Samstag, 7. Mai 2016

Road Movie

Die Lähmung am ganzen Körper ist die maximale Einschränkung der körperlichen Freiheit eines Menschen. Sie ist wie eine lebenslange Einzelhaft. Keine Frage, das Guillain-Barré-Syndrom ist eines der effektivsten Gefängnisse, die die Natur sich ausgedacht hat. Für mich ist das einer von vielen Beweisen dafür, dass die Natur nicht vollkommen ist.
Ich habe von vielen Menschen gehört, die Natur sei perfekt, und nur der Mensch mache Fehler und sei zur Zerstörung fähig. Nur der Mensch kenne mutwillige Gewalt.

Die neuzeitliche Verherrlichung der Natur als oberste Gottheit über dem Menschen umfasst aber nicht die Unmenge an ausgerotteten Tier- und Pflanzenarten, die die Natur selbst auf dem Gewissen hat. Gegen den Vernichtungswillen der Natur ist der Mensch ein blutiger Anfänger. Ich bin mir bewusst, dass es unsinnig ist, der Natur einen Willen oder gar eine böswillige Absicht zu unterstellen. Die Evolution hat keinen vorgefertigten Plan. Sie geschieht einfach. Wenn sich ein Zustand bewährt und das Überleben einer ganzen Art sichert, wird er beibehalten. Nüchtern betrachtet ist die Natur also ein teilnahmsloser Ignorant.

Viele Menschen glauben, die Natur sei beseelt. Die Natur ist ein einziger großer, fühlender und lebender Organismus. Sie wird schon wissen, was sie tut und irrt sich nie. Wenn aber die Natur ein beseeltes Wesen ist, möchte ich nicht wissen, welchem Kreis der Hölle sie entstammt. Die Natur auf unserem Planeten Erde als beseeltes Wesen zu verehren, bedeutet, sich einer Gottheit zu unterwerfen, die Milliarden von Lebewesen getötet hat, nur weil sie sich nicht anpassen konnten und nicht überlebensfähig waren.

Die Verehrung einer beseelten Natur ist die Verehrung eines sozialdarwinistischen Diktators. Niemand tötet so schnell und gewissenlos wie die Natur. Die von ökologisch korrekten Moralaposteln sosehr vergöttlichte Natur hat den Zustand der Autoimmunerkrankung hervorgebracht. Das Verteidigungssystem des eigenen Körpers verwechselt ein harmloses Bakterium mit einem mörderischen Feind und tötet alles, was so ähnlich aussieht. Es frisst die isolierende Schicht der eigenen Nerven, nur, weil es glaubt, sie wäre aus demselben Stoff wie die Struktur dieses Bakteriums. Es ist sozusagen nichts anderes als Friendly Fire.

Wie kann die Natur perfekt sein, wenn sie etwas nicht Perfektes hervorbringt? Die Argumentation unserer grünen Tofufreunde, der Mensch sei der einzige Fehler in einer perfekten Schöpfung, ist an widersprüchlicher Absurdität kaum noch zu übertreffen. Perfektion macht keine Fehler. Der Mensch hat das Immunsystem nicht erschaffen. Womöglich noch in der Absicht, sich selbst lahmzulegen? Nein, es war die heilige Natur, die uns Krankheiten wie das Guillain-Barré-Syndrom geschenkt hat.

In Wirklichkeit ist die Natur eine gleichgültige, alles hervorbringende und wieder verschlingende Midgardschlange. Der Natur ist es egal, ob Kinder sterben oder Schwerverbrecher straffrei davonkommen. Die Natur tötet alte Menschen genauso wie junge, ohne es auch nur wahrzunehmen. Wie kann man eine solche Natur lieben oder gar verehren?

Letztlich entscheiden wir selbst, was mit uns geschieht. Genau betrachtet ist das sogenannte Schicksal nichts anderes als eine Zwischenetappe in einer Kausalkette aus Entscheidungen und Ereignissen. Selbst Katastrophen und Unfälle hängen zumindest mit von Menschen getroffenen falschen Entscheidungen zusammen. Bei Erdbeben einstürzende Häuser sind kein Schicksalsschlag, sondern die Folge schlechter Konstruktion, billigen Materials und Selbstbereicherung der zuständigen Organe. Insbesondere in Drittweltländern kommen ungleich mehr Menschen bei Überschwemmungen, Bränden, Erdbeben und Erdrutschen ums Leben, als in der reichen westlichen Welt. Das hat klimatische Gründe, aber auch menschliche. So entpuppt sich so mancher Schicksalsschlag als menschlicher Makel. Weder dem Menschen böse gesinnte Dämonen noch ein reiner Zufall kosten jedes Jahr tausenden Menschen das Leben durch sogenannte Katastrophen, sondern die Fehlentscheidungen beteiligter anderer Menschen. Sei es nun aus Habgier, Ignoranz oder Obrigkeitshörigkeit.

Meine Krankheit Guillain-Barré-Syndrom habe ich zwar nicht selbst verursacht, aber die Folgen sind das Resultat meines früheren Lebensstils. Zwar liebte ich es, im Sommer stundenlang zu schnorcheln, war aber ansonsten sportlich nie aktiv. Ich habe immer gerne zuviel gegessen und zu wenig Bewegung gemacht. Auch das ist einer der Gründe, warum ich nicht an ein höheres Schicksal glauben kann. 

