Mittwoch, 12. November 2014

Vom Leben und Überleben

Ich kann es mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, gesund zu sein und einfach gehen zu können. All die schönen Wege, die ich einst beschritten habe, sind nur noch Pfade der Erinnerung, auf denen meine Spuren verblassen. Die Spaziergänge am Attersee und an der Adria in Kroatien, den Rosenwind oder die Bora auf meinem Gesicht zu spüren. Das knirschende Geräusch von Schnee unter den Sohlen meiner Stiefel zu hören.
Und dabei atmen um zu leben, nicht nur um zu überleben.
All diese Selbstverständlichkeiten von früher erscheinen mir jetzt wie unwiederbringliche Schätze. Erlebnisse, die ich nicht einfach noch einmal haben kann. Auf einem Sessel zu sitzen, mich nach vorne zu beugen, die Hände auf die Oberschenkel zu legen und einfach aufzustehen. Einfach so. Als wäre es etwas Alltägliches und Bedeutungsloses. Nun, etwas Alltägliches ist es wohl, aber als etwas Bedeutungsloses werde ich diese Fähigkeit wohl nie wieder betrachten können. Und ganz bestimmt nicht als eine Selbstverständlichkeit.
Der Gedanke, dass ich zu Fuß ins Hauptgebäude zu den Therapien gehe oder ins Kaffeehaus, ist für mich zwar vorstellbar, und ich kann mich leicht vor dem inneren Auge sehen, wie ich das tue, aber ich glaube nicht, dass das jemals möglich sein wird. Es ist einfach zu lange her, dass ich normal gehen konnte. Man stellt es mir zwar in Aussicht, aber mir kommt es leichter vor, zum Mars zu fliegen, als auch nur einen einzigen Schritt zurück ins Leben zu machen.
Mein ganzes Leben lang war es für mich eine Selbstverständlichkeit, zu gehen und zu stehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich, falls ich durch einen Unfall oder eine Krankheit gelähmt sein sollte, davor Angst haben würde, das Gehen wieder zu lernen.
So unerträglich das Leben im Rollstuhl und mit einem Dauerkatheter auch ist, so sehr fürchte ich, den Schritt in die Selbstständigkeit zu machen. Ich habe bisher mit niemanden darüber geredet, und es hat mich auch nie jemand darauf angesprochen. In all den Monaten nicht. Kein Arzt, keine Krankenschwester, kein Pfleger, keine Therapeutin und kein Therapeut ist jemals auf die Idee gekommen, dass ich Angst davor haben könnte, wieder gesund zu werden und auf die Beine zu kommen. Alle gehen davon aus, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, wieder gesund werden zu wollen. Ich frage mich, ob es anderen Patienten auch so geht. Ob andere Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom oder einer ähnlichen Erkrankung die Freude am Gesundwerden und Gehen können anzweifeln?
Stellen sich andere Menschen auch die Frage, ob es einen Sinn hat, wieder gehen zu können, wenn man seinen Weg doch nicht findet?
Kein Mensch mit zwei gesunden Beinen würde mit mir tauschen wollen. Niemand würde ein freies Leben einem Dasein in Gefangenschaft im eigenen Körper vorziehen. Auch ich hätte das früher nicht getan und jeden für verrückt gehalten, der mir gesagt hätte, dass ich genau das einmal tun würde.
Und dennoch mache ich das. Wenn ich in der Früh verängstigt aufwache und mich vor dem fürchte, was mir der Tag bringen wird, wenn ich daran denke, dass ich wieder Stunden der Freudlosigkeit und Angst vor mir habe und wieder den ganzen Tag im Rollstuhl an meinem Schreibtisch sitzen und darauf warten werde, dass der Tag vorbei geht und ich wieder ins Bett kann, wo ich mich zumindest einigermaßen sicher fühle, ziehe ich dieses Überleben, das ich schon lange nicht mehr als Leben betrachten kann, doch einer ubgewissen Zukunft auf eigenen Beinen vor. Die Angst vor dem Bekannten ist leichter zu ertragen als die Angst vor dem Unbekannten.
Ich lebe nicht, ich überlebe. Trotzdem werde ich nicht aufgeben, meinen Weg zu finden.
Ich will nicht auf der Suche nach meinem Weg auf der Strecke bleiben.

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