Samstag, 10. Januar 2015

Der untote Kopf

Ich schreie. Ich wache auf. Es ist dunkel. Ich bin allein. Ich bin erstarrt. Mein Körper ist tot. Es ist kein Traum. Ich höre die Geräusche der Geräte. Mein Blut summt in meinem Kopf.
»Schwester!« schreie ich. Die Station der Krankenschwestern ist direkt vor meinem Zimmer, aber sie hören mich oft nicht. Ich bin durstig. Sie werden mir kein Wasser geben. Sie werden mich nicht einmal hören. Meine Stimme ist schwach. Sie werden mir nicht helfen. Die Angst steigt in mir auf, ist noch tausemndmal schwärzer als die Dunkelheit um mich herum.
Ich liege und warte. Ich bin 43 Jahre alt und fürchte mich wie ein kleines Kind. »Warum ist alles so gekommen?« Frage ich mich. In meinem Kopf schwirren Gedanken und Ängste, und ich spüre Beklemmung. Ich weiß, dass ich wieder einschlafen werde. Ich werde wieder träumen, dass man mich entführt, foltert, operiert, lebendig begräbt. Und ich werde wieder aufwachen. Und schreien. Vor Schmerz, wenn der Meissel in meine Knochen fährt. Ich werde vor lauter angst schreien und vor Verzweiflung, wenn ich mich wieder an den ganzen Wahnsinn meines Lebens erinnern werde.
Mein Leben lang war ich träge, energielos und faul. Jetzt bin ich lahmgelegt. Jetzt, da ich regungslos wie eine Statue in einem Krankenhausbett liege, weiß ich es zu schätzen, wie es ist, wenn man auch nur einen Finger bewegen kann. Wie unersetzbar unser menschlicher Körper doch ist und wie leicht man ihn verliert.
Mir wird bewusst, dass ich lernen muss, meinen Körper aufzugeben. Werde ich das können, ihne total zu verzweifeln oder wahnsinnig zu werden? Werde ich mich damit abfinden können, dass ich den ganzen Rest meines Lebens nichts anderes werde bewegen können als meine Augen und den Kopf?
Den Geist aufzugeben ist leicht. Man macht die Augen zu und schläft ein. Zumindest vorübergehend.
Aber wie gibt man seinen Körper auf? Nicht, indem man stirbt, sondern, indem man die Tatsache akzeptiert, dass der ganze Körper ein gelähmter Untoter ist? Ich schiebe diesen Gedanken weg. Ich werde meinen Körper nicht aufgeben. Die Ärzte sagen, es wird wieder. Aber es dauert. Ich glaube ihnen...kein Wort. Ich will ihnen glauben, aber das einzige, was ich wirklich glaube, ist, dass sie einfach abwarten, bis ich mich an meinen Zustand gewöhnt habe. Dann werden sie zu mir kommen und sagen: »Sie sind jetzt stark genug, um die Wahrheit zu erfahren. Sie werden den Rest Ihres Lebens gelähmt bleiben. Am ganzen Körper. Vom Hals abwärts.«
»Tja, so ist es«, werden sie sagen. »Sie werden das ganze Leben lang nichts anderes mehr sein als ein Kopf. Es wird nicht wieder. Wir wollten Sie schonen, darum haben wir ihnen nicht die Wahrheit gesagt.«
Genau so wird es sein. So wird es kommen. In der Dunkelheit des piepsenden, zischenden und pumpenden Zimmers der Intensivstation wird mir klar: Ich werde mich nie wieder bewegen können. Ich werde für alle Zeiten gelähmt bleiben. Dieser Samen der Angst fällt auf dem Acker meiner Kopflebenswelt sofort auf fruchtbaren Boden, wähchst und gedeiht, schlägt Wurzeln in meinem Hirn und erblüht zu einem schwarzen, stinkenden Baum voller fauliger Früchte.
Ich weine und weiß, dass ich für meine Tränen werde büßen müssen. Sie werden in meinen Augen die ganze Nacht brennen, weil ich sie mir nicht abwischen kann.
Der weinende untote Kopf liegt in der Finsternis.
»Morgen geht die Sonne auf«, denkt er.
   

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