Samstag, 11. März 2017

Jazz und die Tote Stadt

Ich höre gerade die Radio-App Swiss Jazz. Jim Hall Trio "Too Close for Comfort". Diesen Sender kenne ich schon seit dem Gmundnerberg. Die Musik ist nicht aufdringlich, und ich kann sie schön im Hintergrund laufen lassen, während ich lese, schreibe oder etwas anderes mache. Ich nehme mir schon seit langem vor, öfter Radio zu hören, aber ich habe es bisher nur selten getan. Meine Probleme und Beschwerden haben mich davon abgehalten. Wenn mir etwas weh tut, will ich weder Musik hören noch sonst irgendetwas anderes tun. Ich brauche dann einfach nur Ruhe, damit ich mich so gut entspannen kann, dass die Beschwerden entweder aufhören oder zumindest nicht mehr so beunruhigend für mich sind. Es sind ja immer nur kleine Wehwehchen, aber ich schalte den Sender dann kurze Zeit aus.

Dieser Titel ist fast schon symptomatisch für mein Leben. Too Close for Comfort. Zu nahe dran, um noch Trost zu finden. 

Ich habe schon lange keine Musik mehr gehört, abgesehen von den Radioprogrammen, die entweder im Speisesaal meiner Wohnebene im Behindertendorf oder im Bus des Fahrtendienstes gespielt werden. Ich möchte lieber keine Musik von früher hören, weil sie mich in die Zeit von damals zurückversetzen würde, und ich weiß nicht, ob ich dafür schon seelisch stark genug bin. Aber früher oder später werde ich sowieso wieder damit anfangen. Ich kaufe mir auch nie neue Musik bei iTunes. Musik zu hören, gehört für mich zu einem normalen Leben. Ich will mein heutiges Leben nicht zu sehr mit meinem früheren vermischen. Besonders, weil ich immer daran denken muss, dass die Zeit vorbei ist, in der ich noch nicht so schreckliche Verluste und Ängste erleben musste. 

Die Musik von früher ist noch da, aber meine Mutter und mein Vater sind tot. Das macht mich nicht nur traurig, sondern erinnert mich auch immer daran, wie vergänglich alles ist und was für ein Horror es ist, wenn geliebte Menschen sterben. Ich habe mir das kürzlich gedacht, als ich mit dem Fahrtendienst zu einem Arzttermin nach Vöcklabruck gefahren bin. In die Stadt, in der mein Vater gestorben ist. Dieses Erlebnis war für mich geradezu irreal. Ich saß im E-Rolli angeschnallt im hinteren Teil des Wagens, und wir fuhren den Hügel der Altstadt zum unteren Stadttor und bogen dann nach links ab. Ich habe einige Ansichten von Vöcklabruck gesehen, die ich von früher noch sehr gut kenne. Ich habe durch das Tor auf den Stadtplatz geblickt. Viel gesehen habe ich allerdings nicht, aber zumindest ein paar Autos, die Straße und Teile der Häuser. Es war für mich, als würde ich in eine längst vergangene Zeit zurückschauen. Alles war mir vertraut, aber trotzdem fremd. Ich habe junge Menschen und ein sehr hübsches blondes Mädchen auf den Gehsteigen der Altstadt gesehen, die wohl gerade von der Schule nach Hause gingen oder Mittagspause hatten. Ich habe mir, wie so oft, gedacht, dass ich auch einmal so jung war, aber aus meinem Leben nichts gemacht habe. Und ich hatte nie ein so hübsches Mädchen als Freundin. In solchen Momenten werde ich so wehmütig und traurig, dass ich lieber die Augen wieder zumache, damit ich die Welt, deren Teil ich einmal war, nicht sehen muss. 

Es ist alles so schwer zu glauben und zu verstehen. Ich sehe eine kleine Stadt, in der ich sehr oft mit meinen Eltern unterwegs war. Es ist für mich unbegreiflich, dass die alten Plätze und Ansichten noch immer da sind, aber Mama und Papa nicht. Mit ihnen bin ich früher über den Stadtplatz gegangen, aber das kann ich jetzt nicht mehr. Ein Gefühl von Neid und Zorn auf das ungerechte Schicksal erfüllt mich dann. All diese Häuser, Mauern, Schaufenster, Gehsteige und Straßen existieren noch immer, aber die Menschen, die viel wertvoller sind als diese ganzen Fassaden, müssen sterben, nach dem sie nur ein kurzes und unerfülltes Leben hatten. Ich denke mir, dass die jungen Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, auch alt werden und dann vielleicht dieselbe Traurigkeit empfinden werden wie ich. Außerdem wird das Schicksal auch sie nicht verschonen, und es wird wahrscheinlich kein einziger von Ihnen immer ein sorgenfreies und gesundes Leben haben. In diesem Gedanken liegt eine gewisse Erleichterung. Das ist wohl kein sehr sympathischer Charakterzug von mir, aber er versöhnt mich wenigstens mit dem Schicksal und verhindert, dass meine Desillusioniertheit noch größer wird. Außerdem bin ich nicht annähernd so alt, wie ich mich manchmal fühle. Eigentlich gibt es gar kein Alter. Die Lebenszeit des Menschen ist einfach nur lächerlich kurz.