Wo ist bitte der Sinn zu finden, wenn ein dicker Mensch, der fett, faul und gefräßig sein Leben abwechselnd vor dem Fernseher und vor dem Computer verbringt, ausgerechnet eine Krankheit bekommt, die ihn am ganzen Körper lähmt, damit er sich noch weniger bewegen kann?

Während der schlimmsten Zeit meiner Krankheit, habe ich oft geglaubt, dass ich sie verdient habe. Ich habe früher immer gerne viel Bier getrunken und so war es für mich verlockend, sie als Strafe für meine Maßlosigkeit zu betrachten. Vielleicht erinnern Sie sich an Trudi, aus einem meiner früheren Blogposts. Der Gedanke ist doch witzig, dass mich mein Katheter Trudi für die vielen Hektoliter Bier gepeinigt hat, die ich in mich hineingekippt habe. Viel essen und wenig Bewegung führt zu Fettleibigkeit. Schwimmen mit Piranhas führt zur Skelettierung. Rauchen übrigens auch. Große Träume in Kombination mit der Angst, dass sie wahr werden könnten, führen zu Desillusioniertheit und Depressionen.

Ich habe im Laufe meiner Krankenzeit gelernt, dass es möglich ist, selbst in den furchtbarsten Dingen einen Wert zu finden. Das Schrecklichste, was mir jemals passiert ist, war der Tod meiner Mutter im August 2014. Dagegen waren die lange Zeit der Lähmung und die Todesangst, als ich die Tiefenvenenthrombose hatte, gar nichts. Die Beziehung zu meiner Mutter war sehr eng. Wenn ich Sorgen hatte, sagte ich es ihr. Meine Mutter konnte mich mit einem Lächeln, einem Satz oder einfach nur durch ihre Anwesenheit trösten. Das hat sie oft getan. Noch einen Tag vor meiner Einweisung auf die Intensivstation hat sie mir Mut gemacht, ebenso bei all ihren Besuchen im Krankenhaus.

Und plötzlich war sie weg. Für immer aus meinem Leben verschwunden wie ein sorgenfreier Tag. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, und ich befand mich im freien Fall. Jetzt war ich allein. Von vielen hilsbereiten Menschen umgeben, aber trotzdem vollkommen allein in einer Welt, die zwar so ähnlich aussah wie mein Zuhause, mir aber trotzdem vollkommen fremd war. Von meiner Trauer abgesehen, war dieses Gefühl das Schlimmste in der ganzen Zeit meiner Krankheit. Noch schlimmer als die Thrombose. Ich war in einer vertrauten Umgebung, der oberösterreichischen Landschaft mit ihren bewaldeten Hügeln und weiten Feldern. Die Bäume, der Himmel und die Wolken sahen genauso aus wie rund um den Attersee, aber ich hatte ein gutes Jahr lang das Gefühl, mich durch eine traumähnliche Welt zu bewegen, in der alles zugleich wohlbekannt, aber dennoch vollkommen fremd war.

Ich habe lange gebraucht, um zu lernen und zu verstehen, dass selbst die schrecklichsten Ereignisse eine Frage der Perspektive sind. Wenn man sie als unveränderliches grausames Schicksal oder gerechte Strafe betrachtet, fressen sie einen auf. Nicht mit einem einzigen gierigen Biss, sondern langsam und von innen. Sie höhlen einen von innen aus, bis man in sich selbst zusammensinkt.

Erkennt man im Schrecken aber eine Flexibilität, so wird das Schicksal zur Chance auf einen Neubeginn. Aber beginnen und weitermachen muss man selbst. Das Schicksal inszeniert nur die Dramen und die Special Effects. Für das Drehbuch, die Regie und die Hauptrolle ist man selbst verantwortlich. Ebenso für das Bühnenbild, die Kameraführung und die Musik. Der Weg ist das Ziel, und das Leben ist ein Road Movie.

Es ist dein Weg, deine Reise. Es sind deine Füße, die dich tragen. Auch, wenn du jetzt und noch lange Zeit gelähmt im Bett liegst, tragen deine Füße dich. Glaube immer daran. Glaube daran so, als sei es die einzige Wirklichkeit. Dein Hirn steuert deine Füße. Bewege deine Füße und deinen ganzen Körper in deinem Kopf, und der Körper wird dir folgen. Du bist derjenige, der geht. Nicht deine Füße und Beine gehen, sondern nur du.

Auch, wenn es sich widersprüchlich anhört: Wenn du gelähmt bist, steh auf und geh! Wenn dein Körper dir nicht folgt, dann geh ohne ihn. Konzentriere dich auf deine innere Bilderwelt und stell dir vor, wie du auf deinen Füßen durch eine dir vertraute Gegend gehst. Oder erschaffe dir in deiner Phantasie neue Welten. Versetze dich in deinen Gedanken an geliebte Plätze zurück, an denen du glücklich warst. Kehre in diesen Augenblick zurück. Er ist noch immer da. Und wenn du in Momenten der totalen Erstarrung mit schreckgeweiteten Augen in deine Zukunft blickst und all die Monster und Dämonen siehst, die dich zu sich heranwinken, verweile an diesem Ort, den du liebst, und spüre seinen Frieden.

Aber bleib nicht zu lange dort, okay?

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