Samstag, 29. November 2014

Traum und Wirklichkeit

Eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die ich im Laufe meiner Krankengeschichte mit dem Guillain-Barré-Syndrom machte, war der plötzliche Einbruch der Realität in den Traum. Damit meine ich nicht körperliche Schmerzen, sondern seelische. Abgesehen vom Ausbruch der Krankheit selbst, waren es die ständigen, immer wiederkehrenden Tritte, die mir das Schicksal verpasste.
Ich weiß nicht, wie oft ich es in diesen eineinhalb Jahren erlebt habe, dass es mir besser ging und ich Hoffnung schöpfte, nur um kurz darauf wieder getreten zu werden. Getroffen von den Pfeilen und Schleudern des wütenden Geschicks.
Noch am Vormittag hatte ich einen kleinen Erfolg, weil ein paar Tasten auf der Computertastatur drücken konnte oder weil ich im Querbett stabil aufrecht sitzen konnte, und am Abend war der Dauerkatheter so verstopft, dass er sich nicht spülen ließ. Urologe war keiner mehr da, dabei hätte das jeder Diplomkrankenpfleger machen können.
Liebe Ärzte und Pfleger, seid mir bitte nicht böse, wenn ich das sage, aber jeder verdammte Schimpanse kann einen Schlauch aus einer Röhre ziehen. Stattdessen wurden mir krampflösende Mittel gegeben, eine Tablette und eine Infusion, damit die Blasenkrämpfe aufhören. Aber sie hörten nicht auf. Die ganze Nacht hatte ich Krämpfe. Am nächsten Tag und die ganze Woche darauf war ich dementsprechend fertig.
Als ich auf Reha war, hatte ich kleine Erfolge in der Ergo- und Physiotherapie, und am Abend, als ich mit dem Hebelifter ins Bett gelegt wurde, sagte eine Krankenschwester: "Ihr rechtes Bein ist aber dick." Ein Arzt kam und untersuchte mich. Nur entzündet und geschwollen, meinte er. Am nächsten Morgen wachte ich auf als Schwester Andrea in mein Zimmer kam und sagte: "Du fährst jetzt ins Krankenhaus nach Gmunden. Du hast eine Thrombose. Ich darf dich nicht waschen." Ich wusste zwar, was eine Thrombose ist, war aber trotzdem geschockt, als sie auf meine Frage, was denn passieren könnte sagte: "Im schlimmsten Fall kann die tödlich sein." Die. Folgende Woche war die vielleicht schlimmste in der ganzen Zeit der Krankheit. Alle anderen Momente, in denen ich in akuter Lebensgefahr war, habe ich nicht bewusst mitbekommen, aber diese eine Woche lang und auch noch einige Zeit danach habe ichp erfahren, was wirkliche Todesangst ist. Ich konnte an nichts anderes denken. Zusätzlich hatte ich noch einen grippalen Infekt und 42 Grad Fieber.
Lungenebolie bekam ich keine, aber dafür nehme ich noch jetzt, neun Monate später, ein so starkes blutverdünnendes Mittel, dass ich auf der Stirn zu bluten beginne, wenn ich mir in der Früh beim waschen mit einem nassen Waschlappen zu fest darüber fahre. Wie schrieb noch Clive Barker? "Blutbücher sind wir Leiber alle. Wo man uns aufschlägt, lesbar rot."
Es waren und sind auch viele Kleinigkeiten unter diesen Rückschlägen. Katheterprobleme, ausbleibende Fortschritte in der Therapie, schlechte Nachrichten über die Prognosen meiner Genesung, besonders, was die Beweglichkeit meiner Finger betrifft und solche Dinge. Aber auch Harnwegsinfekte und kleinere Operationen an eingewachsenen entzündeten Zehennägeln. Des weiteren Hüftschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Ängste, Depressionen. Nicht zu vergessen Hautlaisionen, Dekubitusgefahr und eine aufgeplatzte Zirkumzisionsnaht mit Nachoperation und zehn Tagen Krankenhausaufenthalt.
Kleine und mittelgroße Quälereien, vom Schicksal fein dosiert und kurz nach den Glücksmomenten verabreicht, um mein Leben zu würzen. So wird der Traum vom Gesundwerden immer wieder niedergetrampelt. Und das mit Ausdauer. Ich habe solche Phasen erlebt, die wochenlang dauerten. Das wütende Geschick hat einen langen Atem.
Ich auch. Meiner ist länger. Ich motiviere meine trostsuchende Seele mit Gedanken, wie: "Das gehört zum Gesundwerden dazu" oder "Ich bin eine starke Persönlichkeit". In Stress- und Angsmomenten sage ich mir das innerlich vor und auch nachts vor dem Einschlafen. Solche Affirmationen, im Geiste gedacht oder leise geflüstert, 30 bis 100 Mal wiederholt, setzen sich irgendwann im Unterbewusstsein ab und entfalten von da aus ihre positive und stärkende Wirkung. Auf mein Handy habe ich sie auch gesprochen. Ich werde in einem späteren Blog-Beitrag eine Liste der Affirmationen veröffentlichen, die ich regelmäßig anwende und ohne die ich wahrscheinlich schon wahnsinnig geworden wäre.
Das Guillain-Barré-Syndrom befällt zwar meist nur das periphäre Nervensystem, also nicht das Rückenmark oder das Hirn, aber die psychischen, seelischen Nebenwirkungen können einen Menschen brechen. Bis zu totalen Resignation und Selbstaufgabe. Solche Fälle sind bekannt.
Aber mich nicht.
Selbst die größten Hammerschläge, wie der Tod meiner Mutter können mich nicht kleinkriegen. Ich zünde eine Kerze an, wenn ich traurig bin. So hat es Mama in einem ihrer Gedichte geschrieben. Ich tue das auch, wenn ich Angst habe. Aber. Diese Kerze ist nicht echt, sie ist nicht aus Wachs, sondern besteht aus reiner geistiger Hoffnungskraft. Sie erhellt die Dunkelheit. Jede Dunkelheit. Diese Kerze brennt immer in mir, und wenn sie zu verlöschen droht, entzünde ich sie neu. Immer.
Jetzt.
Sie ist mein Fixpunkt. Mein Nordstern. Mein Leuchtturm.
Ich sage auf diesem Weg allen GBS-Betroffenen, den Kranken selbst, aber auch deren Angehörigen und Freunden:
Gib nicht auf! Es gibt einen Ausweg. Er liegt direkt vor Dir. Du musst Dich nur aufrichten, um Deinen Weg zu finden!

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