Samstag, 24. Januar 2015

Der Weg und der Mut

Ich wache auf. Es ist sechs Uhr Früh. Ich habe keine Uhr im Blickfeld, und nach meiner Armbanduhr am Beistelltisch der Station Neurologie kann ich nicht greifen. Meine Arme und Hände sind gelähmt. Ich weiß es einfach. Ich wache jeden Tag Punkt sechs Uhr auf und schlafe jeden Tag Punkt dreiundzwanzig Uhr ein. Ich bin mein eigenes Uhrwerk. An meine Träume erinnere ich mich nicht mehr seit ich auf der Neuro bin. Das ist gut so. Auf der Stroke Unit der Intensivstation konnte ich oft zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Und die Träume dort waren grauenhaft.
Die Tür zum Krankenzimmer geht auf und Pfleger Christoph kommt herein. Er ist ein stämmiger, sehr sympathischer Mann, der immer gut aufgelegt ist. Ich nehme es ihm ab. Er hat nichts Gekünsteltes an sich.
"Guten Morgen!", sagt er. "Jetzt kommt die Guten-Morgen-Biene-Maja." Er meint die Spritzen, die er jetzt verteilen wird. Ich werde eine zur Thromboseprophylaxe bekommen. Christoph macht seine Runde und scherzt mit den Patienten, die dazu aufgelegt sind. Ich gehöre nicht dazu, was ich im Inneren bedaure, weil ich mag Christoph. Er ist nicht nur humorvoll, sondern auch sehr kompetent und hat eine Art, die auf mich sehr beruhigend wirkt.
Nach ihm kommt eine Krankenschwester und teilt das Frühstück aus. Die anderen Patienten steigen aus ihren Betten und setzen sich zum Tisch beim Fenster. Ich bleibe liegen. Eine Angewohnheit von mir, seit ich am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt bin. Ich bekomme einen Becher Kaffee mit Milch und Zucker und eine Semmel mit Butter und Marmelade. Außer am Sonntag, da gibt es Milchbrot und Honig. So richtig verstanden habe ich nie, warum es nur am Sonntag Honig gibt, aber es ist mir auch egal. Beides ist süß und macht mir das Leben ein bisschen leichter. Früher war ich kein großer Freund von Süßigkeiten, aber das hat die Krankheit geändert. Jeden Abend, nachdem man mich mit Vanillepudding gefüttert hat, denke ich "jetzt gibt es erst zum Frühstück wieder was Süßes. Bis dahin muss ich es aushalten." Ich halte es aus. Der Pudding ist für mich zu einem Sinnbild des Überlebens geworden. Wieder einen Tag überstanden. Wieder einen Tag überlebt.
Diplomschwester Carina schneidet mir das Brot in kleine Häppchen und gibt es mir ein. Das Wort füttern wird ja nie verwendet. Damit sich die Patienten nicht fühlen wie Kinder. Man bekommt auch keine Windeln, sondern Einlagen. Ich kaue das Brot langsam und lege die Seite mit der Marmelade zuerst auf die Zungenspitze, um den süßen Geschmack besser wahrnehmen zu können. Carina ist eine junge schlanke Frau. Auch sie hat viel Humor und eine sehr aufheiternde Art. Ich bin immer froh, wenn solche Schwestern oder Pfleger kommen. Mein Leben ist trostlos genug.
