Samstag, 4. März 2017

Der standhafte Krückenbär

In der Physiotherapie arbeiten mein Therapeut Wolfgang und ich gerade daran, mich mit Unterarmstützkrücken aus dem elektrischen Rollstuhl zu bekommen. Mit Krücken gehen kann ich schon seit ein paar Wochen, aber mir geht die Kraft schnell aus. Ich mache ein paar Minuten Pause, und dann schaffe ich wieder ein paar Schritte. Wenn ich müde werde, verliere ich noch immer die Sicherheit. Das stört mich an mir selbst maßlos, und auch Wolfgang sagt, dass ich noch genug Kraft habe, aber der innere Schweinehund kläfft wieder.
Wie soll ich meinen Physiotherapeuten beschreiben? Stellen Sie sich einfach einen Bär in einem roten T-Shirt vor, dann haben sie ein ziemlich genaues Bild von ihm. Er ist ein großer Bewunderer der Indianerkultur und weiß nicht, dass ich nach einem indianischen Sternszeichen ein Bär bin. Ein Braunbär, um genau zu sein. Er hat mir einmal erzählt, er habe einem Indianer in Kanada versprochen, dass er nie auf einen Bären schießen wird. Da bin ich aber beruhigt. Er ist nämlich Jäger.
Das Aufstehen geht jetzt schon ziemlich gut. Nicht ohne Wolfgangs Hilfe, er muss mir buchstäblich noch immer unter die Arme greifen. Mein Problem ist, dass ich mich nicht traue, mich beim aufstehen weit genug nach vorne zu beugen. Ich befürchte, meine Knie könnten einknicken, und dann würde ich hinfallen.
Das wäre allerdings auch kein Drama. Wolfgang sitzt vor mir und würde mich stützen, und selbst wenn ich auf die Knie fallen sollte, wäre das nicht so schlimm. Ich könnte allerdings auch zur Seite wegkippen, entweder auf meinen Schreibtisch beim Regalkasten oder auf den beigen Linoleumboden. Selbst da würde nichts passieren, aber die Hemmschwelle ist trotzdem zu groß. Noch.
Aber auch diese Bedenken werden sich zerstreuen. Diesmal hat Wolfgang mich wieder darauf hingewiesen, dass ich immer, wenn ich etwas Neues ausprobiere, Angst habe. Wir trainieren jetzt schon seit fast drei Jahren miteinander. Es wundert mich, dass er bisher noch keinen Nervenzusammenbruch hatte. Immerhin hat er mich als Patienten. Das zehrt sicher extrem am Nervenkostüm.
Ich drücke also die beiden dunkelblauen Krücken links und rechts und ein Stück vor mir in den Boden und stemme mich hoch. Dabei muss ich gleichzeitig darauf achten, meinen Oberkörper weit genug nach vorne zu bringen, also den Schwerpunkt vor die Unterstützungsfläche zu bringen. Das Problem dabei ist, dass mein ganzer Körper ein einziger Schwerpunkt ist.
"Du hast Schwierigkeiten, deinen Hintern in die Luft zu kriegen", sagt Wolfgang. "Der zieht dich immer wieder zurück."
"Ich weiß, ich weiß", sage ich und keuche dabei, als wäre ich an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Ich sinke in das Sitzkissen meines E-Rollis.
"Bei mir ist es die Wamp' n", fügt Wolfgang hinzu und sieht mich vergnügt an. "Is' so."
"Jaja." Ich bekomme jetzt wieder besser Luft.
Das Ende dieser Therapieeinheit rückt in greifbare Nähe. Wir sind zwar erst seit zwanzig Minuten beschäftigt, aber Wolfgang hat ein ausgezeichnetes Gespür dafür, wenn es mir zuviel wird. Ich wälze mich wieder an den vorderen Rand meines sauteuren, mit einzeln justierbaren Luftpölsterchen ausgestatteten Sitzkissens. Kürzlich habe ich heimlich Luft ausgelassen, weil ich Schmerzen im Bauch und in der Leiste hatte. Aber pssst..., bitte nicht weitersagen. Nächstes Mal mache ich es nämlich wieder. Dieses Kissen dient eigentlich zur Dekubitusprophylaxe. Damit ich keine offenen Stellen an meiner Unterstützungsfläche bekomme. Da leistet es ausgezeichnete Dienste, aber ich habe nicht gerne Schmerzen in den Weichteilen.
