Samstag, 20. Dezember 2014

Kriegsfeind Körper

Mein Körper führt einen Krieg gegen mich.
Das war eine meiner ersten Erkenntnisse nach der Diagnose Guillain-Barré-Syndrom. Mein eigenes Immunsystem richtet sich gegen mich und zerstört meine Nerven. Es reagiert so stark auf einen unsichtbaren Angreifer, dass es den Kollateralschaden, den es anrichtet, nicht sieht.
Um den Feind zu töten, zerstört die Armee das eigene Heimatland. Genau das ist es, was das Guillain-Barré-Syndrom einem Menschen antut. Es hetzt das Immunsystem gegen den eigenen Körper auf. Die Leitfähigkeit der Nerven wird beeinträchtigt, und der Körper verfällt in Lähmung. Es ist eine Art Blitzkrieg, den das Immunsystem führt, und die gesamte Heimat verfällt in eine Schockstarre.
Beinahe auch meine Lunge. Nur durch künstliche Beatmung konnte ich am Leben gehalten werden. Durch eine Darmsepsis wäre ich fast verblutet. Monate später hatte ich eine Tiefenvenenthrombose, die eine Lungenembolie hätte auslösen können. Das ist sogar eine der häufigsten Todesursachen bei GBS-Patienten.
Monatelang habe ich an die Decke des Krankenhauszimmers gestarrt, eingesperrt in einem Kopfleben. Ich konnte sprechen, wurde aber sprachlos. Zum Teil bin ich es heute noch. Es handelt sich dabei zwar um keinen organischen Schaden, aber die Krankheit hat mir die Sprache verschlagen. Ich rede nicht gern. Ich schreibe lieber.
Ich liege im Bett in meinem Zimmer im Behindertendorf Altenhof und frage mich, was die Zukunft mir bringen wird. Tagsüber lese ich E-Books, liege im elektrischen Rollstuhl mit einem Kissen unter dem Kopf. Ich fahre mit dem E-Rolli in den kleinen Speisesaal. Zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendessen. Auch dort rede ich nur, wenn ich etwas gefragt werde.
Ich bin oft sehr traurig, weil ich an meine tote Mutter denken muss. Sie ist im August gestorben. Ich bin hier von wunderbaren, hilsbereiten Menschen umgeben, und bin trotzdem allein. Das kann ich. Das ist ein spezielles Talent, dass ich schon seit Kindertagen habe. Ich kann unter vielen Menschen völlig allein sein.
In meinem Kopfleben.
Der Krieg nähert sich dem Ende. Die Einschläge sitzen tief in meiner Seele. Der Donnerhall der Bomben, die das Immunsystem auf mich abgefeuert hat, klingt noch nach. Er weird zwar leiser, aber der Pulverdampf liegt noch in der Luft. Ich werde wohl wieder gesund werden. Wieder gehen können. Wieder zeichnen. Wieder normal leben. Als hätte ich das jemals getan. Trotzdem gibt es noch keinen Waffenstillstand mit meinem Körper.
Meine Hände, mit denen ich mein ganzes Leben lang so viel gezeichnet, gemalt und geschrieben habe, haben mich verraten. Sie sind einfach desertiert. Im Krankenhaus habe ich mit ihnen geredet. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht gerne gezeichnet haben. Ob das nicht wunderschöne Stunden waren, als die Zeit stillstand und nichts existierte außer uns, einem Blatt Papier und einem Bleistift. Sie haben nicht geantwortet.
Aber jetzt tun sie es. Sie sprechen zwar nicht, aber sie schreiben wieder.
Und sie zeichnen. Zwar noch wacklig und kritzlig, aber sie zeichnen.
Auch meine Beine bewegen sich wieder. Vorgestern konnte ich im Stand 160 Schritte machen. Ich hielt mich dabei an zwei an der Wand befestigten Stützstangen fest. Vor einem Jahr, als ich auf Reha am Gmundnerberg war, konnte ich meine Beine noch nicht einmal so weit anheben, dass ich sie auf den Fußplatten des Rollstuhls richtig platzieren konnte. Ich konnte auch noch lange nicht stehen.
Viele Stunden haben mich diese Beine früher durch das Meer getragen. Durch die Adria in Istrien und durch den Attersee. Ich habe meine Beine gefragt, ob sie nicht wieder schnorcheln möchten. Jetzt, wo es mit den Bewegungen und der Muskelaktivität so gut klappt, bin ich mir sicher, dass sie wollen. Sie sprechen halt nicht. Na ja, sind ja auch meine Beine. Ich bin ja auch kein großer Redner.
Und da auch in traurigen Geschichten oft ein Funken Humor glimmt, möchte ich noch erwähnen, dass der besondere Schweregrad meiner Erkrankung mit dem Guillain-Barré-Syndrom nicht daran liegt, dass mein Immunsystem so schwach war. Die vollständige Lähmung meines gesamten Körpers vom Hals bis zu den Zehenspitzen über einen Zeitraum von einem guten halben Jahr ist auf die Stärke meines Immunsystems zurückzuführen.
Je stärker das Immunsystem, desto schwerer die Auswirkungen des Guillain-Barré-Syndroms.
Das ist doch ein Witz, oder?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn sie das lesen, aber mir bleibt das Lachen im Hals stecken. Mein Humor ist aber trotzdem noch da. Und die Funktionen meiner Arme und Beine ebenfalls, wenn auch noch nicht vollständig.
Also, wieder einmal mein Rat an alle GBS-Patienten:
Gebt nicht auf! Gebt niemals, niemals, niemals auf!
War is over, if you want it!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!