Samstag, 21. Mai 2016

Auf dem Gipfel

Vor zwei Monaten habe ich mich zum ersten Mal, seit ich zuhause gestürzt bin, selbst ins Bett gelegt. Damals bin ich auf den Ellenbogen vom Fußende nach oben gerobbt, damit ich mich hinlegen konnte. Einige Tage später lag ich immer noch, allerdings auf der Intensivstation.
Ein halbes Jahr blieb ich im Krankenbett liegen, dann bekam ich einen Rollstuhl. Vor ein paar Wochen bin ich aus dem E-Rolli aufgestanden, habe mich mit dem Gehbock gedreht, mich ins Bett gesetzt und hingelegt.

Von Juni 2013 bis Mitte März 2016 wurde ich jeden Tag ins Bett gehoben. Entweder mit dem Hänge- oder mit dem Stehlifter. Das ist jetzt vorbei. Jetzt mache ich das jeden Tag so, aber immer unter Aufsicht von Krankenschwestern, Pflegern oder Zivis. Aus dem Bett aufstehen und mich wieder in den E-Rolli zu setzen ist inzwischen schon längst zur Routine geworden. Manchmal denke ich an die Zeit auf der Neuro zurück, als mich die Schmerzen in der Hüfte fast in den Wahnsinn getrieben haben, ich aber darauf warten musste, dass ein Physiotherapeut Zeit hatte, mich mit dem Hängelifter ins Bett zu legen. 

Obwohl ich es nicht glauben konnte, spürte ich schon damals, dass es mit mir bergauf ging, denn sobald ich im Bett lag waren der dumpf hämmernde Schmerz wieder vergessen und ich fühlte mich zumindest so wohl, wie es mit einer Tetraparese möglich ist. Zum Glück hatte ich ja meine Phantasie und konnte so jederzeit in bessere Zeiten flüchten. Aber es war jedesmal eine Flucht nach vorn. Ich träumte mich nie in frühere glücklichere Zeiten zurück. Das war zu schmerzhaft, weil sie vorbei waren und die Erlebnisse nicht mehr wiederholbar sind, und ausserdem erschien es mir nicht zielführend. Ich wollte ja voran kommen in meinem Leben und nicht in dem trügerischen Paradies der Erinnerung versauern.

Jetzt sind nur noch die Füße, die Finger und der Stoma ein Problem, das mich an meine Krankheit erinnert. Alles andere habe ich überstanden. Und da fängt es sofort wieder an zu sticheln. Ich bin zwar nicht mehr der von schwarzen Stürmen umtoste Untergangsprophet, der ich noch vor drei Jahren war, aber so ganz flächendeckend hat sich das positive Denken in mir doch noch nicht breitgemacht. Der Gedanke, dass ich das Schlimmste überstanden habe und der Rest nur noch ein etwas anstrengender Spaziergang sein wird, weckt sofort den in mir dämmernden Moralapostel auf, der mir sofort mit ausgestrecktem Zeigefinger in den Bauch sticht und mich anröchelt: "So darfst du nicht denken! Sei nicht so selbstgefällig und überheblich! Du kannst froh sein, dass du noch lebst! Wenn du glaubst, dass du es überstanden hast, versündigst du dich, und das bringt Unglück, und alles wird noch viel schlimmer, und am Ende kommst du sowieso nicht davon!"

Ich freue mich, die Stimme dieses unsympathischen Kerls zu hören. Sie brüllt mich nicht mehr an und hämmert in meinem Schädel, sondern krächzt nur noch hilflos und beleidigt. Dieser falsche Moralist hat seine Macht verloren. 

Mein lieber Leser, wenn Sie auch zu den Betroffenen des Guillain-Barré-Syndroms gehören, behalten Sie das hier bitte in Erinnerung: Ich war von Kopf bis Fuß gelähmt, war jahrelang in einem Fegefeuer aus Hoffnungslosigkeit und Angst gefangen und schwinge jetzt meinen Körper ins Bett wie ein Stabhochspringer. Allerdings in Superzeitlupe. Ich wieder schreiben, zeichnen und Rettungsautos aus Lego zusammenbauen. Mein Ergotherapeut hat wirklich immer wieder suuupie Ideen!

Es ist ein schönes Gefühl, plötzlich wieder so unabhängig zu sein. Ich könnte mich jetzt auch ohne Aufsicht hinlegen. Wenn es mir einmal nicht gut geht. Ich kann das noch gar nicht so richtig glauben. Wenn ich den E-Rolli neben dem Bett stehen lasse, kann ich auch jederzeit wieder aufstehen. Ich fühle mich wie neugeboren. Das meine ich ketzt ernst. Das kommt mir alles so irreal vor. Ich hoffe nur, ich wache nicht wieder auf und spüre den Meissel, der mir in die Hüfte geschlagen wird.