So, weiter. Ich stehe also noch einmal auf. Ich bin ganz schief, neige mich aber irgendwie in die Gerade. Es kostet Kraft, aber das eigentliche Problem ist, dass ich gegen diesen inneren Schweinehund ankämpfen muss, der mir sagt, ich solle mich lieber hinsetzen, weil sonst werde ich hinfallen und ein Bein brechen. Ich will es aber unbedingt schaffen, also strecke ich meine Knie so gut wie möglich durch.
"Jajajajaja!" Wolfgang feuert mich an.
Ich stemme mich weiter hoch, glaube, jetzt kann ich nicht mehr und rechne damit, gleich zusammenzubrechen, aber meine Knie sind heute gut gelaunt und kämpfen sich anständig hoch, und so stehe ich schließlich, an den beiden Krücken festgekrallt, da.
"Du brauchst fast keine Hilfe mehr", sagt mein Therapeut. Aber du arbeitest zuviel mit den Armen. Die Kraft muss aus den Beinen kommen." 
Er trägt eine graue Wollmütze. Keine Ahnung, warum. Geht mich auch nichts an. Passt aber nicht zum roten Shirt. Wenig originell. Egal.
Ich sitze wieder und sage wieder "Jaja, ich weiß. Aber mir geht die Kraft in den Beinen aus."
"Üben!" schlägt Herr Graumütz vor. "Übst du?"
"Ja! Jeden Tag mache ich meine Gehübungen." Ich umklammere noch immer die Krücken, obwohl ich schon längst wieder auf dem Luftkissenrolli sitze.
"Wie weit schaffst du es schon?" fragt Wolfgang.
"Bis zum Ende vom Wäschekasten", sage ich und pfeife auf die Grammatik.
"Kraft kriegst du nur durch üben. Noch einmal?"
"Meine rechte Hand knickt an der Krücke ab", sage ich und hoffe, dass es nicht wie eine Ausrede klingt. Es ist nämlich keine. Es ist ein typisches Beispiel für meine Unsicherheit durch Erschöpfung.
"Dann hören wir auf! Ich weiß, wann du genug hast. Wiederschau' n, Meister. Am Mittwoch bringe ich die junge Praktikantin mit."
"Danke, Wolfgang." Seine Worte klingen wie Musik in meinen Ohren. Nicht wegen der Praktikantin, sondern, weil wir für heute aufhören.
"Hast du gut gemacht. Meine Verehrung. Bis Mittwoch, tschüss."
Wir geben uns die Hand. Wolfgang packt die blauen Krücken und verlässt den Raum.
"Pfirti", sage ich. Irgendwie schade, dass er geht. Er ist ein super Therapeut, ein sympathischer Mensch und außerdem ein sehr guter Erzähler. Er ist in Kanada mit Indianern in der Nacht im Regen durch den Schlamm eines Waldes gestapft, um ein Tier zu erlegen. Ein Reh, glaube ich. Das musste er dann noch eine steile Anhöhe raufziehen. Darum kann er das bei mir auch so gut, wenn meine Unterstützungsfläche wieder einmal zu fett ist.
Und ich habe wieder einen Grund, ein bisschen stolz auf mich zu sein, auch, wenn das eine Todsünde ist. aber ich glaube, unter allen Sünden ist sie ein Kavaliersdelikt. Über Völlerei und Wollust kann ich leider nichts erzählen. Aber ich finde, die Geschichte eines dicken Mannes, der komplett gelähmt in einem riesigen Bett auf der Intensivstation dahinsiecht und vier Jahre später mit zwei Krücken aufrecht vor seinem Rollstuhl steht, ist auch ganz spannend. Wahrscheinlich, weil es meine eigene ist. An den beiden anderen Sünden arbeite ich noch.

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