Samstag, 2. April 2016

Die Eroberung des Lebens

Als mich meine Tante Erika aus Wien zum ersten Mal in Altenhof besuchte, redeten wir lange miteinander. Wir saßen in meinem Zimmer. Sie erzählte mir von ihrem Leben und den Schicksalsschlägen, die sie getroffen hatten. Das war im Herbst 2014, etwa ein halbes Jahr, nachdem ich nach Altenhof gekommen war. Wir sprachen auch über meine Zukunft und wie ich sie mir vorstelle. 
"So lange in Altenhof bleiben, wie ich kann", sagte ich. "Vielleicht kann ich irgendwann wieder woanders leben oder zurück nach Hause." Damals hatte ich die alte Wohnung in Seewalchen am Attersee noch. Ich gab meiner Tante diese Antwort, ohne selbst daran zu glauben. Zu dieser Zeit dachte ich, mein Schicksal wäre besiegelt. Ich würde nie wieder aus dem Rollstuhl rauskommen und mich nie wieder richtig bewegen können. An kreative Tätigkeiten wie zeichnen und malen wollte ich gar nicht denken. Es war für mich zu deprimierend, mich mit der Tatsache abzufinden, dass meine Hände gelähmt und verkrüppelt waren. Ich würde nie wieder eine Pastellkreide oder einen Marderhaarpinsel halten können.



"Wahrscheinlich werde ich den Rest meines Lebens in diesem Zimmer verbringen", sagte ich.
Dann sagte meine Tante etwas, das für mich damals nicht so recht überzeugend klang. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich eher trösten wollte, als mich aufzumuntern. Damals ahnte ich noch nicht, dass der Schlüssel zu meiner Zukunft in diesen Worten lag. Knapp und einfach formuliert.
"Markus, wenn du es schaffst, wieder auf die Beine zu kommen, kannst du noch ein schönes Leben haben."
Ich habe oft an diese Worte gedacht, denn bei all den selbsterschaffenen Dramen meiner Krankheit und all den Ängsten und Sorgen, die ich mir selbst auferlegte, war diese klare Anleitung letztlich alles, was ich brauchte.
Komm auf die Beine, und du hast ein schönes Leben.
Heute, knapp eineinhalb Jahre später hat sich der Rat meiner Tante schon fast bewahrheitet. Auf den Beinen bin ich, wenn auch nur wacklig und mit einer Gehhilfe. Aber ich kann wieder gehen. Ich habe das tatsächlich geschafft. Mit viel Hilfe natürlich.
Dieser scheinbar kleine Erfolg hat mein Leben tatsächlich immens verbessert. Ich möchte zwar jeden Tag lieber nicht trainieren, anstatt mich der Angst zu stürzen auszusetzen, aber dann raffe ich mich doch auf. Ich bemerke selbst, wie es jeden Tag besser geht. 
So kommt mir die hoffnungslose Verzweiflung der ersten zwei Jahre meiner Krankengeschichte direkt irreal vor. Auch heute zweifle ich noch manchmal daran, dass sich mein körperlicher Zustand wieder normalisieren wird, aber diese Zweifel sind fast nicht mehr sichtbar. Sie sind von einem Seeungeheuer zur Größe eines Wasserflohs geschrumpft. Und das Schönste daran ist, wenn wieder einmal alte Ängste aufkommen wollen, verschwinden sie sehr schnell wieder. Meist dauern sie nur für die Zeit von zwei oder drei Gedanken an.
Diese Gedanken sind positiv. Authentisch positiv. Kein aufgesetztes selbstbetrügerisches positives Zwangsdenken. Ich kann aufgrund meiner Fortschritte und Erfolge meine Ängste von früher nicht mehr so ernst nehmen. Mittlerweile habe ich kapiert, dass sie immer unbegründet waren. Ich führe mir dann meine Fortschritte, meine Rückeroberung des Lebens, vor Augen, und die Angst zieht vorbei wie ein Kriegsschiff in der Nacht.
Am Anfang war ich durch das Guillain-Barré-Syndrom und die davon verursachte Tetraparese so beweglich wie eine antike griechische Statue. Allerdings nicht ganz so alt. Dafür aber viel schöner als Adonis, Eros und Apollo zusammen. Moment, Apollo war ja ein Römer.
Damals, im Juni 2013, konnte ich nur den Kopf hin- und herbewegen. Und heute, im April 2016?

• Ich kann mich im Bett alleine aufsetzen.
• Ich kann alleine aufstehen.
• Ich kann mich vom Bett in den Rollstuhl setzen.
• Ich kann mit einem Gehbock eine Strecke von etwa sieben Metern gehen.
• Ich kann aus dem Rollstuhl aufstehen und zum Bett gehen.
• Ich kann eine Drehung von 90 Grad machen.
• Ich kann mich ins Bett setzen.
• Ich kann meine Beine anheben und mich hinlegen.

