Samstag, 25. April 2015

Sorge Dich - Lebe nicht!

Ist dies etwa ein ironisch gemeinter Text? Versucht der Typ mit dem Guillain-Barré-Syndrom gar, witzig zu sein? So kennen wir den ja gar nicht! Oder meint er die Ratschläge in diesem Beitrag wirklich ernst?
Schwer zu sagen. Mir scheint, dieser Text ist so geschrieben, dass er leicht missverstanden werden kann. Und dann? Brechen dann GBS-Patienten ihre Therapien ab, nehmen keine Tabletten mehr, verzichten auf wichtige Pflege- und Hilfsmittel und hören nicht mehr auf die Ärzte?
Kann schon sein, ist aber nicht beabsichtigt. Schließlich sind Sie für Ihr Leben verantwortlich, nicht ich. Sie haben GBS, so wie ich auch. In den letzten eineinhalb Jahren habe ich selbst hart daran gearbeitet, die unten angeführten Tipps zu verwirklichen. Allerdings habe ich das nicht absichtlich getan, sondern, weil mich irgendwann und immer wieder der Mut verlassen hat.
Ich musste am eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren, dass diese Techniken wirklich funktionieren. Aber im Gegensatz zu Affirmationen und Meditation, führen sie nicht zu Hoffnung, Heilung und Vertrauen, sondern direkt an den Abgrund und in den freien Fall.
Natürlich ist dies ein ironischer Text. Das muss ich schreiben, nur zur Sicherheit. Damit mir keiner auf die Idee kommt, die hier genannten Tipps zu befolgen. Nehmen Sie sie nicht ernst. Das Guillain-Barré-Syndrom ist schon ernst genug.
Trotzdem sind diese Anleitungen reale Handlungsweisen, die von GBS-Patienten durchgeführt werden. Aus Zweifel, vermeintlicher Zufriedenheit und Angst.
Eins ist jedenfalls sicher: Wenn Sie diesen Aufforderungen nachkommen, garantiere ich Ihnen, dass Sie wirklich alles falsch machen und ohne Aussicht auf Rettung behindert bleiben.

• Die Kraft des negativen Denkens

Du bist also behindert und möchtest es gerne bleiben?
Sicher fragen Dich viele Leute: "Aber warum denn? Du hast doch gute Chancen wieder gesund zu werden!" Angenommen, das stimmt. Du leidest, so wie ich, vielleicht auch an der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom. Oder Du sitzt aus einem anderen Grund seit einem Jahr im Rollstuhl, nachdem Du sechs Monate auf dem Rücken im Bett gelegen hast. Deine Prognosen sind gut, Du hast die besten Chancen, wieder auf die Beine zu kommen und vollkommen gesund zu werden.
Du willst aber nicht gesund werden.
Ich werde Dich jetzt nicht fragen, warum nicht. Ich will sehr wohl gesund werden. Aber oft ist mir der Weg zu weit und der Berg zu hoch. Die Aussicht auf das Ziel wird von meinen Tränen getrübt und von meiner Angst vernebelt. Manchmal stürzen die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks von allen Seiten auf mich ein.
Was dabei mitschwingt ist ein Unterton der Zukunftsangst. Wenn ich nicht mehr der im Rollstuhl und mit der Krankheit-die-keiner-richtig-aussprechen-kann bin, wer bin ich dann?
Wenn ich wieder gehen kann, wo gehe ich dann hin? Wohin führt mich mein Lebensweg?
Genau weiß ich das nicht. Und genau deshalb habe ich solange die Stimme in mir gehört und gestärkt, die meine Gesprächstherapeutin den "Boykottierer" nennt. Offenbar arbeite ich jetzt schon seit insgesamt zwei Jahren darauf hin, nicht gesund zu werden. Nicht weil es soviel Spaß macht, im Rollstuhl zu sitzen oder im Kran zu hängen, sondern weil das Vertraute, auch wenn es schrecklich ist, immer noch besser erscheint als eine ungewisse Zukunft.
Und weil dies ein ironischer, bewusst überspitzt formulierter Text ist, warne ich nicht vor dieser Weltanschauung. Auch, weil die Warnung vor einer Gefahr oft dazu führt, dass man sich gerade auf diese Gefahr einlässt.
Es liegt viel Trost im Stillstand.
Trotzdem denke ich jeden Tag daran, wie es sich anfühlen wird, wenn ich den Boden unter meinen Füßen wieder gefunden habe.
Ich glaube, es wird sich fantastisch anfühlen! Besonders, wenn ich mich nicht auf brüchigem Eis verliere, sondern Land gewinne.
Trotzdem habe ich in den letzten eineinhalb Jahren mehr als nur einmal all die Tipps umgesetzt, die ich Dir jetzt geben werde. Befolge sie besser nicht, auch dann nicht, wenn Du gesund werden kannst, aber behindert bleiben willst.
Und das willst Du doch, oder?
• Negativ denken - Der Königsweg zur Krankheit

