Samstag, 3. Januar 2015

Mein Leben ohne Körper

Ich liege am Rücken. Über mir ist die weiße Decke der Intensivstation. Es ist still. Bis auf das Piepsen der Geräte, die mich am Leben halten. Ich bekomme eine Dialyse. Ich drehe meinen Kopf so weit ich kann nach links und sehe, wie mein Blut durch einen Schlauch in eine Kasten fließt. Mein Herz wird überwacht. Ich habe verschiedene Infusionen. Überall Schläuche. An meinem Bauch hängt ein Plastiksack, ein Stoma. Ich sehe ihn nicht, aber ab und zu höre ich ihn.
Ich kann meinen Kopf bewegen. Und meine Augen. Sonst nichts. Es ist Tag. Ich weiß die Uhrzeit nicht. Es ist niemand da. Ich bin völlig allein. Ich weiß, dass sie wieder kommen werden. Die Schwestern, die Pfleger, die Ärzte. Sie werden mir helfen. Ich bin dankbar dafür.
Ich denke an meine Zukunft. Aber da ist nichts. Mein Leben wird weitergehen. Aber wie? So wie jetzt? Vollkommen gelähmt? Unfähig, eine einzige Bewegung zu machen? Meinen Körper spüre ich nicht. Ich bin ein Kopf. Mehr bin ich nicht. Ich habe einen Körper. Glaube ich. Aber ich spüre ihn nicht.
Ich spüre nur Schweiß und Tränen in meinen Augen. Ich bin tot, denke ich. Ich bin kein Mensch mehr. Ich weiß, dass es so bleiben kann. Vom Hals abwärts gelähmt. Es wird wieder, sagen sie. Aber es dauert. Wie lange? Keiner weiß es. Oder wollen sie es mir nicht sagen? Wissen sie, dass es nicht wieder werden wird? Wissen sie es, aber sagen es mir noch nicht? Werde ich ein Kopf bleiben? Für den Rest meines Lebens? Ich bin 43. vielleicht werde ich 100. vielleicht verbringe ich die nächsten endlosen Jahrzehnte damit aus meinem Kopf an die Zimmerdecke zu starren.
Wie soll ich mich töten? Oder will ich weiterleben? Noch will ich das. Es wird ja wieder. Aber es dauert. Und wenn nicht? Wie bringe ich mich um? Mit einem elektrischen Rollstuhl mit Mundsteuerung von einer Klippe stürzen. Mir ist klar, dass das undurchführbar ist. Wie sonst? Mir fällt nichts ein. Nein, ich will weiterleben. Ich will wieder gesund werden. Ich will wieder schnorcheln gehen. Selber essen. Gehen. Laufen.
Aber wann? Wie lange wird es dauern? Wird es morgen besser sein? Werden die Physiotherapeuten ein Wunder vollbringen? Wie heißt meine Krankheit? Woher habe ich sie? Werde ich nach Hause zurückkehren? Was wird mit mir? Sterbe ich doch?
Vielleicht wache ich morgen nicht mehr auf. Ein Trost. Ja. Das wäre schön. Aberich weiß, dass ich aufwachen werde. Ich werde an die Zimmerdecke schauen. Ich werde daran denken, dass es wieder wird. Aber es dauert. Wie heißt meine Krankheit?
Ich träume. Davon, gelähmt in einem Wohnwagen in der Wüste zu liegen. Es gibt kein Wasser. Ich werde mit dem Bett in einen Aufzug geschoben. Ich fahre in den Keller. Dort rollt mein Bett in einen düsteren, schmutzigen Raum. Ein dicker unrasierter Mann kommt auf mich zu in einer Hand hält er ein riesiges Messer. Ich weiß, was er jetzt tun wird. Er wird in meine Beine schneiden. Ich weiß, dass es kein Traum ist und kann nichts dagegen tun. Dann beugt er sich über mich und beginnt, Teile aus dem Fleisch meiner Beine zu schneiden. Ich spüre es. Ich spüre alles. Ich schreie.
Ich wache auf. Ich werde von einem Pfleger gewendet, damit ich mich nicht wundliege. Ich habe Angst. Es tut weh. Ich will nicht weiterleben. Dann schlafe ich wieder ein und weiß, dass ich weiterträumen werde.
Jetzt bin ich wieder wach. Wahrscheinlich. Oft bin ich mir nicht sicher, ob ich wache oder träume oder beides gleichzeitig. Ich habe einen Lappen auf meiner Brust. Eine Krankenschwester sitzt neben meinem Bett und füttert mich mit geschnittenem Fleisch. Ich glaube, es ist Pute. Oder sind es meine Beine? Dazu gibt es Nudeln und Sauce. Es schmeckt mir sehr. Das Leben ist doch ganz schön, denke ich mir und weiß, dass ich mich selbst belüge. Es piepst. Mein Blut rinnt durch den Schlauch.
Ich habe Durst. Ich darf nichts trinken, weil ich an der Dialyse. Hänge. Mein Mund ist trocken und meine Kehle tut weh. Ich will Wasser. Einen Schluck. Manchmal schlucke ich heimlich beim Zähneputzen etwas. Man merkt es. Man sagt mir, dass ich das nicht darf. Trotzdem tue ich es. Ab und zu.
Sie haben alle recht. Leider. Heute weiß ich das. Ich wäre gestorben. Mehrfach. Nierenversagen. Sepsis. Darmblutungen. Lungenversagen. Herzversagen. Und noch ein paar. Tiefenvenenthrombose. Sie haben mir das Leben gerettet. Alle. Nicht nur die Ärzte.
Auch die Putzfrau. "Mit ein bisschen Wünsch geht alles", hat sie gesagt. Ich habe mich immer gefreut, wenn sie hereingekommen ist, um den Boden aufzuwischen. Sie war um die vierzig. Locken. Ich glaube, sie hieß Sadita oder so ähnlich. Sie hat mich immer aufgemuntert. Zumindest meinen Kopf. Es gibt wunderbare Menschen. Danke, Sadita.
Aber sie alle haben nicht mein ganzes Leben gerettet. Ein Teil von mir ist gestorben. Der alte Markus, oder genauer gesagt, der junge. Der unbeschwerte und fröhliche Markus Gregory. Der ist tot. Glaube ich. Vielleicht doch nicht. Oft denke ich mir, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich bin ja schon tot. Aber die Thrombose hat mich eines Besseren belehrt. Ich will doch wieder aufwachen. Jeden Tag. Ich hätte an einem winzigen Blutgerinnsel sterben können. Wie lächerlich. Wie absurd.
Der Tod ist kein Gerippe. Auch kein Alien. Er sieht auch nicht aus wie Brad Pitt. Er hat keine scharfen Zähne und keine Sense in seinen Knochenhänden.
Der Tod ist ein Klumpen Blut, kleiner als eine Semmelbrösel. Eine merkwürdige Erkenntnis. Der Tod ist klein. Vielleicht ein Virus. Oder ein Bakterium. Oder irgendein Scheißantikörper, der die Nervenschicht frisst.
Ein Antikörper. Ein passendes Wort für den Tod.
Ich war ein Antikörper.
Ich war nur ein Kopf.
Mein Leben mit dem Guillain-Barré-Syndrom war ein Kopfleben. Aber jetzt wacht der Körper wieder auf. Wieder aufwachen. Jeden Tag. Ja, jeden Tag wieder aufwachen.
Genau so, liebe GBS-Leidensgenossen. Genau so machen wir das.
Wir wachen wieder auf.

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