Samstag, 6. Dezember 2014

Der Geisterarm

In meiner Zeit auf der Intensivstation hatte ich eine Menge unheimlicher Träume und möglicherweise sogar Halluzinationen. Das ist für Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom typisch. Was die Albträume und Halluzinationen verursacht ist unbekannt. Es könnten die Medikamente sein oder einfach nur eine Begleiterscheinung der Krankheit.
Interessanterweise hörten diese Träume und Vorstellungen an dem Tag auf, als ich von der Intensivstation auf die Neuro verlegt wurde. Auch während meiner Reha am Gmundnerberg, sowie hier in Altenhof am Hausruck gab es keine Albträume und Halluzinationen mehr. Ich schlafe sehr gut, nur meistens viel zu kurz. Inzwischen habe ich mich aber an fünf Stunden Schlaf pro Nacht gewöhnt.
Den folgenden wiederkehrenden Traum schildere ich, weil er für GBS-Patienten typisch zu sein scheint. Der am Guillain-Barré-Syndrom erkrankte Autor Italo Giovanni Savella schreibt in seinem E-Book "Up from the Abyss  - A journey of personal redemption from the ravages of Guillain-Barre syndrome" über ähnliche Träume und Einbildungen wie ich sie hatte. Dazu gehört auch die im vollen Wachzustand gefühlte Empfindung, die eigenen Beine seien am Bettrand abgewinkelt und hingen auf den Boden. Ich war lange Zeit davon überzeugt, dass das die Wirklichkeit war. Als ich schließlich erfuhr und zur Kenntnis nahm, dass meine Beine ausgestreckt unter der Decke lagen, fühlte es sich für mich trotzdem noch immer so an. Vor meiner Erkrankung hatte ich diesen Traum nie. Zumindest erinnere ich mich nicht daran, glaube es aber nicht.
Das menschliche Bewusstsein und das Unterbewusstsein sind zwei merkwürdige Gesellen. Aber besonders faszinierend ist für mich, dass ich offenbar nicht der einzige Mensch mit Guillain-Barré-Syndrom bin, der solche Träume und Eindrücke hatte. Gerade, weil sie so spezifisch sind. Ich frage mich, ob auch andere GBS-Patienten davon träumten, mit einem zähflüssigen schwarzen Klebstoff mit bestimmten Dingen wie Kugelschreiber oder Handys verbunden zu sein. Auch diese Träume hatte ich oft, genauso wie diejenigen, in denen ich zu Notoperationen in irgendwelche Privatwohnungen gebracht wurde, wo dann an meinen Gedärmen herumgeschnitten wurde. Ich bekam dabei die Schmerzen mit und wurde jedesmal ohne Narkose operiert, weil ich entweder allergisch dagegen war oder sie einfach nicht wirkte. Da ich mich nicht bewegen konnte, war ich völlig hilflos.
Doch nun zum Geisterarm.
Ich glaubte, an meiner rechten Körperseite zwei Arme zu haben. Meinen richtigen, gelähmten und direkt darüber noch einen zweiten, den ich ein bisschen anheben konnte. Ich nannte ihn meinen "Geisterarm". Die Finger konnte ich ebenfalls bewegen. Ich war glücklich darüber, und mein richtiger Arm, den ich nicht einen einzigen Zentimeter anzuheben vermochte, geriet bald in Vergessenheit. Ich freute mich so sehr darüber, dass es mir besser ging und ich auf dem Weg zur Heilung war.
Heute weiß ich nicht mit Sicherheit, ob das nur Träume waren, oder ob ich Halluzinationen hatte. Ich konnte meine Muskeln spüren, die Bewegungen, die ich machte, die Gegenstände, nach denen ich griff. Ich sagte zu einer Krankenschwester, dass ich meinen Arm heben konnte und demonstrierte es ihr. Sie sagte: "Gar nichts können Sie. Sehen Sie doch hin, Ihr Arm liegt tot neben Ihnen."
Ich blickte nach rechts und sah meinen nackten Arm, wie er schlaff und leblos auf der Matratze lag. Der Geisterarm war verschwunden. Ich erschrak, und Traurigkeit überkam mich. Ich glaube, dass das Gespräch mit der Krankenschwester ein Traum war, aber ganz sicher bin ich mir nicht.
Der Geisterarm verschwand. Ich sah ihn niemals wieder. Auch die Lähmung in meinen Armen ist mittlerweile verschwunden.
Was bleibt ist die Erinnerung an eine Zeit des totalen körperlichen und seelischen Stillstands. Eine Statue aus Fleisch, Blut und toten Nerven zu sein.
Aber das Wichtigste, von dem ich mit Sicherheit weiß, dass es keine Halluzination ist, ist der Traum, wieder normal gehen zu können.
Der Traum vom Gesundwerden.

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