Carina sagt mir, dass ich ein bisschen aufrecht sitzen bleiben soll. Zur Verdauung, wegen der Lunge und wegen dem Herz. Meine rechte Hüfte sagt mir, dass ich mich flach hinlegen soll und verspricht mir, mir dann nicht mehr weh zu tun. Ich bleibe ein paar Minuten sitzen. Die dumpfen Schmerzen treiben mir den Schweiß ins Gesicht. Carina kommt zurück und klappt den Rückenteil des Bettes wieder um. Ich bin erleichtert. Ich kann die Knöpfe am Seitengitter des Bettes nicht selbst bedienen. Ich kann ja meine Arme und Hände nicht bewegen. Erst Monate später soll es mir gelingen, das mit den Ellbogen zu machen, aber dabei kippe ich oft zur Seite weg und kann mich nicht mehr aufrichten, was die Schmerzen noch schlimmer macht. Manchmal bin ich dabei allein im Zimmer und kann den Glockenknopf für den Notruf nicht erreichen. Mir bleibt dann nichts anderes übrig als zu warten, den Schmerz zu ertragen, zu schwitzen und mich zu fragen, warum ich bei meiner Darmsepsis und den schweren Blutungen während der Operation nicht gestorben bin.
Aber jetzt liege ich und weiß, dass das nicht lange so bleiben wird. Es ist knapp sieben Uhr, und um neun kommt die kleine, quirlige und über alle Maßen geniale Martina, meine Ergotherapeutin. Schon auf der Neuro hat sie mir beigebracht, wie man als gelähmter Mensch, der im Grunde nur aus einem Kopf besteht, ein Papiertuch über ein Tablett wischt. Sie hat kurzes dunkles Haar und eine lustige lila Brille. Immer, wenn Martina das Zimmer betritt, fühle ich mich wohl. Sie motiviert mich und gibt mir Mut und Hoffnung. Danke, Martina.
Wir machen unsere Übungen. Sie bewegt meine Arme und Hände durch, massiert die Haut, die Muskeln und die Nerven. Was genau sie macht, weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur, dass ich nach etwa drei Monaten meinen linken Zeigefinger ein paar Millimeter hin- und herbewegen kann. Die Therapieeinheit dauert nur eine halbe Stunde. Von mir aus könnte Martina den ganzen Tag bleiben. Sie gratuliert mir für das, was ich geschafft habe, wünscht mir noch einen schönen Tag und verabschiedet sich bis morgen.
Hinlegen. Warten. Um elf Uhr Physiotherapie. Wolfgang und Christine kommen herein. Christine hat große braune Augen, einen sehr offenen Blick und rötliches kurzes Haar. Wenn sie mich anlächelt glaube ich, allein schon davon geheilt zu werden, und ich hasse mich heute noch dafür, dass ich später immer wieder das Querbettsitzen beim Essen verweigert habe, weil es mir zu mühsam war. Christine war enttäuscht.
Sie hebt meine Arme über den Kopf und streckt sie nach hinten durch. Allerdings nicht sehr weit, denn es tut so weh, dass ich mir die Hüftschmerzen zurückwünsche. Sie sagt, dass das aber immer besser gehe. Jedes mal komme sie ein Stück weiter mit meinen Händen in Richtung Wand. "Vielleicht werde ich doch wieder gesund", denke ich. Solche Kleinigkeiten bedeuten mir die Welt.
Wolfgang hebt meine Füße und Beine an, knickt sie ab, beugt und streckt sie. Auch das tut weh, aber es muss sein. Den Schmerz spüre ich aber nicht in der Muskulatur, sondern hauptsächlich in der Hüfte. Später, wenn meine Empfindungen und die Nervenaktivität besser werden, werde ich es auch in den Waden spüren, besonders, wenn ich im Stryker stehe und mir die Welt von oben betrachte.
Auch die Physiotherapie geht vorbei. Man setzt mich noch ordentlich hin und polstert mich an den Seiten aus, damit ich nicht umkippen oder wegrutschen kann. Gleich gibt es das Mittagessen. Die Therapeuten verabschieden sich, auch sie wünschen mir einen schönen Tag. Jetzt tut mir alles ein bisschen weh, aber ich weiß, dass das zu meiner Genesung beiträgt.
Ich habe es oft gehört, dass Patienten ihre Therapeuten als Folterknechte bezeichnet haben und gesagt haben, sie würden von ihnen geschunden. Ich habe das nie getan, nicht einmal in meinen Gedanken. Ich habe die Therapien nicht immer gerne gemacht, aber ich war immer froh, sie zu haben - die Therapien und die Therapeuten -, denn sie waren letztlich meine größte Chance, den Rückweg ins Leben zu finden. Aus eigener Kraft und auf eigenen Beinen.