Diese Liste von Fähigkeiten reicht aus, um meine Ängste einzuschüchtern. Sie haben ganz einfach keine Gegenargumente mehr. Meinen Ängsten ist die Luft ausgegangen, während ich entspannt aufatmen kann.
Das Leben ist schwer mit einem gelähmten Körper, einem Dauerkatheter, einem Stoma und einer Vorliebe für Sauerkraut. Aber es geht. Und es bläht, keine Frage. Manchmal ist mein Stomabeutel so prall mit Luft gefüllt, dass ich glaube, ich hebe gleich ab in die Stratosphäre. Aber es funktioniert dann doch alles irgendwie. Wenn man einen Stoma hat, muss man ja nicht unbedingt Sauerkraut essen und den armen Krankenschwestern damit das Leben schwer machen. Das muss doch wirklich nicht sein, oder? Es gibt doch auch Zwiebeln, Bohnen und Eier.
Der Grund, warum ich diesen Blog jede Woche weiterführe ist, dass ich mir damals auf der Intensivstation und auch danach solch einen Blog oder andere Quellen mit den persönlichen Erlebnissen und Gedanken eines Guillain-Barré-Syndrom-Patienten gewünscht habe. Kaum jemand konnte mir etwas über den Verlauf dieser Krankheit sagen. Über die Emotionen und all den Horror, die sich im Kopf abspielen, wenn man daran leidet. Das alles ist viel schlimmer als die rein körperlichen Krankheitssymptome.
Im April 2014, als ich in das Behindertendorf Assista Altenhof kam, begann ich E-Books und Webseiten über das Guillain-Barré-Syndrom zu lesen. Von Informationstexten, über medizinische Literatur bis hin zu Erfahrungsberichten von Betroffenen. Ich erkannte mich zwar in vielem, was ich da las, wieder, aber ich hatte nie das Gefühl, dass die Autoren wirklich bis in die tiefsten Abgründe ihrer Ängste vorgestoßen sind. Einige Menschen verkraften soetwas wahrscheinlich besser als andere, aber ganz bestimmt haben auch sie in den Abgrund geblickt und dort ihr eigenes Gesicht gesehen. 
Nur geschrieben haben sie darüber nicht. Also dachte ich mir, es muss ein Buch oder ein Blog über das Guillain-Barré-Syndrom her, das nicht nur den medizinischen und therapeutischen Alltag beschreibt, sondern der versucht, die dunkelsten Winkel der Seele zu beleuchten.
Das mache ich seit dem 1. Oktober 2014. Ich habe bisher 96 Beiträge geschrieben und hatte etwas mehr als 16.400 Seitenklicks. Reaktionen gibt es aus meinem persönlichen Umfeld viele, aus dem Netz hingegen nur eine Handvoll. Trotzdem glaube ich noch immer daran, dass irgendwo in einem Krankenhaus ein bedauernswerter Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom liegt, der meinen Blog entdeckt und eine Übersicht über den Heilungsverlauf dieser Krankheit bekommt. Vielleicht sogar ein bisschen Trost.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist keine degenerative Erkrankung. Es gibt keinen Krankheitsverlauf, sondern einen Heilungsverlauf. Es wird jeden Tag besser und besser. Oft habe ich monatelang nichts davon bemerkt und geglaubt, ich wäre an einem ewigen Stagnationspunkt angekommen.
Aber dann, meist über Nacht, hat sich wieder ein Finger ein Stückchen mehr bewegt. Und ich konnte ein Bein im Liegen anheben. Ich konnte einen Becher mit zwei Händen halten und daraus trinken. Einige Monate später mit einer Hand. Ich konnte mich auf einmal ohne Anstrengung und ohne Schmerzen im E-Rolli nach vorne beugen, um meine Zimmertür aufzumachen. Letztes Jahr im Sommer konnte ich meinen ersten Baum zeichnen. Eine Kiefer hier auf dem Assista-Gelände. Dieses Jahr im März ein Rotkehlchen nach einer Fotovorlage meines Bruders.



