Samstag, 18. März 2017

Du musst meditieren!

Ich bleibe zuversichtlich. Was ich unlängst bemerkt habe, ist, dass selbst, wenn ich Schmerzen habe, ich dabei ruhig bleibe. Dieses erschaudern vor Angst, das mich früher fast in den Wahnsinn getrieben hat, stellt sich heute nicht mehr ein. Manchmal fühlt es sich so an, als würde es wieder beginnen, aber dann denke ich einfach mehrfach hintereinander das Wort Vernunft oder flüstere es mir vor. Dann ist die Angst wieder weg, bevor sie begonnen hat. Ich glaube, dass ich inzwischen schon viel abgeklärter bin, was solche Probleme und Beschwerden betrifft.

Darum werde ich intensiv mit der Achtsamkeitsmeditation weitermachen. Das entspannte Atmen und das Zählen meiner Atemzüge beruhigen mich sofort. Es ist ein Segen, ein solches Instrument zu haben, das ohne den geringsten Aufwand überall und jederzeit einsetzbar ist. Es gelingt mir zwar noch nicht, meine Gedanken ganz auszuschalten, aber ich bemerke es, wenn sie mich ablenken wollen, und dann konzentriere ich mich einfach nur auf den Augenblick. 

Einfach nur sein, atmen, zählen und hören. Von draußen höre ich immer ein Rauschen. Es kommt entweder von der Straße oder von einer Maschine. Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist ein sehr gutes Meditationswerkzeug, auf das ich mich konzentrieren kann. Die Technik, einfach nur achtsam zu hören mache ich sehr gerne. Sie versetzt mich in einen Zustand der Ruhe und des Optimismus. Und wenn ich nach ein paar Minuten bemerke, dass die Schmerzen gar nicht so schlimm sind oder sogar ganz aufgehört haben, spüre ich eine unglaubliche Erleichterung, fasse wieder Mut, werde zuversichtlich und freue mich einfach nur. 

Auch das ist eine gute Meditationsübung. Einfach nur freuen. Zu genießen, wie schön es ist, sich zu freuen. Ohne dieses Gefühl zu bewerten oder zu ergründen versuchen. Atmen und freuen. So leicht kann es sein. Mit dieser Form der Meditation habe ich erst Ende letzten Jahres begonnen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie in mir so schnell eine so starke Gelassenheit bewirken würde. Damit sind meine Probleme natürlich noch nicht gelöst, immerhin sitze ich immer noch im Rollstuhl, und beim gehen mit Krücken verschwindet nach ein paar Schritten meine Kraft, aber die Angst ist weg. Die Angst hinzufallen. Die Angst, chronische Schmerzen zu bekommen, die Angst, im Körper irgendetwas auszulösen, das mit dem Training gar nichts zu tun hat, wie Koliken oder Schwindel. Passiert ist das alles natürlich noch nie. 

Noch vor einem halben Jahr, waren solche Gedanken bei jedem Schritt, den ich mit dem Gehbock gemacht habe, so präsent wie ein Nachtmahr, der auf meinen Schultern sitzt. Ein Aufhocker. Ein zähneklappernder Affe, der mir die Kehle zuschnürt. Diese Ängste sind alle vergangen. Bei den Gehübungen mit dem Gehbock fühle ich mich vollkommen sicher, selbst, wenn ein Pfleger oder eine Krankenschwester mit den Fußklappen des E-Rollis an meinen Waden anstößt, während sie hinter mir herfahren, damit ich mich jederzeit hinsetzen kann, wenn ich keine Kraft mehr habe. Das passiert nicht oft, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie das letztes Jahr im Sommer das erste mal passiert ist. Ich habe aufgeschrien und geglaubt, ich würde stürzen und mir den Hals brechen. Dieser Gedanke hat mich lange Zeit gequält. Dass ich so hinfallen könnte, dass ich mir einen Halswirbel breche und dann den Rest meines Lebens vom Hals abwärts unheilbar gelähmt bleibe. Ein halbes Jahr steifes Genick bis zu den Zehenspitzen reicht mir. 

