Samstag, 14. Mai 2016

Forever Young


Mir gefällt der Gedanke nicht, dass Teile aus meinem Körper einfach herausgeschnitten oder herausgerissen werden. Ich habe schließlich fast mein ganzes Leben damit verbracht. Aber es bestätigt mir wieder einmal, wie wenig der menschliche Körper doch wert ist. Der Körper ist nichts anderes als ein biochemischer Schleimbeutel.
Leider. Irgendwann geht alles daran zugrunde, und die Natur schert sich einen Scheißdreck um die überragenden Leistungen des menschlichen Hirns. Wir können noch so intelligent sein, noch so liebevoll und kreativ, die Evolution mit ihrem Drang, bestehendes Leben zu töten, damit neues Leben entstehen kann, das schließlich auch wieder stirbt, interessiert das nicht. Wie auch? Die Evolution ist ja kein denkendes intelligentes Wesen, sondern einfach nur eine Kettenreaktion aus Ereignissen.
Es wird wohl noch Millionen von Jahren dauern, bis sich die Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit des Hirns vervielfacht hat. Allein der Gedanke, wozu wir Menschen in der Lage wären, wenn wir doppelt so viele neuronale Verknüpfungen hätten, lässt einen fast an der trägen Langsamkeit der Evolution und ihrem Todesdrang verzweifeln. Dem Menschen wird es nichts nutzen, wenn er andere Planeten besiedelt, nur um dort weiterzuleben und weiterzusterben.
Bereits die gegenwärtige Beschaffenheit des menschlichen Hirns braucht einen völligen anderen Körper. Unsere seltsamen Kohlenstoffeinheiten aus Fleisch und Blut sind einfach für nichts zu gebrauchen. Man wird es letztlich der Wissenschaft überlassen müssen, neue Körper für das menschliche Hirn zu erschaffen. Vernetzte Welten wären eine Möglichkeit. Schon lange gibt es den Traum, den Verstand, das Bewusstsein und den mentalen Lebensfunken in den Cyberspace des Internet zu übertragen. Bisher ist es nicht gelungen, zumindest offiziell nicht.
Aber der Gedanke ist schon faszinierend. Wir können uns nicht einmal annähernd vorstellen, wozu ein einziges Hirn mit Interface zum Cyberspace in der Lage wäre, wenn es Trillionen, Trilliarden oder sogar unendlich viele neuronale Synapsen-Verknüpfungen zur Verfügung hätte. Möglicherweise wäre es dann in der Lage, die eigenen Gedanken in Materie zu verwandeln. So könnten wir uns unsere eigenen Welten, Universen, Holoversen und Omniversen erschaffen.
Sollte es das Phänomen der Wiedergeburt tatsächlich geben, was ich allerdings stark anzweifle, werden wir es alle erleben. Vielleicht sogar mit jederzeit abrufbaren Erinnerungen an alle früheren Existenzen. Und wenn die Zeit keinem Richtungspfeil folgt, wie Einstein glaubte, würden wir dann die Technologie besitzen, uns nicht nur an unsere Vergangenheit zu erinnern, sondern auch an unsere Zukunft. Das wäre ein tatsächlich existierendes Holoversum, in dem alles mit allem verbunden ist, und die Realität nur aus der Übereinstimmungen der einzelnen Geistwesen besteht, Beobachtungen zu machen und Vereinbarungen zu treffen.
Vielleicht wird der Menschheit dann klar werden, dass wir alle nur existieren, weil wir damit übereinstimmen, dass wir existieren. So, wie sich Atomteilchen immer entsprechend der Erwartung des Wissenschaftlers verhalten, wenn er einen Blick auf sie wirft, werden wir Menschen dann vielleicht erkennen, dass alles, was geschieht nicht einem festgelegten Ablauf folgt, sondern vielmehr der angenommene Bezugspunkt und die Erwartung innerhalb einer unendlichen Zahl an Möglichkeiten ist.

Und was wäre, wenn sich die Gehirne der Menschen direkt miteinander vernetzen könnten? Oder tun sie das schon? Ich glaube, dass es zumindest eine teilweise Vernetzung menschlicher Hirne und Bewusstheiten gibt. Eine Art transhumanes Konsensnetz. Wir stimmen in vielen Dingen miteinander überein und erschaffen so unsere Wirklichkeit.

