzehn Aufstehversuchen, oder wie viele es auch waren, sah ich schon, dass es heute nicht geht. Dann hast du das linke Bein nur noch nachgeschliffen."
  Einerseits war ich froh, dass es für heute vorbei war, und andererseits ärgerte ich mich über mich selbt, dass ich mir nicht mehr Mühe gegeben habe. So viel habe ich zusammen mit Wolfgang schon geschafft, sogar schön zu gehen, und jetzt so eine Pleite. 
  Shit happens, sprach der Stoma. Am Tag darauf schaffte ich die Distanz wieder. Dafür waren beide Ohren verstopft. Aber die Kraft war wieder da. Die Sicherheit noch nicht so ganz, aber auch das wird noch. Inzwischen bin ich wesentlich zuversichtlicher geworden, fast schon cool. Nein, nicht nur fast. Ich habe nicht mehr so viel Angst hinzufallen.
  Der Weg bis zum Boden ist nicht besonders weit, ich habe den Gehbock zum Abstützen, bin durch mein Körpergewicht recht gut gepolstert, und die Gefahr einer schweren Verletzung ist bei einem Sturz dieser Art sowieso nur gering. In meinem Fall hat die Angst vor dem Fallen einen anderen Grund. Ich habe schon darüber geschrieben. Mit einem Stolpern und einem Sturz hat alles angefangen. Es war der letzte Schrit, den ich vor dem Ausbruch des Guillain-Barré-Syndroms machte. Der Rest ist eine Geschichte, von der es mir lieber wäre, ich müsste sie nicht erzählen.
  Ich erzähle keine Geschichte der letzten Schritte. Es ist eine Erzählung vom Fallen, vom Wiederaufstehen und vom Weitergehen. Es ist eine schöne Geschichte.
  So hoffe ich, dass meine Blogtexte vielen Menschen mit dieser oder einer anderen Krankheit weiterhelfen können. Vielleicht ist es ein wenig naiv, das zu glauben. Aber für mich war das Schreiben über meine Krankengeschichte außerordentlich befreiend und beschützend. Also warum nicht auch das Lesen? Ich glaube, die Worte, die ich seit Januar 2014 täglich in meine Tagebuch-App tippe, haben meinen Verstand zusammengehalten. Sonst wäre er in seine Einzelteile zerfallen und ich wäre in einer Sturmfront aus Angst, Verzweiflung, Trauer und Hoffnungslosigkeit versunken. Irgendwann hätte ich nur noch durch mein Zimmerfenster gestarrt, aber die blühenden Kastanienbäume nicht gesehen.
  Inzwischen klappt das Gehen wieder. Ich habe auch nicht daran gezweifelt, dass meine schwache Leistung nichts über die Zukunft aussagen kann. Wenn ich daran denke, in welchem Zustand ich vor einem Jahr und vor zwei Jahren war, habe ich wirklich keinen Grund zur Schwarzmalerei. Früher war ich sehr pessimistisch. Mein Physiotherapeut Wolfgang sagte, meine Einstellung erinnere ihn an das Lied "Paint it Black" der Rolling Stones. 
  Für mich war es immer naheliegend, die schlimmsten Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, damit ich nicht überrascht sein kann, wenn dann wirklich etwas Schreckliches passiert.
  "Wenn du weißt, dass du nass wirst, kann dich ein plötzlicher Regenschauer nicht überraschen. Diese Erkenntnis gilt für alle Dinge." So steht es im "Hagakure", dem Weisheitsbuch der Samurai. Es liegt sehr viel Wahrheit und Erkenntnis in diesem Spruch, aber es ist ein großer Unterschied, ob man das Negative als plausible Möglichkeit sieht, oder ob man es als unabänderbares Schicksal betrachtet. Letzteres habe ich meistens getan. Bei Kleinigkeiten ist das sicher eine gute Strategie, aber ich habe in Fragen, die meine Gesundheit betrafen, meine Ängste maßlos übertrieben. Das hat meine Genesung enorm verzögert. Aber ich wusste es damals nicht besser.