Bis ich mich soweit bewegen konnte, dass ich einfache Tätigkeiten verrichten konnte, wie zu essen, Gläser und Flaschen zu heben, den Reißverschluss meiner Trainingsjacke zuzumachen, wieder zeichnen zu können und mir mit meinen eigenen Händen unter der Dusche den Oberkörper zu waschen, hat es gute zwei Jahre gedauert. Inzwischen kann ich meinen rechten Vorfuß schon ein wenig anwinkeln. Nicht sehr viel, aber etwa doppelt so hoch wie noch vor einem halben Jahr. Ich habe keine Angst mehr im Stehlifter ein paar Minuten verharren zu müssen, ohne dass meine Beine und Arme schwach werden. All diese scheinbaren Kleinigkeiten, die früher für mich eine Selbstverständlichkeit waren, bedeuten für mich mittlerweile Triumphe, die ich mir im Juni 2013, als das Guillain-Barré-Syndrom bei mir ausbrach, nie hätte träumen lassen. Doch, träumen schön, aber unmittelbar gefolgt von dem Gedanken, es ist vorbei, Markus. Das war' s. Du wirst den Rest deines Lebens auf dem Rücken liegen und an die Zimmerdecke starren. Dreieinhalb Jahre ist das jetzt her. 

Meine negative Weltsicht habe ich aufgegeben. Ich habe zu viel Gutes erlebt, um an die Macht des Bösen noch glauben zu können. Das Leben ist nunmal nicht fair. Es ist aber auch nicht unfair. Solche Gedanken sind nur ein Ausdruck der eigenen Machtlosigkeit und des Kontrollverlusts. Genau genommen ist jede Angst eine Furcht davor, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Wir Menschen sind eben dazu erschaffen worden, unser Ego über alles andere zu stellen. Jeder hält sich selbst für den wichtigsten Menschen auf der Welt, auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen will. So kann einen eine Krankheit, die einem fast das Leben kostet, den Boden unter den Füßen wegziehen. Der Trick, all das durchzustehen und schließlich zu überwinden, besteht darin, sich mit der Erkenntnis abzufinden, dass man die Kontrolle über sein Leben gar nicht verloren hat. 

Wir können die Kontrolle über unser Leben und die darin stattfindenden Ereignisse nicht verlieren, weil wir sie niemals hatten. Herr der Lage zu sein und über allen Dingen zu stehen, war von Anfang an eine Illusion. Die einzige Kontrolle, die wir wirklich haben, ist die freie Wahl der Bewertung. Wenn wir selbst bestimmen können, wie wir den Geschehnissen in unserem Leben gegenübertreten und dabei immer die Gewissheit über die Freiheit unserer Einstellung dazu bewahren, kann uns selbst die stärkste Erschütterung nicht bis ins tiefste Innere unseres Seins treffen. Am Ende des Tunnels ist kein Licht. Das Licht ist in uns. Wir selbst sind das Licht. Die Dunkelheit umhüllt uns nicht und hält uns nicht gefangen. Sie existiert nicht. Sie ist nur die Abwesenheit von Licht. Dunkelheit kann man weder erschaffen noch verbreiten. Licht schon. 

Am Ende des Tunnels begegnen wir uns selbst und stellen voll freudiger Überraschung fest, dass wir nicht derselbe sind, der den Tunnel ursprünglich betreten hat und dass wir heller strahlen als je zuvor. 

Früher hätte ich nicht geglaubt, dass man eine Zeit der schweren Krise mit solch einfachen Hilfsmitteln wie Vertrauen, Meditation und Achtsamkeit leichter ertragen und sogar überwinden kann. Mit dem Vertrauen habe ich kein Problem mehr. Das habe ich schon auf der Intensivstation gelernt. Meine Entscheidung war leicht: vertrauen oder verrecken.

Wenn mich heute irgendwelche Beschwerden oder Erinnerungen plagen, setze ich mich so locker wie möglich in meinem E-Rolli hin und beginne, meinen Körper zu entspannen. Zuerst die Kopfhaut, dann die Stirn, die Augen, den Mund, das ganze Gesicht. So mache ich weiter und scanne meinen ganzen Körper durch, bis ich bei den Zehenspitzen angekommen bin. Glauben Sie mir, das ist ganz schön viel Arbeit. Aber sie beruhigt mich und schenkt mir Zuversicht.

Danach stelle ich mir die ganz sachliche Frage "Wie geht es mir wirklich?". Die Konzentration darauf ist besonders hilfreich, wenn ich wieder einmal glaube, dass ein harmloser Krampf im Oberbauch zu einer stundenlangen qualvollen Kolik werden wird. Normalerweise stelle ich nach etwa fünf Minuten fest, dass gar nicht passiert. Dann lege ich ein paar Minuten Achtsamkeit ein, und schon fühle ich mich wieder gut. Meistens für den Rest des Tages.

Und jedesmal, wenn ich meine Übungen in Achtsamkeit vernachlässige, mahnt mich meine ruhige innere Stimme und sagt: "Markus. Du musst meditieren!"

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