Samstag, 17. Januar 2015

Im Berglabyrinth

Der Berg wird immer höher, je näher man ihm kommt.
Zumindest erscheint es einem so. Aus weiter Ferne betrachtet, sieht jeder Berg aus wie ein Stein. Aber nähert man sich ihm, scheint er zu wachsen, immer größer und bedrohlicher zu werden. Und steht man schließlich an seinem Fuß, erscheint einem der Gipfel unerreichbar.
Beginnt man mit dem Aufstieg, wird es immer schwerer, je weiter man kommt. Scheinbar entfernt sich das Ziel. Der Berg am Horizont ist winzig, aber der Horizont am Berg ist unendlich. Man verliert die Orientierung auf dem Weg. Man verliert seine Sinne oder sogar seinen Verstand.
Manche verlieren ihr Leben.
Der Weg ist das Ziel, sagt man. Was aber, wenn der Weg immer länger wird, während man ihn beschreitet? Und immer steiniger? Und steiler? Verliert man dann das Ziel aus den Augen, weil man den Weg nicht mehr sieht und sich verirrt? Oder sind alle Wege Labyrinthe?
In einem Labyrinth kann man sich nicht verirren. Der Weg führt auf vielen Verschlingungen letztlich ins Zentrum. Oder aus dem Zentrum heraus, zurück in die Freiheit. Labyrinthe werden oft mit Irrgärten verwechselt. Die. Haben tatsächlich Sackgassen. Man kann darin verloren gehen. Und man kann darin sterben.
Ich bin weder ein Bergsteiger, noch war ich jemals in einem Labyrinth.
Aber die Irrgärten kenne ich.
Meine Krankheit ist einer davon. Genaugenommen ist sie alles von dem.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist ein Irrgarten, das in ein Labyrinth mündet, welches zu einem scheinbar unbezwingbaren Berg führt.
Zuerst war die Intensivstation. Mein Irrgarten. Dort war ich verloren, verwirrt und orientierungslos. Auf der Neuro, dem Labyrinth, wusste ich, dass der Weg ins Freie führt, aber ich verlor den Überblick, glaubte nicht an das Ziel, zu dem dieser Weg führte. Schließlich sah ich mitten in diesem Labyrinth den Berg. Er war nicht sehr hoch, erschienmir aber unbezwingbar. Ich hatte große Angst, ihn zu besteigen. Es war sogar buchstäblich ein Berg. Der Gmundnerberg am Traunsee. Ihm gegenüber der Traunstein. Ein riesiger, bedrohlicher Brocken. Dort, am Gmundnerberg im Reha-Zentrum begann der Aufstieg aus dem Labyrinth. Nach und nach meldeten sich immer mehr Körperfunktionen zurück. Die Arme, die Hände, die Beine, die Füße. Das Ziel, der Gipfel, rückte immer näher.
Und jetzt bin ich in Altenhof. Der Aufstieg geht weiter. Meine Körperfunktionen sind alle so gut wie wiederhergestellt, ich müsste nur viel mehr trainieren. Aufstehen kann ich. Im Stand schaffe ich mit festhalten 160 Schritte. Trotzdem bin ich gerade in einer Phase, in der meine Motivation stagniert. Je näher ich dem Gipfel komme, desto weiter entfernt scheint er mir. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass der Rollstuhl seit der Kindheit in meiner Vorstellung etwas Schicksalshaftes und Endgültiges hat. Damals habe ich die Menschen bemitleidet, die in Rollstühlen saßen, aber ich hätte nie gedacht, dass ich selbst einmal in einem landen würde.
Für mich war ein Rollstuhl immer etwas, aus dem man nicht mehr rauskommt, wenn man erst einmal drinsitzt. Und obwohl ich mittlerweile mühelos aufstehen kann, kommt diese Vorstellung zurück, sobald ich mich wieder hinsetze. Der Gedanke, endgültig aus dem E-Rolli aufzustehen und ihn nie wieder zu brauchen, erscheint mir absurd, obwohl ich weiß, dass er das nicht ist. So blockieren mich meine eigenen vorgefassten Meinungen.
Ich befinde mich wohl gerade an dem Punkt, an dem viele GBS-Patienten aufgeben, resignieren und den Rest ihres Lebens im Rollstuhl bleiben. Trotz aller Fortschritte und Erfolge glauben sie nicht mehr an die Erreichbarkeit des Berggipfels. Sie haben aus dem Irrgarten und aus dem Labyrinth herausgefunden, mit dem Aufstieg zum Gipfel begonnen und sehen jetzt einen Weg, der immer länger und steiniger wird. Also verharren sie. Mit ihrem eigenen Stillstand wird auch der Weg nicht mehr länger und die spitzen Steine stechen ihnen nicht mehr in die Fußsohlen. Ich schrieb bereits darüber in meinem Blog-Artikel "Zufriedenheit tötet!"
Wenn man diesen Punkt erreicht und verharrt, stirbt man. Nicht körperlich, aber seelisch. Die Seele stirbt. Heißt es nicht irgendwo in der Bibel, das sei der zweite Tod?
Müssen. Weiter. Kämpfen. Worte, die man als Mensch mit GBS oft hört. Zu oft vielleicht. Zu gut gemeint. Zu viel doch nur helfen wollen. Um mich herum dreht sich alles. Die Luft ist verpestet mit Engeln. Helfende Hände packen mich und zerren mich in den Abgrund. Ich werde mit Ratschlägen niedergeknüppelt. Ich werde aufgemuntert bis zur totalen Erschöpfung. Ich werde zu einer Ruine aufgebaut. Integriert bis zur vollkommenen Selbstentfremdung. Totgeheilt.
Solche Gedanken hatte ich. Früher. Im Irrgarten und im Labyrinth. Jetzt nicht mehr.
Jetzt sehe ich, dass der Weg tatsächlich bergauf geht.
Geht.
Gehen.
Wieder beende ich einen Text mit einem Aufruf an alle Menschen, die am Guillain-Barré-Syndrom leiden, an deren Angehörige und Freunde:
Gebt nicht auf! Geht weiter! Fürchtet euch nicht!
GBS gilt zwar offiziell als unheilbar, das liegt aber nur daran, dass man den Verursacher nicht kennt. Heilen kann man nur eine Krankheit, aber nicht ein Syndrom. Wortklauberei, sicher.
Aber die Symptome vergehen wieder. Sie lösen sich auf wie die Wolken, die den Blick auf den Gipfel des Berges verdecken. Vergessen Sie das nicht!
Der Berg namens Guillain-Barré-Syndrom ist bezwingbar.
Hoffnung schwingt sich himmelwärts.

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