Dienstag, 18. November 2014

An alle Verzweifelten: Ein Mutmacher

Sie  werden wieder gesund!
Glauben Sie mir. Verzweifeln Sie nicht, und geben Sie nicht auf. Auch, wenn Sie gerade noch in einer Phase der Krankheit sind, in der Sie nicht glauben können, jemals wieder Ihre Arme bewegen oder sogar gehen zu können, wenn Sie gerade an Unmengen von Schläuchen hängen, die Sie mit Medikamenten versorgen, wenn Sie die Dialyse über sich ergehen lassen müssen und ständig durstig sind, wenn man Sie andauernd mit Nadeln sticht oder Sie sogar einen künstlichen Darmausgang haben, denken Sie immer daran und vergessen Sie es nie:
Sie werden wieder gesund!
Ich schreibe diese Zeilen mit meinem linken Zeigefinger auf meinem iPad. Ich kann mittlerweile, 17 Monate nach dem Ausbruch meiner Krankheit, zwar schon mit beiden Zeigefingern tippen, aber momentan ist meine Lage dafür nicht geeignet. Ich liege mit leicht angewinkeltem Rückenteil im Bett meines Zimmers des Behindertendorfs Altenhof in Oberösterreich. Tagsüber sitze ich in einem elektrischen Rollstuhl, lese E-Books oder gehe zu meinen Therapien. Meinen Oberkörper kann ich gut bewegen, nur die Finger wollen noch nicht so recht. Meine Rumpfstabilität ist sehr gut, ich kann problemlos querbett sitzen und aus dem Rollstuhl ohne große Mühe aufstehen, wenn ich mich dabei an den Griffen eines Rollators festhalte. Ich stehe noch sehr wacklig, schaffe es aber zwei Minuten freihändig mit Ausbalancieren. Dabei sehe ich ziemlich cool aus. Wie ein Surfer.
Vor 17 Monaten war ich noch vom Hals abwärts vollständig gelähmt. Vor zehn Monaten auch noch fast, konnte aber schon tippen. So ging es Schritt für Schritt bergauf. Immer wieder gab es neue Erfolge, immer nur kleine, und ich vergesse sie schnell wieder und auch, wie schlecht es mir im Juni 2013 noch ging. Im Vergleich dazu bin ich heute ein neuer Mensch.
Sie lesen gerade eine kurze Schilderung der Ereignisse, die auch Ihnen bevorstehen. Wenn Sie noch in einem sehr schweren Stadium der Krankheit sind und sich gar nicht bewegen können, macht Ihnen meine Geschichte vielleicht Mut. Das ist übrigens der Grund, warum ich diese Zeilen schreibe. Als die Krankheit bei mir ausbrach und ich auf der Intensivstation aufwachte, wusste niemand etwas über das Guillain-Barré-Syndrom. Selbst die Ärzte konnten keine genauen Prognosen geben. Sie wussten nicht, ob ich nicht vielleicht den Rest meines Lebens gelähmt bleibe.
Ich blieb es nicht. Zwar kann ich noch nicht gehen, weil ich zu wenig Kraft und kein Vertrauen in meine Beine habe, aber mein Physiotherapeut ist zuversichtlich. Ich auch.
Aber damals, als ich erwachte und mir nicht einmal den Namen meiner Krankheit merken konnte, habe ich mir gewünscht, ich hätte mehr Informationen über das Guillain-Barré-Syndrom. Ich glaube, nur wenigen Patienten geht es so, dass sie von den Krankenschwestern- und Pflegern gefragt werden, was das eigentlich für eine Krankheit sei. Die medizinischen Informationen, die mir die Ärzte gaben reichten mir. Vielleicht liegt das daran, dass ich der Sohn eines Arztes und einer Diplomkrankenschwester bin. Ich hatte zumindest keine Probleme mit den Fachbegriffen. Aber im Grunde reicht es aus zu wissen, dass beim Guillain-Barré-Syndrom das eigene Immunsystem den Körper angreift und die Isolierschicht der Nerven zerstört. Diese Isolierschicht heilt wieder. Etwa einen Millimeter pro Tag. Ich bin 1,  80 groß. Sie können sich also vorstellen, wie lange das dauert.
Betroffen ist beim Guillain-Barré-Syndrom nur das periphäre Nervensystem, das heißt, das Hirn und das Rückenmark werden nicht in Mitleidenschaft gezogen.
Die Gespräche mit den Ärzten waren für mich also immer sehr informativ. Aber ich kannte keine Erfahrungsberichte von Betroffenen. Damals konnte ich mich nicht bewegen, also hatte ich keine Möglichkeit, mich durch das Internet schlau zu machen. Inzwischen habe ich einige E-Books zu dem Thema gelesen. Um zu demonstrieren, wie selten und unbekannt diese Krankheit ist, sage ich Ihnen, dass es auf der Kindle-Seite von Amazon nur vier Seiten mit Büchern zum Guillain-Barré-Syndrom gibt. Die meisten davon sind medizinische Fachliteratur über Neurologie und Anästhesie.