Wie entsteht Realität? Durch Politik? Durch Architektur? Oder vielleicht durch Kultur? Religion? Philosophie? Technologie? Biologie? Ich glaube, die Realität existiert nicht außerhalb des Menschen, sondern in seiner Wahrnehmung und der Übereinstimmung mit den Wahrnehmungen anderer Menschen. Wir blicken auf den Kalender und sehen, es ist Samstag. Anderen geht es genauso. Wir alle stimmen damit überein, dass Samstag ist. Das ist unsere gemeinsame Realität. Weder in der Natur, noch sonst irgendwo im Universum ist Samstag. Wir haben uns diese Wirklichkeit erschaffen.

Nehmen wir einmal an, dass es eine Interaktion zwischen unserem Bewusstsein und unserem Körper gibt. Es heißt ja, dass negatives Denken krank machen kann. Dies ist eine Ansicht, mit der die meisten Menschen übereinstimmen. Zumindest behaupte ich das jetzt. Nur wenige werden vehement den Kopf schütteln und protestieren, wenn man ihnen sagt, dass sie körperlich krank werden können, wenn sie unter einem seelischen Dauerstress stehen. Als Beispiel erwähne ich das Burnout-Syndrom. Sagt man aber, durch positives Denken und eine zuversichtliche Grundstimmung könne man auch die schwersten Krankheiten überstehen oder zumindest leichter ertragen, wird man wohl auf sehr viele Skeptiker stoßen. Diejenigen, die diese Möglichkeit in Betracht ziehen, werden sagen, aber nur in Kombination mit Medizin und Ärzten.

Wie reagieren Sie, wenn ich Ihnen sage, dass man allein durch die richtigen Denkmuster jede Krankheit heilen kann? Fragen Sie mich nach Beweisen? Oder nach Statistiken und Studien? Oder lachen Sie mich aus? Natürlich weiß ich nicht, ob positives Denken allein eine Krankheit heilen kann, und ich würde es ganz bestimmt nicht darauf ankommen lassen, wenn es um mein Leben ginge. Aber dieses Beispiel verdeutlicht, wie schwer wir Menschen uns damit tun, eine positive Weltanschauung auch nur in Betracht zu ziehen. Durch negatives Denken krank werden? Keine Frage! Durch positives Denken gesund werden? Träum weiter!

Wir haben kein Problem damit, eine negative Anschauung zu akzeptieren, lehnen eine positive aber sofort als weltfremd ab. Warum tun wir das?

Weil wir vom Anfang unseres Lebens an darauf konditioniert werden. Das Negative ist leichter zu glauben, als das Positive. Zusätzlich werden wir durch Massenmedien, Nachrichten, Klatsch und Tratsch und einer auf Angst und Tod aufbauenden Unterhaltungskultur ständig auf dieses flache Niveau gedrückt. Ganz entziehen kann man sich dem nicht. In meinem Fall sind viele Leute erstaunt, dass ich keinen Fernseher in meinem Zimmer hier in Altenhof habe. Ich informiere mich zwar über das aktuelle Zeitgeschehen, habe aber keine Lust mehr, andauernd mit Verbrechen, Tod und Werbung bombardiert zu werden.

Apropos Tod. Glauben Sie, dass Sie sterblich sind? Ja? Und warum? Weil Sie schon Ihr ganzes Leben lang mit der Überzeugung geprügelt werden, dass jeder Mensch alt wird und schließlich stirbt. Wenn man Glück und gute Gene hat, gesund lebt und nicht von einem aus dem fünften Stockwerk herabfallenden Fernseher erschlagen wird, hat man etwa 80 bis maximal 100 Jahre zu leben, wobei einem ab dreißig schon leicht mulmig wird, weil die Lebenszeit immer kürzer wird, mit vierzig wird alles zu anstrengend, mit fünfzig sehnt man sich wieder nach den anstrengenden Vierzigern zurück, weil einem die Haare am Kopf ausfallen, aber dafür aus den Ohren wachsen und so weiter.