Nichts strahlt weniger als graue Gedanken. Erst das trübe Wetter macht den Herbst doch richtig schön. Die bunten Blätter an den Bäumen will doch wirklich niemand sehen. Gibt es einen grauloseren Anblick als die blühenden Bäume im Frühling? Im Tale grünet Hoffnungsglück.
Aber keine Sorglosigkeit! Es geht auch anders. 
Die Straße der Verlierer ist vernebelt durch Vernunft.
Achte also stets darauf, nur die Hindernisse auf Deinem Weg zu sehen. Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Stolperstein. Wenn Du den Fehler machst, positiv zu denken, Dich stets an Deine Fortschritte zu erinnern und Deine Erfolge zu sehen, kannst Du nicht scheitern. Das ist unmöglich. Leider. Wenn Du Dich selbst siehst, wie Du aus dem Rollstuhl aufstehst und gehst, wirst Du ihn niemals hinter Dir lassen können. Vergiss nicht, dass bei GBS die Nervenenden als Letztes verheilen. Die Myelinschicht kommt erst ganz zum Schluss bei den Zehenspitzen an.
Komm also ja nicht auf die Idee zu trainieren oder zu befolgen, was die Ärzte und Physiotherapeuten Dir raten. Schließlich verstehen sie eine ganze Menge von ihren Berufen, und für die meisten ist es sogar eine Berufung, anderen Menschen zu helfen oder sie gar zu heilen.
Heilen. Scheußliches Wort. Streich es sofort aus Deinem Gedächtnis. Zusammen mit Mut, Fleiss, Hoffnung, Hilfe und Fortschritt und diesem ganzen motivierenden Mist. Besonders Fortschritt ist ein Begriff bei dem Dir doch sofort die Angst verfliegt, nicht? Schreiten, und dann noch dazu fort...
Fort wovon? Fort vom Rollstuhl? Fort vom Krankenbett? Fort von der Verzweiflung und der Angst? Das wäre ja wunderbar. Und das willst Du nicht. Glaub mir. Du willst auf keinen Fall fort von all dem Schmerz, der Trauer und dem Tod. Schließlich sind sie Deine besten Feinde.
Und beste Freunde willst Du keine.

• Verzage!

Das ist ganz wichtig. Wenn Du wieder einmal in der Früh aufwachst und Dir denkst, ich will nicht mehr aufwachen, komm ja nicht auf die Idee, zum Fenster hinauszuschauen. Es könnte ja die Sonne scheinen. Es könnte ja ein Tag voller neuer Chancen und - igitt! - Fortschritte werden. Lebe immer so, als wäre jeder Tag Dein letzter und auf keinen Fall Dein erster. Wenn Du Dich schon am frühen Morgen wie neu geboren fühlst, wo soll denn das, bitteschön, enden? Bitteschön. Schon wieder so ein Wort. Da steckt ja Hoffnung drin, wenn man um etwas bittet. Und schön ist es auch noch dazu.
Schön wäre es auch, die Hände wieder normal bewegen zu können. Zuerst nur den Zeigefinger einen Millimeter und mittlerweile beide Hände so, dass ich tippen, essen, mich waschen, einen Becher und ein Handy halten und Gummibärchen essen kann. Willst Du das wirklich auch?
Willst Du wirklich Gummibärchen essen?
Natürlich nicht. Fort, ihr Bärchen! Fort! Fort! Also verzage und gib Dich auf. Wobei..., "auf " ist auch schon wieder so ein positives Wort. Gib Dich ab klingt viel besser...äh...schlechter. Am besten gibst Du gleich die Verantwortung ab. Sonst wirst Du noch ein selbstbestimmter Mensch. Die Verantwortung für Dich, Deine Gesundheit und Deine Zukunft sollen gefälligst die Ärzte, Therapeuten, Krankenschwestern, Krankenpfleger und alle anderen, die Dich kennen und können, übernehmen. Aber auf keinen Fall Du selbst.
Verantwortung verhilft zur Heilung.
Leider endlich mal ein schöner Satz.
Sicher fragst Du Dich jetzt: "Was will der eigentlich von mir, und was schreibt der für einen Schrott?"
Kann ich Dir sagen, lieber GBSler oder Besitzer einer anderen heilbaren Krankheit:
Mach es falsch!

• Sei abergläubisch!

Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Selbst die Leute, die von sich behaupten, nicht abergläubisch zu sein, sind es in Wahrheit doch. Auch Du! Der Unterschied zu früher ist nur, dass an die Stelle des  magischen Aberglaubens ein moderner, technologischer Aberglaube getreten ist. Wer spricht nicht mit seinem Handy, wenn der Akku leer ist, oder flucht über das Auto, wenn es nicht anspringt?
Ich, zum Beispiel, spreche mit meinem transurethralen Dauerkatheter, wenn er nicht fördert wie eine Bohrinsel. Um ehrlich zu sein, es gibt Menschen, die ich schon viel länger kenne als dieses gelbe Scheusal, aber mit denen ich in meinem Leben nicht einmal annähernd so viel geredet habe.
Wenn man an Heilung interessiert ist, gibt es - neben medizinischer Versorgung und Pflege - kaum ein Mittel, dass so wirkungsvoll ist wie Positives Denken. Ich meine aber nicht die alberne Hals-und-Beinbruch-Mentalität, sondern gezieltes Visualisieren des eigenen geheilten Lebens. Nicht irgendwann in der Zukunft. Jetzt!
Ich werde nicht geheilt, ich bin geheilt!
Ich. Bin. Geheilt!
Diese Einstellung, womöglich noch in Kombination mit einem inneren Lebensfilm und dem Phantasieren von Glück und Gesundheit, verhindert jeden negativen Gedanken.
Tu es also nicht. Sich vorzustellen, wie man auf blühenden Wiesen spazieren geht, einen abendlichen Stadtbummel macht oder vollkommen schwerelos und sorgenfrei in einem warmen See schwimmt, umgeben nur von Natur, Sommerklang und erfüllt von Lebensfreude, verstrahlt einem doch das trostlose Leben.
Viel wirkungsvoller ist es, das Beste zu erwarten, damit das Schlechteste eintritt. Dreh' den Satz "Es wird schon schiefgehen" einfach um. "Es wird schon gutgehen" traut sich niemand zu sagen, aus Angst, das Gegenteil könnte eintreffen.
Mach es falsch!
Glaub' an Dein Glück, und das Pech ist Dir hold!

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