Mittagessen. Powered by Bettina. Ich glaube, ich habe schon mal über sie geschrieben. Die fesche Diplomschwester mit den schönen blauen Augen und dem kecken blonden Haarschweif. Später hat sie sich das Haar brünett färben lassen, ein bisschen wie Gulasch. Da hat sie mir zwar auch noch gefallen, aber nicht so wie blond.
Broccolicremesuppe und gekochtes Kalbfleisch. Ich möchte meinen Blog und meine erschütternde Leidensgeschichte (okay, das war jetzt ein bisschen dick aufgetragen) dazu nutzen, eine Lanze für das oft verschrieene Krankenhausessen zu brechen. Wenn' s nicht schmeckt sagt man ja fast schon sprichwörtlich, "schmeckt wie Krankenhausessen." Aber das Essen im Landeskrankenhaus Vöcklabruck in Oberösterreich ist wirklich köstlich. Nicht, weil ich ein am ganzen Körper gelähmter leidender Mensch bin, der alles schluckt, was man ihm einwirft, sondern, weil es einfach fantastisch zubereitet ist. Und ganz oben, Top of the Pops des Essens, steht für mich das gekochte Kalbfleisch. Es ist zart, saftig und aromatisch. Jetzt werden die Tierschützer kommen und sagen, "aber das arme Kälbchen war doch noch so jung. Es wird direkt von der Mutterbrust weggerissen und geschlachtet." Meine lieben Tierschützer! Genau darum schmecken sie ja so gut. Und außerdem werden sie nicht von der Mutterbrust weggerissen, sondern vom Euter einer Kuh.
Feierabend. Jetzt schon. Erst knapp halb eins. Jetzt werde ich bis zum Abendessen am Rücken liegen und mir das Muster an der Decke ansehen. Eigentlich ist es gar kein Muster, sondern weißer Verputz. Zwischendurch werde ich auf die Seite gelagert, zur Dekubitus-Vorbeugung. Ich erinnere mich an einen Patienten, der immer gesagt hat, hier auf der Neuro sei es wie in einem Vier-Sterne-Hotel. Ja. Er hat recht. Club Tropicana. All that' s missing is the sea. Nur mir fehlt ein bisschen was zum Sunshine Reggae.
Gesundheit, Lebensfreude und eine Zukunftsperspektive.
Aber die Apfelschlange, die es zum Abendessen gibt, ist super.
So verlaufen meine Tage auf der Neuro. Jeder. Vier Monate lang.
Als Kopf werde ich eingeliefert, und entlassen werde ich als Kopf mit einem beweglichen linken Zeigefinger, der die Schultern ein bisschen bewegen und die Arme ein bisschen heben kann. In dieser Zeit haben alle ihr Bestes gegeben (ja, auch ich). Die Ärzte, die Krankenschwestern, die Pfleger, die Therapeutinnen und die Therapeuten und das ganze Personal. Ich wurde gepflegt, therapiert, aufgemuntert, mit Essen und Trinken versorgt, im Bett umgedreht, mit Medikamenten versorgt, liebevoll, aber auch streng behandelt. Mit Humor, aber auch mit Ernsthaftigkeit. Mein Dank an alle, ich kann es gar nicht oft genug sagen.
Dieser Tag auf der Neuro dauert vier Monate. Langsam fasse ich wieder Mut. Aber er verlässt mich auch wieder. Oft. Auch heute noch.
Aber mit dem Mut ist es wie mit dem Weg, den man beschreitet.
Diese Worte gehen direkt an Dich, lieber Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom: Halte den Kopf hoch und lass Dir von den Tränen nicht den Blick verschleiern.
Nur so findest Du zurück ins Leben. Alles andere ist Finsternis.

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