Mit anderen Worten: Das Leben ist kurz und man fällt aus dem Uterus direkt in die Urne. In der Jugend weiß man noch nicht so genau, was man eigentlich will, und im Alter würde man zwar wollen, kann aber nicht mehr. Da könnte man doch zu der Schlussfolgerung kommen, dass die menschliche Existenz trostlos ist. Aber ist sie das wirklich, oder ist das nur eine gemeinsame Übereinstimmung, die wir mit anderen Menschen getroffen haben? Immerhin sehen wir ja, wie die Nachbarn alt werden und sterben, dann kommen unsere Eltern dran, danach unsere Freunde und schließlich wir selbst. Es war immer so, und den Tod muss man akzeptieren.

Wissen Sie, wie man das nennt? Massenhysterie. Wir glauben, dass wir sterblich sind, und darum sind wir es. Einen Beweis für den natürlichen Tod eines Menschen gibt es nicht. Der Mensch stirbt an Krankheiten, Unfällen, Katastrophen, Kriegen und Verbrechen, aber er stirbt nicht an einem eingebauten Countdown, der irgendwann abläuft. Es gibt keine genetische Disposition für den Tod. Wir haben ihn nicht in unserer DNA einprogrammiert. Es gibt kein Ablaufdatum für das menschliche Leben.

Der Mensch stirbt, weil der gesellschaftliche Druck, alt zu werden und zu sterben, stärker ist als sein Überlebenswille.

Ich weiß, das ist eine abenteuerliche Theorie und würde bedeuten, dass wir mit unseren biologischen Körpern theoretisch tausend Jahre alt oder noch älter werden könnten. Schütteln Sie gerade Ihren Kopf? Oder schmunzeln Sie milde, weil ich so einen Blödsinn schreibe? Nun, Wissenschaftler in aller Welt, tun das nicht. Epigenetiker und andere Forscher beschäftigen sich sehr ernsthaft mit der Möglichkeit des unbegrenzten biologischen Lebens. Dabei geht es nicht nur um genetische Manipulation oder eine Unsterblichkeitspille, obwohl auch das Möglichkeiten wären, sondern um die Frage, ob der Alterungsprozess und schließlich der Tod des Menschen eine Folge seiner tief einprogrammierten Überzeugung ist, er müsse alt werden und sterben.

Vielleicht haben Sie ja Lust, selbst über dieses Thema nachzudenken oder zu schreiben. Hier einige weltfremde Denkanregungen:

Ist der Mensch grundsätzlich biologisch unsterblich? Ist der Tod nur die Folge der Überzeugung, er sei unvermeidlich? Ist es möglich, jedes Jahr ein Jahr jünger zu werden? Kann man die fixe Idee namens Tod als Überzeugung überwinden? Ist der Tod nur ein Irrtum des menschlichen Denkens? Sind Unfälle, Krankheiten, Katastrophen und Mord die einzigen tatsächlichen Ursachen für den Tod? Lebt man grundsätzlich biologisch zeitlich unbegrenzt, wenn man daran glaubt? Ist der Tod nur eine Illusion, an die wir Menschen seit Jahrtausenden glauben? Gibt es einen unwiderlegbaren Beweis für den natürlichen Tod? Sind das Altern und der Zelltod unausweichlich? Sind die Gene durch Telomerase zum Sterben bestimmt? 

Ist es möglich, durch die Vermeidung externer Todesursachen (Unfälle, Krankheiten, Katastrophen und Mord) ein natürliches Lebensalter von 1000 Jahren (oder mehr) zu erreichen? Entstammt der Gedanke "So lange will ich gar nicht leben" wirklich einem menschlichen Bedürfnis zu sterben, oder ist er die zwanghafte Schlussfolgerung der Überzeugung, der Tod sei unvermeidlich? Wie könnte man die Möglichkeit eines biologisch unbegrenzten Lebens vorurteilsfrei diskutieren? Ist der Gedanke an ein biologisch unbegrenztes jugendliches Leben wirklich weltfremd, illusorisch, naiv, unreif, ketzerisch, lächerlich oder wahnhaft?