Wie viel hätte ich damals dafür gegeben, mehr über diese Krankheit zu wissen? Wie viel Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wären mir erspart geblieben? Und Tränen, die ich mir nicht abwischen und eine Nase, die ich mir nicht putzen konnte. Hätte ich doch nur mehr über den Krankheitsverlauf und die Schicksale anderer Patienten gewusst.
Natürlich gibt es auch Menschen, die nicht geheilt werden. Es kann passieren, dass schwere Behinderungen und starke Schmerzen zurückbleiben, aber das ist nur sehr selten der Fall. Im Frühstadium kann man auch am Guillain-Barré-Syndrom sterben. Wenn die Lunge gelähmt ist und man nicht künstlich beatmet wird. Ich wurde rechtzeitig beatmet, sonst wäre ich erstickt. Außerdem hatte ich eine schwere Darmsepsis mit massiven Blutungen und ein Nierenversagen. Das alles hätte mich fast umgebracht Acht Monate später kam noch eine Tiefenvenenthrombose dazu, allerdings ohne Lungenembolie.
Todesfälle durch das Guillain-Barré-Syndrom sind allerdings sehr selten und treten im Anfangsstadium der Akutphase auf. Da Sie diese Zeilen gerade lesen oder vorgelesen bekommen, sind Sie über die unmittelbare Lebensgefahr schon hinaus.
Vielleicht geht es Ihnen so wie mir, dass Sie es nicht mehr hören können, wenn jemand sagt: "Das wird wieder, aber es dauert". Vielleicht können Sie es nicht glauben, weil die Erfolge so klein sind, so selten und zeitlich so weit auseinanderliegen. Sicher haben Sie es schon erlebt, dass Sie einen Finger ein winziges Bisschen bewegen konnten und dachten: "Jetzt werde ich gesund." Sicher haben Sie sich, genauso wie ich, wahnsinnig darüber gefreut, haben alle Sorgen über Bord geworfen und sind zum ersten Mal seit langer Zeit mit einem Lächeln eingeschlafen. Vielleicht war es nur ein inneres Lächeln, weil Sie eine Gesichtslähmung hatten, was mir, Gott sei Dank, erspart geblieben ist.
Und dann geschah wochenlang gar nichts. Diese Phasen sind extrem zermürbend und demoralisierend. Aber die Phasen des Stillstands gehen vorbei und neue Erfolge stellen sich ein. Die Fortschritte werden Sie nicht mit Siebenmeilenstiefeln machen, sondern im Schneckentempo. In Superzeitlupe mit Standbildfunktion. Ich war oft am Rande der Verzweiflung, habe geweint und gezittert. Aufgegeben habe ich nie. Der Funke der Hoffnung war immer da. Ich hatte das Glück, dass mir beim Aufwachen auf der Intensivstation der Arzt sagte, dass meine Krankheit heilbar sei. Noch bevor er mir sagte, dass ich am ganzen Körper gelähmt bin. Dadurch war der Schock nicht so groß.
Denken Sie bei allen Widrigkeiten, die diese Krankheit mit sich bringt: "Das gehört zum Gesundwerden dazu." Denken Sie es bei der nächsten Nadel, die in Ihren Körper gestochen wird. Bei Nerven- und Muskelschmerzen. Bei Scherereien mit dem Blasenkatheter. Bei Harnwegsinfekten. Vor Operationen und danach.
Wenn Sie die Anfangsphase überlebt haben, geht es nur noch bergauf.  Es kann Monate und Jahre dauern, ganz sicher wird die Krankheit viele Veränderungen in Ihr leben bringen. Die Fortschritte kommen: Der erste Finger, den sie wieder bewegen können. Das erste Mal, wenn es Ihnen gelingt, den Notfallknopf zu drücken, um eine Krankenschwester zu rufen. Das erste Querbettsitzen. Das erste Aufstemmen mit den eigenen Armen. Die ersten Bewegungen der Beine. Das erste Aufstehen am Stehtisch. Die wiedergewonnene Mobilität durch einen Rollstuhl. Selber essen können. Sich selber waschen. Das erste selbstständige Aufstehen aus dem Rollstuhl. Freihändiges Stehen. Gehen. Gehen. Gehen.
Heute weiß ich, dass die Heilungschancen ausgezeichnet sind. Die überwältigende Mehrheit der Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom erholt sich wieder. Die Aussicht, wieder auf die Beine zu kommen und das Leben anzupacken ist wolkenlos und sonnig.
Wenn Ihre Angst, Ihre Traurigkeit und Ihre Hoffnungslosigkeit am größten sind: Verzweifeln Sie nicht, fürchten Sie sich nicht, und geben Sie nicht auf.
Sie werden wieder gesund!

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