  Jetzt, wo mein Training mit immer größeren Schritten voranschreitet, kann ich die Erfolge nicht mehr übersehen. Aus dem Zweifler ist tatsächlich ein Optimist geworden. Meine Weltsicht und mein Blick in die Zukunft sind größtenteils positiv. Das Negative sind lediglich Gedanken und Erinnerungsfetzen, die in mir herumflattern und immer wieder ins Rampenlicht wollen. Aber da lasse ich sie nicht mehr hin.
  Ich weiß jetzt, dass mir die Dämonen der Vergangenheit nichts mehr anhaben können. Und sie wissen es auch. Seitdem herrscht Ruhe in der Arena. Die Löwen sind zwar noch da, aber sie sind nicht mehr so gefräßig. Sie wissen, dass ich der Inhaber dieser Arena bin und dass sie meine Löwen sind.
  Ich habe lange gebraucht, um so zu denken. Es ist eine Art von Selbstbewusstsein, das man nur erlangen kann, wenn man es verinnerlicht hat. Als bloße Gedanken und als Versuch, neutral seinem eigenen Schicksal gegenüber zu sein, sind sie nicht stark genug. Sie müssen bis in die Tiefen des Unbewussten vordringen, weit vor, bis an die Grenzen des inneren Universums. Erst, wenn man diese Art der Weltanschauung durch bewusstes und wiederholtes positives Denken verinnerlicht hat, kann es aus dem Humus der Seelenerde zu einer zuversichtlichen Sicht auf das Leben heranwachsen.
  Vielleicht hätte ich früher begonnen, so zu denken und zu handeln, wenn mir das jemand schon zu Beginn meiner Krankheit gesagt hätte. Wenn ich damals, im Juni 2013, gewusst hätte, dass ein Mensch, der sich im Anfangsstadium des Guillain-Barré-Syndroms befindet, drei Jahre später gemütlich in einem Bett mit aufgestelltem Rückenteil, Cola, Salzstangen und Gummibärchen an seiner Seite, all die Erlebnisse und all den Tod der vergangenen Zeit mit einer solch abgeklärten Distanz betrachtet und darüber schreibt, wäre mein Weg sicher leichter gewesen.
  Aber man sagt doch, dass nur der steinige Weg zur Erlösung findet, stimmts? Der Weg in die Hölle ist mit Gold gepflastert, aber der Weg ins Paradies ist steinig und voller Dornen. Klingt dramatisch und kitschig, ich weiß.
  Ich weiß aber auch, dass es wahr ist. Ich war dort, und jetzt bin ich wieder hier. Ein paar Dornen stecken noch in meinen Fußsohlen, aber ich werde sie nicht herausreissen. Ich lasse sie immer tiefer in mein Fleisch einwachsen, und so wird jeder Stachel und jeder Blutstropfen bunt und immer bunter, und mein Leben wird bunt, meine Tage und meine Nächte, meine Träume, meine Ängste und meine Hoffnungen werden bunt, und in weiter Ferne, ganz weit draußen, hinter einem bunt strahlenden Ozean und hinter einem bunten Horizont, wartet auf mich ein bunter und freundlicher Tod, der mir zuwinkt und zulacht und mich irgendwann, in einer weiten bunten Zukunft, an der Hand nimmt und nach Hause bringt.





Einen Moment noch, bitte!

Wenn Ihnen meine Blogartikel über die wunderbare Welt des Guillain-Barré-Syndroms gefallen, schreiben Sie doch bitte einen Kommentar zu diesem oder einem anderen Beitrag. Oder Sie hinterlassen eine Bewertung direkt unter diesem Text in der Rubrik Reaktionen mit den Kästchen zum Anklicken.


Auch über E-Mails würde ich mich freuen:





  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!