Der Gedanke an ein Leben, das nicht schon nach lächerlichen achtzig Jahren vorbei ist und noch eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten bietet, ist einfach zu verlockend, um ihn zu ignorieren. Mein kreativer Geist ermöglicht es mir, wirklich an soetwas zu glauben, obwohl ich mich, während ich diese Zeilen schreibe, frage, ob ich eigentlich noch alle Tassen im Schrank habe.

Angenommen, es wird eine Art Unsterblichkeitspille entwickelt, sie ist in Ihrer Apotheke rezeptfrei für wenig Geld zu haben, muss nur ein einziges Mal eingenommen werden, hat keine schädlichen Nebenwirkungen und erhält Ihnen zusätzlich noch jugendliches Aussehen und Gesundheit. Gerontologen glauben, dass ein solches Medikament schon bald existieren wird. Bitte sagen sie mir nicht, dass Sie sie nicht nehmen würden. Wenn Sie jetzt vierzig Jahre alt sind und nicht vorzeitig von einem Fernseher erschlagen werden, haben Sie ganz gute Chancen, das noch zu erleben. Und danach noch sehr viel mehr. Ich beziehe mich bei meinen heutigen Überlegungen auf das E-Book Eternal Life Before Death von Gary Anthony Clark. Falls Sie sich gerne mit solchen Themen beschäftigen und ernsthaft mit dem Gedanken spielen, einige hundert Jahre alt zu werden, kann ich Ihnen dieses Buch nur empfehlen. Leider gibt es bisher keine deutsche Übersetzung.

Und was hat das alles mit der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom zu tun? Themenverfehlung! Nicht genügend! Setzen! Direkt hat die Verlängerung des biologischen menschlichen Lebens mit dem Guillain-Barré-Syndrom nichts zu tun. Ich habe im Laufe meiner Krankengeschichte die Erfahrung gemacht, dass das Schlimmste an einer Krankheit wie dieser die Hoffnungslosigkeit auf eine lebenswerte und glückliche Zukunft ist. 

Schon gleich nach dem Aufwachen auf der Intensivstation war einer meiner ersten Gedanken, dass es jetzt für alles zu spät ist. Ich hatte keine unmittelbare Todesangst und glaubte auch nicht, jetzt sei alles vorbei. Aber es ist jetzt nicht mehr möglich, beruflich erfolgreich zu sein, gute Bücher zu schreiben, erfolgreiche Filme zu machen und vielleicht, wie Dante, die sincero amore finden, die große, wahrhaftige Liebe. Damals war ich 43. zwar glaubte ich auch schon vor dem Ausbruch der Krankheit nicht mehr an all das, aber mit dem Erwachen auf der Intensivstation, unfähig meinen Körper auch nur minimal zu bewegen, schien es mir, als hätte jemand den Rettungsanker meiner Träume mit einem Axthieb zerschlagen.

Und diese Aussicht auf ein trostloses Leben aus Lähmung, Siechtum und Tod, hat mich fast dazu gebracht zu resignieren, in totale Apathie zu verfallen und einfach dahinzuvegetieren, bis der große und schreckliche Gärtner mit seiner Sense kommt um abzuernten. Die Überzeugung, nichts mehr im Leben erreichen zu können, hielt zwei Jahre an, besserte sich aber mit den Fortschritten, die ich machte. Mir fehlt allerdings bis heute der Zündfunke für meine persönliche Auferstehung innerhalb dieses Lebens. Aber im Gegensatz zu früher, glaube ich jetzt wieder daran.

Es gibt einfach so viele Wege, die ich jetzt wieder beschreiten kann. Zwar nur wackeligen Schrittes und mit einem Gehbock, aber auch das ist nur vorübergehend. Ich zweifle nicht mehr an der Möglichkeit einer vollständigen Heilung.

Und angenommen, Gary Anthony Clark hat recht, und das Aufgeben des Glaubens an die Sterblichkeit des Menschen ermöglicht es uns, viel älter zu werden, als wir es jetzt für möglich halten, dann ist eine Krankheit wie das Guillain-Barré-Syndrom nur ein Wimpernschlag in einer grenzenlosen Zeit mit unendlich vielen Chancen, die nur darauf warten, genutzt zu werden.

Ist "Forever Young" also vielleicht mehr als nur ein schöner Traum?

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