Vor zwei Wochen habe ich mit täglichen Gehübungen angefangen. Ich stütze mich dabei auf einen Gehbock, hebe ihn einige Zentimeter an und setze ihn dann etwa eine Schrittlänge vor mir wieder ab. Anschließend verlagere ich mein Gewicht ein Stück nach links, aber nicht zu weit. Meine Angst umzukippen ist dafür doch noch zu groß. Ich drehe mein linkes Knie ein Bisschen nach innen, damit mein Fuß nicht nach außen knicken kann. Danach richte ich mich so gerade wie möglich auf, atme ein- bis zweimal durch und hebe das rechte Bein an. Ich bewege es einen Schritt nach vorne und halte inne.
Wieder nach ein paar Atemzügen das Ganze nochmal, aber mit der anderen Körperhälfte. Gerade hinstellen, rechts abstützen, linkes Bein nach vor. Ich bewege den linken Fuß aber nur so weit, bis er parallel zum rechten steht. Ich traue mich noch nicht, ein Bein vor das andere zu stellen. Der Gehbock ist ein ziemlich wackliges Gestell, aber er ist stabil. Im Grunde sind es nur vier vertikale Aluminiumstangen, die von zwei horizontalen Aluminiumstangen zusammengehalten werden. Links und rechts sind zwei Griffe.
Ich bin inzwischen viel selbstsicherer als vor zwei Wochen. Meine Schritte werden größer, und ich brauche nicht mehr so lange, um von einer Tür zur anderen zu gehen. Das sind etwa sieben Meter.
Sieben Meter! Vor knapp zweieinhalb Jahren auf der Neuro im Krankenhaus konnte ich noch nicht einmal einen leeren Joghurtbecher auch nur einen Zentimeter über die Tischplatte heben. Jetzt hebe ich den Gehbock und meine Füße an und lege diese sieben Meter zurück. Wie lange ich dafür brauche, weiß ich nicht, aber es sind höchstens fünf Minuten, ich glaube sogar weniger. Gefährlich wird es nur, wenn ich unkonzentriert bin und den Gehbock versehentlich an den Hinterfüßen aufhebe. Dann kippen die beiden vorderen Alustangen nach vorne und ich mit dazu. Das ist mir bisher einige Male passiert, aber ich konnte mich gut abfangen. Da ist wohl der Schrecken größer als die Gefahr.
Wenn ich den Gehbock korrekt vorne zuerst anhebe und dann ein Stück nach vor bewege, passiert nichts. Aber ich muss mich jedesmal ein bisschen überwinden. Ich befürchte immer, ich könnte das Gleichgewicht verlieren, schwindlig werden oder Probleme mit dem Kreislauf bekommen und zusammenbrechen. Ein wenig Schwindel empfinde ich tatsächlich, wenn ich den Gehbock bewege, aber der vergeht schnell wieder, und ich mache den nächsten Schritt.
Vielleicht helfen Ihnen meine Erlebnisberichte ja weiter, und Sie entdecken die wichtigste Form von Mut: Den Mut, den Mut nicht zu verlieren. Den Mut, den nächsten Schritt zu machen, den nächsten positiven Gedanken zu fassen. Trauen Sie sich zu vertrauen. Anderen und sich selbst. Vor allem sich selbst. Wenn Sie sich selbst nicht genug vertrauen, um den nächsten Schritt zu machen, kann Ihnen niemand helfen. Weder der beste Arzt noch der beste Therapeut kann für Sie gehen. Oder greifen.
Und niemand kann sich für Sie freuen und für Sie lachen. Das ist Ihre Sache. Genauso wie die zuversichtliche Einstellung und die positiven Gedanken, die schon nach wenigen Tagen beginnen, Ihr Hirn umzubauen. Neuroplastizität. Neue Hirnzellen entstehen, neue Neuronensynapsen. Ihre Hirnstruktur vernetzt sich zu einem noch größeren und handlungsfähigeren Geflecht.



Auch, wenn Sie nicht an die Macht des positiven Denkens glauben, es funktioniert trotzdem. Ihrem Unterbewusstsein ist es egal, ob Sie an Ihre Heilung glauben oder nicht. Wenn Sie sich in der Gegenwart und in der Zukunft als geheilten gehenden Menschen vorstellen, wird das für Ihr Unterbewusstsein zur einzigen Wirklichkeit.
Du bist, was du denkst. Ein scheinbar banaler Spruch, aber es liegt eine tiefe Wahrheit darin. Wir konzentrieren uns unbewusst auf das, woran wir ständig denken. Für die tiefen Verstandesschichten unseres Hirns ist das die Realität. Also verhalten wir uns gemäß dieser Wirklichkeit und ziehen so das zu uns heran, was unseren Denkmustern am ähnlichsten ist. Das ist aber kein magischer Akt, sondern ganz einfach die Konzentration auf einen Fixpunkt, der alles andere ausblendet.
Wenn Sie sich vornehmen, einen Tag lang nur rote Dinge zu beachten, seien es rote Autos, rote Haare oder die roten Zahlen auf Ihrem Konto, werden Sie zu der Auffassung kommen, dass die ganze Welt rot ist. Oder zumindest fast. Sie werden sich denken, noch nie hat es so viele rote Autos gegeben wie heute. In Wirklichkeit waren die Autos in allen bunten Farben direkt vor Ihren Augen, Sie haben sie nur nicht wahrgenommen.
Also, sehen Sie nicht schwarz, was Ihre Gesundheit, ihr Leben und Ihre Zukunft betrifft.
Trauen Sie sich, mutig zu sein! Mut ist bunt!





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