Samstag, 22. November 2014

Die Welt von oben: Der Stryker

Im folgenden Text schildere ich meine Erinnerungen an die ersten Physiotherapiestunden auf der Intensivstation. Zu dieser Zeit (Juli 2013) war ich noch vollständig gelähmt und konnte nur meinen Kopf bewegen und sprechen. Viele Erinnerungen sind lückenhaft, aber so in etwa hat es sich abgespielt:

Die Physiotherapeuten sind da. Sie betreten den kleinen Raum der Intensivstation. Der eine ist groß, sportlich etwa in meinem Alter und hat ein sympathisches, sehr bodenständiges Gesicht. Er sieht aus, als könne er Bäcker sein, vielleicht sogar ein Bauer oder ein KFZ-Mechaniker. So etwas ähnliches sind Physiotherapeuten ja auch. Sie bringen eingerostete, schrottreife Karosserien wieder in Gang. Hoffe ich zumindest.
        »Guten Morgen«, sagt der Therapeut. »Ich heiße Alfred. Wir machen jetzt Physiotherapie«. In seiner Stimme klingt ein humorvoller Unterton durch. Um seine Augen liegt ein Lächeln. »Heute arbeiten wir mit dem Stryker«, sagt er. Seine Stimme hat einen leichten oberösterreichischen Akzent, aber er spricht nicht in der breiten Mundart, die in diesem Bundesland üblich ist.
Mit dem Rutschbrett ziehen sie mich auf den Stryker. Genaugenommen zieht der Eine, und der Andere schiebt. Es tut mir nicht weh, aber ich fühle mich unsicher, habe ein bißchen Angst. Ich weiß nicht, was jetzt genau mit mir geschehen wird und ob ich es aushalten werde. Ich habe auch meine Zweifel, ob es etwas nützt. Ich kann mir bicht vorstellen, dass ich meine Lähmung besiegen kann, indem man mich auf eine Liege schnallt.
  »Brauchen Sie einen Polster?« fragt mich Alfred.
        Ich nicke. »Ja, bitte«, sage ich. Ich weiß zwar nicht, ob ich den Polster brauche, aber ich fühle mich bei dem Gedanken, ein Kissen unter dem Kopf zu haben, wohler. Vielleicht kippe ich ja nach hinten um und lande wenigstens weich.
    Das wird nie etwas, denke ich und versuche, nicht zu weinen. Ich reisse mich wirklich zusammen. Es ist für mich unvorstellbar, jemals wieder gehen zu können. Das alles hier bringt nichts. Ich werde für den Rest meines Lebens vom Kopf abwärts gelähmt bleiben. Für immer. Ich werde nie wieder schreiben, zeichnen oder schwimmen können. Ein Gefühl der Angst erfasst mich. Es zentriert sich in meiner Brust und sendet kalte Vibrationen durch meinen Körper. Ich spüre die Angst an der Kopfhaut und in der Kehle. Sie schnürt mir den Hals zu. Ich atme durch den Mund. Später einmal wird mir eine Ergotherapeutin sagen, dass das die Fluchtatmung ist. Ein Überbleibsel aus der Urzeit. Schnell durch den Mund atmet man nur, wenn der Tiger schon zum Sprung ansetzt, damit man rechtzeitig die Flucht ergreifen kann.
    Alfred legt mir ein weißes Kissen unter den Hinterkopf. Auf diesem Kissen habe ich gerade noch geschlafen und von einem Wohnwagen in der Wüste geträumt. Durch den Polster fühle ich mich auch nicht wohler. Die Krankenschwester Hedita steht neben mir und lächelt mich an. Sie hat schöne große Augen und ist immer gut gelaunt, aber nicht gekünstelt. Ich glaube, sie ist verheiratet. Ich denke mir, ich bin ein Trottel, dass ich mir in meiner Situation über so etwas Gedanken mache. Schließlich bin ich hier ja nicht auf Brautschau. Aber Hedita ist zweifelsohne ein Lichtblick in meinem schwarzen Abgrund der Angst.
    »Was müssen wir jetzt noch machen?« fragt sie mich. Sie ist in der Hocke, um etwas vom Boden aufzuheben.
    »Mich anschnallen«, sage ich.
    Hedita lacht. Sie lacht immer, wenn ich das sage. »Ja. Die Gurte befestigen.« Das scheint so eine Art Fachausdruck zu sein. Man schnallt sich ja eigentlich im Auto an. Sie befestigt die Gurte an mir. Eines der breiten Bänder kommt über die Knie und das andere über die Brust. Alfred kontrolliert das Ganze und zieht die Gurte zu, aber nicht zu fest. Meine Füße stehen auf einer Platte, die mit der roten Liege verbunden ist.
    »Wir starten ganz langsam«, sagt Alfred. »Wenn Sie schwindlig werden oder Probeme mit dem Kreislauf bekommen, sagen sie es. Okay?«