Erst vor wenigen Wochen haben Wolfgang und ich das Gehen zum ersten Mal geübt. Auch da war es schon relativ leicht. Gehübungen von der Balkontür bis zur Zimmertür an Tagen ohne Physiotherapie habe ich auch schon gemacht. Einer der Krankenpfleger hat den Rollstuhl hinter mir hergefahren, und eine junge Pflegerin hat es sich angeschaut. Ich weiß zwar nicht, wie sie mir helfen könnte, wenn ich hinfalle, aber es wird am Anfang wohl immer jemand dabei sein, auch wenn er nichts anderes tun kann, als Hilfe zu holen. Ich bin nämlich ein ziemlich schwerer Junge, wissen Sie? 

Trotz aller Anfangsschwierigkeiten, kann ich mich jetzt jederzeit ins Bett legen und wieder aufstehen. Das letzte Mal konnte ich das vor drei Jahren. Ich muss nur noch sicherer werden. Und ich brauche mehr Kraft in den Füßen. Ich weiß zwar noch immer nicht, ob die Nerven in den Füßen nicht vielleicht doch dauerhaft geschädigt bleiben werden, aber ich bin zuversichtlich, dass das auch gut werden wird. Die Nerven sind im restlichen Körper verheilt, die Myelinschicht hat sich wieder aufgebaut, also warum sollte es in den Füßen anders sein?

Mein Physiotherapeut Wolfgang hat gesagt, ich hätte jetzt alle wesentlichen Schritte zur Mobilität erreicht. Ich kann ohne Hilfe aus dem Bett aufstehen und mich wieder hinlegen, ich kann aus dem Rollstuhl aufstehen, einige wacklige Schritte gehen, und ich kann mich wieder hinsetzen. Er meinte, von der Mobilität und der Kraft her, könnte ich in der Nacht mit dem Gehbock vom Bett auf die Toilette marschieren und mich danach wieder zurück ins Bett legen. Als nächstes werden wir daran arbeiten, diese Einzelschritte, die ich jetzt alle durchführen kann, zu kombinieren. Mir fehlen dafür nur noch die Kraft, die Sicherheit und die Ausdauer. 

Aber es geht mir alles zu schnell. Ich glaube, für viele Leute ist das schwer nachzuvollziehen. Oft glaube ich, niemand nimmt das so richtig ernst. Ich glaube, dass sich niemand vorstellen kann, was es für ein beängstigendes Gefühl ist, nach so langer Zeit des Stillstands auf einmal wieder voll beweglich und fit zu sein. 

Jetzt will ich lieber an meine Zukunft denken, oder noch besser, an meine Gegenwart und diese so gut gestalten, wie ich nur kann. Die Zukunft ist schließlich nichts anderes als eine verlängerte unendliche Gegenwart.

Ich bin zuversichtlich. Ich bin so zuversichtlich und optimistisch wie noch nie. Ich wünsche mir, dass ich endlich meine Füße bewegen kann. Dann würde dem normalen Gehen wie früher wirklich gar nichts mehr im Wege stehen. Das werde ich erreichen, da bin ich mir ganz sicher. Ich bin nur so ungeduldig geworden. Na ja, wenn man gar keine Hoffnung mehr hat, ist es leicht, geduldig zu sein. Aber jetzt spüre ich wirklich schon den großen Wunsch, endlich wieder gesund zu sein und wieder einen Spaziergang machen zu können.

Es ist unglaublich, was solch eine Kleinigkeit, wie sich ins Bett setzen und hinlegen zu können in einem Menschen bewirken kann. Meine blödsinnige Ängstlichkeit vor harmlosen Dingen wird mir wohl noch eine Zeit lang erhalten bleiben, aber trotzdem fühle ich mich jetzt gerade, als hätte ich einen riesigen Sprung über den Berg gemacht, der in meiner Vorstellung mit jedem Schritt immer höher wurde.

Jetzt stehe ich auf dem Gipfel meines Heilungsweges. Ab jetzt geht es für mich darum, die Balance zu halten. Der Boden unter meinen Füßen ist noch immer rutschig und voller Geröll, aber den Aufstieg durch das verschlungene Berglabyrinth zur Spitze des vermeintlich unbezwingbaren Berges habe ich jetzt geschafft.

Der Ausblick von hier ist phantastisch. Ich kann meine Zukunft zwar noch nicht sehen, aber das Land ist weit, und die Sonne bestrahlt den Weg.

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