Samstag, 13. Dezember 2014

Zufriedenheit tötet!

"Man muss zufrieden sein."
Diesen dummen Spruch haben Sie sicher auch schon oft gehört, oder? Ich werde Ihnen jetzt erzählen, warum die Zufriedenheit Sie umbringen kann. Körperlich, aber insbesondere seelisch. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf Patienten mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Sicher gilt das auch für so manche gesunde Menschen.
Wenn man sich einmal auf das reine Überleben beschränkt, ist das Resultat die totale Resignation. So schreibt der Autor und GBS-Patient David Dakroub in seinem E-Book "Don’t Settle for Surviving - You can Overcome CIDP and GBS too!", dass GBS-Patienten oft kurz vor dem Durchbruch aufgeben. Wenn sich ihr Nervensystem wieder erholt und die Myelinschicht fast wieder aufgebaut hat, legen sie die Hände in den Schoß und brechen die Therapien ab. Sie versinken in einem routinierten Tagesablauf, der ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand angemessen ist.
Der Grund dafür ist laut Dakroub der langsame Genesungsverlauf. Die Fortschritte sind zwar da, lassen aber lange auf sich warten, und dazwischen gibt es lange Phasen des Stillstands. Ich kenne diese Phasen nur allzu gut. Es lagen gute drei Monate zwischen der ersten millimeterkleinen Bewegung meines linken Zeigefingers und der Fähigkeit mit Müh und Not und einem Plastikring als Tellerschutz einigermaßen eine Gabel halten und selbst essen zu können. Ich erinnere ich mich, als ich nach einem halben Jahr Krankenhausaufenthalt am letzten Therapietag eine Dreiviertelstunde brauchte, um ein paar Stückchen Lachsfilet und einige kleine Kartoffeln zu essen. Querbettsitzend, an einen Schaumgummiwürfel gelehnt und unterstützt von der geduldigen Motivation meiner wunderbaren Ergotherapeutin Julia.
Es geht also voran. Warum aber scheitern so viele GBS-Patienten?
Nach meiner Erfahrung sind die drei Hauptgründe für die Resignation vieler GBS-Patienten:

• Der langsame Genesungsverlauf mit langen Phasen des Stillstands.
• Die scheinbar unbewältigbaren Hürden, die es zu überwinden gilt.
• Die Angst vor dem Scheitern.

Gerade der Stillstand, wenn wochen- und monatelang nichts weitergeht, ist so deprimierend. In diesen Phasen fing ich an, an allem zu zweifeln, was mir geholfen hat: Ich zweifelte an der Kompetenz der Ärzte, der Therapeuten, der Menschen, die versucht haben, mich aufzumuntern und zu motivieren, aber am meisten zweifelte ich an mir selbst.
Ich fragte mich, ob ich es überhaupt verdient habe, gesund zu werden und ob ich es wert bin, alle Hürden zu überwinden und als neuer, gesunder Mensch meinen Lebensweg weiterzugehen. Ich war in meinem Leben vor GBS nie ein besonders fleissiger oder umgänglicher Mensch gewesen. Ich konnte nie Freundschaften halten, weil ich sie nicht gepflegt habe, ich habe den größten Teil meiner Jugend mit fernsehen verbracht, ich war ein Nichtsnutz mit großen Erwartungen. Gut, als Grafiker und Autor war ich immer ziemlich talentiert, aber nie fleissig und kommunikativ genug, um aus meinen Begabungen etwas zu machen.
Und so wuchsen meine Selbstzweifel und Versagensängste. Immer mehr wurde ich zum Einzelgänger, fast schon Einsiedler. Diese Selbstzweifel, gepaart mit einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl, habe ich noch immer.
Aber inzwischen weiß ich, dass Selbstzweifel und mangelndes Selbstwertgefühl mich in die totale Resignation und Depression führen können, und so kämpfe ich dagegen an. Mit Affirmationen und den ständigen Blick auf meine Erfolge und Fortschritte. Ich weiß, dass es immer besser und besser wird. Aber oft kann ich nicht mehr daran glauben und verliere jede Hoffnung.
Immer noch. Nach eineinhalb Jahren Guillain-Barré-Syndrom. Ich glaube, dass es vielen Menschen mit dieser Krankheit so geht. Der Weg ist einfach so lang und scheint immer länger zu werden. Je weiter man kommt, desto mehr entfernt sich das Ziel.
Aber nur scheinbar. Die Hürden sind nicht unüberwindbar.
Liebe GBS-Leidensgenossen, denkt immer daran. Der Weg zurück ins Leben wird nicht länger, sondern kürzer und das Ziel entfernt sich nicht, sondern rückt immer näher heran. Das eigentliche Problem, das man bei der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom hat, ist, dass man den Ausweg aus den Augen verliert.
Das Ziel verschwimmt, wenn man Tränen in den Augen hat.
Was, wenn es nicht klappt? Was, wenn ich nie wieder gesund werde?
Fragen, die ich mir oft gestellt habe und immer noch stelle. Was ist, wenn die Fortschritte so deutlich sind, die Nerven- und Muskelaktivität immer besser wird, alle sagen, dass "es wieder wird" und man eigentlich nichts mehr zu befürchten hat, sich aber trotzdem nichts zu ändern scheint und man glaubt, am Ende des Weges in den Abgrund zu stürzen?
Je mehr Fortschritte ich im Laufe der letzten eineinhalb Jahre gemacht habe, je besser ich mich bewegen konnte, je einfacher es für mich geworden ist, nach Gegenständen zu greifen und je leichter es mir im Moment, im Dezember 2014, fällt, aus dem Rollstuhl aufzustehen, desto größer wird meine Angst, dass doch noch etwas schiefgehen könnte. Aus diesem Grund, und weil sich zwischendurch alles so in die Länge zieht, geben viele Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom kurz vor dem Ziel auf und resignieren. Sie verfallen in eine Lethargie und arrangieren sich mit ihrem Zustand.
Nach dem Motto "Besser ewig hoffen als schnell scheitern" geben sie sich damit zufrieden, im Rollstuhl zu sitzen und in Selbsthilfegruppen über ihre Krankheit zu reden, anstatt weiter dagegen anzukämpfen. So wollte und so will ich nicht enden.
Ich will wieder vollständig auf die Beine kommen. Ich will gehen und laufen und springen und schwimmen und stehen und mich hinsetzen und wieder aufstehen können.
Wieder aufstehen.
Oft plagen mich Ängste und Depressionen. Oft vermeide ich das Training außerhalb der Therapiezeiten, weil ich befürchte, ich könnte damit irgendetwas auslösen, insbesondere Probleme mit meinem Katheter. Dann aber wird mir sofort wieder bewusst, dass ich nicht in ein gesundes Leben zurückkehren kann, wenn ich so viele Umwege mache. Das gibt mir zwar nicht den nötigen Motivationsschub, um mich zu schinden, aber es hält mich wenigstens so weit aufrecht, dass die Fortschritte weitergehen.
Aufstehen und weitergehen. Das wünsche ich mir für mich selbst und allen Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom.

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