    Ich nicke. »Ja«, sage ich knapp. Eigentlich presse ich das Wort eher aus mir heraus, als dass ich es ausspreche. Ich bin sehr angespannt. Obwohl ich gelähmt bin, verspanne ich mich. Keine Ahnung, wie mir das gelingt. Mir kommt alles wie ein Traum vor. Vielleicht ist es ja einer. Seit ich in diesem Horrorfilm aufgewacht bin, kann ich Traum und Wirklichkeit nicht mehr gut unterscheiden. Besonders in meinen Träumen denke ich mir oft, dass alles wirklich geschieht. Wenn ich nach einer Darmoperation, die im Wohnzimmer einer unfreundlichen alten Dame im Nachbarhaus durchgeführt wird, aufwache, bin ich ganz überrascht, wieder im Krankenhaus zu sein. Ich habe doch genau gespürt, wie die riesigen chirurgischen Instrumente in mir arbeiten und das Blut aus meinem Körper strömt. Jetzt allerdings geschieht nichts Grauenhaftes, also ist es wohl doch kein Traum.
     Alfred nimmt die Fernbedienung mit dem Kabel in die Hand. »Auf geht’ s«, sagt er.
  Ich höre ein Summen unter mir. Dann spüre ich eine leichte Vibration, als der Motor des Stryker zu arbeiten beginnt. Ein leichter Ruck, und ich beginne mich aufzustellen. Genaugenommen stellt mich der Stryker auf, ich selbst bewege mich nicht einen Zentimeter. Meine Perspektive ändert sich, ich werde groß. Ich bin nicht mehr flach und sehe die Welt von unten. Auch bin ich nicht mehr umringt von Menschen, die zu mir heruntersehen und mir versichern, dass es wieder wird. Es wird schon wieder, aber es dauert.
    Erinnerungen steigen in mir auf. Ich fühle mich, als würde ich selbst aufstehen, ein Erlebnis, das erst wenige Wochen her ist. Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon hier bin, in China, oder doch in Vöcklabruck. Oder ist es ein Krankenhaus in Mariazell in der Steiermark? Bin ich in London? Nein, das ist nur in meinen Träumen so. Ich bin auf der Stroke Unit der Intensivstation des Landeskrankenhauses Vöcklabruck in Oberösterreich. Und ich liege auf einer Art rotem Ledersofa, angeschnalt, und werde aufgestellt.
    Auf einmal sehe ich die Welt wieder von oben. Die Welt ist ein weiß gestrichenes Zimmer mit einem breiten Kasten mit Regalbrettern, in dem sich verschiedene medizinische Gegenstände befinden: Plastikschachteln mit Gummihandschuhen für die Schwestern und Pfleger in den Größen S, M und L. Schläuche mit Plastiksäckchen für den Katheter, Verbände, Mullbinden und so weiter. Außerdem ein großer Apparat mit Schläuchen, durch die bei der Dialyse mein Blut fließt. Ich fühle mich nicht gut. Es ist ein Gefühl der Beklemmung, ich kann nicht richtig denken, alles erscheint mir so fremd, so ungewohnt und bedrohlich. Mein ganzes Leben ist aus den Fugen geraten. Eigentlich sollte ich zu Hause am Wohnzimmersessel sitzen und Bier saufen, wie ich es mein halbes Leben getan habe. Ich sollte eigentlich Bücher schreiben, die den literarischen Wert eines Stücks Klopapiers haben. Sogar einen Abgabetermin für einen Western habe ich. Den muss ich bis Herbst schreiben, aber ich fürchte, diesen Termin müssen wir verschieben. Ich kann gerade nicht tippen. Verdammt nochmal, ich kann mich nicht einmal am Arsch kratzen.
Trotz aller Strapazen mit dem Kreislauf, ist es ein schönes Gefühl, im Stryker zu stehen, zumindest die ersten paar Minuten. Meine Lage erscheint mir dann nicht so aussichtslos und ich habe wieder die Hoffnung auf ein normales, nicht gelähmtes Leben. Diese Hoffnung ist zwar nur sehr klein, aber sie ist da und gibt mir die Kraft, nicht vollkommen zu verzweifeln und mich auzugeben. Und ich weiß, spätestens, wenn ich wiederflach im Bett liege, geht es mir wiederbesser und ich kann ein bisschen optimistisch sein und mich zumindest in meinen Gedanken mit anderen Dingen beschäftigen.
Heute ist meine Erinnerung an die Zeit auf der Intensivstation nur sehr verschwommen. Ich habewohl viel verdrängt. Zwar hätte ich gerne mehr Material für meinen Blog, aber die Erinnerung ist schmerzhaft. Ich bin wohl noch immer zu krank, um die traumatischte Zeit meiner Krankengeschichte wieder aufleben zu lassen. Dann müsste ich ja alles noch einmal durchleben, und dazu fehlt mir momentan die Kraft.
Natürlich werde ich weiterbloggen und alles, so gut ich kann, festhalten. Das kann ich inzwischen ja auch körperlich schon wieder recht gut. Mich festhalten. Das reduziert meine Angst hinzufallen, wenn ich aus dem Rollstuhl aufstehe.
Sicher liegt viel Wahres in dem Spruch "Man muss auch loslassen können", aber sagen Sie das mal einem Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom. Wir sind froh, wenn wir uns festhalten können.
Heute blicke ich mit viel Dankbarkeit auf die wunderbare Arbeit meiner Therapeuten Wolfgang, Alfred und den anderen zurück und kann es kaum glauben, dass sie es geschafft haben, mich aus dem Zustand der totalen Lähmung dazu zu bringen, dass ich diese Zeilen schreiben kann.

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