Der Mensch soll ja angeblich die Krone der Schöpfung sein. Ich habe im Krankenhaus und auf der Reha viele solche Kronen gesehen, die altersschwach oder vom Krebs gezeichnet, dahindämmerten, an ihrem Infusionsgalgen durch die Gänge schlichen oder einfach nur ins Leere starrten. Ich weiß nicht, was sie da gesehen haben, und ich hoffe, dass ich das nicht auch eines Tages sehen muss, was sich am anderen Ende des Lebens zeigt. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es ein Ausblick in ein Königreich ist.

Die Geschehnisse der letzten vier Jahre und solche Beobachtungen machen mir besonders deutlich, wie kostbar der Augenblick ist. Ich denke mir oft, vielleicht ist alles nur ein einziger zeitloser Augenblick, den wir aus verschiedenen Blickwinkeln wahrnehmen. Vieles von dem, was wir als Realität bezeichnen, können wir überhaupt nicht erkennen. Ultraviolettes Licht oder Ultraschall. Bienen und Hunde können das. Wir Menschen nicht. Trotzdem sprechen wir davon, dass wir in der Realität leben, in der Wirklichkeit. Wie können wir nur solch eine Behauptung aufstellen, wenn wir die Wirklichkeit nur derartig bruchstückhaft wahrnehmen können? Alles, was wir mit unseren Sinnen erleben, sind nur Splitter der Wirklichkeit. Winzige Fragmente dieses einen zeitlosen Augenblicks. Es gibt also gar keinen Grund wehmütig zu sein. Wir Menschen können das Gesamtbild der Schöpfung nicht einmal annähernd erahnen. 

Warum können negative Gefühle wie Traurigkeit, Verzweiflung, Angst eine so große Macht erlangen? Warum entstehen sie überhaupt? Ich glaube, es liegt daran, dass wir die Wirklichkeit nur bruchstückhaft erkennen, und auf diesen winzigen Trümmern und Splittern errichten wir uns die Geisterbahn unseres Lebens. Wir glauben, die Realität zu kennen und mit beiden Beinen im Leben zu stehen, aber in Wirklichkeit sind das nur kurze Wimpernschläge, die uns den Blick auf das Gesamtbild verwähren. Wir halten das, was wir wahrnehmen und erleben für alles, was existiert, und darum treffen uns die Schläge so hart. Die wahren Zusammenhänge erkennen wir nicht. Jeder Schicksalsschlag ist ein Glockenklang in ein neues Leben.

Also habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, alles Unangenehme, was es in meinem Leben momentan gibt, nur als einen kleinen Ausschnitt meines großen Lebensfilms zu sehen. Ein Einzelbild in einem jahrzehntelangen Monumentalepos. Ein Halbsatz in einem tausendseitigen Roman. Ein paar gezählte Atemzüge in einem unendlichen Kosmos aus Lebensluft.

Woher können wir wissen, dass ein Unglück ausschließlich negative Konsequenzen nach sich ziehen wird? Oder kann auch etwas Gutes daraus entstehen? 

Das größte Unheil im menschlichen Leben ist nicht, dass furchtbare Dinge geschehen, sondern, dass Sie unseren Blick trüben und unsere Perspektive verzerren. Von Hoffnungslosigkeit hypnotisiert starren wir auf die grauen Mauern und Straßen der Toten Stadt und übersehen dabei  die bunten Blumen, die durch den Asphalt brechen.

Ich kann manchmal nicht anders, als kitschig zu schreiben, aber ich kann die Inspiration auch nicht mit Füßen treten und ein starkes Bild gegen ein schwaches ersetzen. Vielleicht sind die bunten Blumen im Asphalt auch gar kein Kitsch, sondern nur ein ungewohnter Anblick in unserer herzlosen und entzauberten Welt.

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