Samstag, 2. Mai 2015

Krankheit als Geschenk

Wenn man von der Hilfe anderer Menschen abhängig ist, entwickelt man schnell das Bedürfnis, seine Selbstständigkeit wiederzuerlangen.
Aber auch das erfordert Hilfe. Selbst der beste Hauptdarsteller eines Films braucht Drehbuchautoren, einen Regisseur und viele andere. Nur so kann er zum Akteur der Geschichte werden, die der Film erzählt.
Vielleicht fragst du dich, woher Du die nötige Hilfe bekommst, um zum Akteur deines Lebens zu werden. Du hast möglicherweise kein Geld für teure Therapien. Und selbst, wenn die Krankenkasse dir die Behandlung deiner Wahl finanzieren würde, hast du keine Ahnung, welche Art Therapie du machen sollst. Und bei wem.
Du fühlst dich verloren im Dschungel der Möglichkeiten. Oder aber, du hast gar keine Chance, eine Psychotherapie, einen NLP-Kurs, Meditation oder eine Peer-Beratung zu machen. Und dein Arzt speist dich nur mit Medikamenten ab, die dir manchmal helfen, aber nie so, dass du das Gefühl hast, selbst über dein Leben entscheiden zu können und zum Akteur deines Lebens zu werden. Du kommst dir vor wie ein Spielball, eine Marionette. Du bist immer von anderen Menschen und ihren Meinungen abhängig.
Aber du willst Unabhängigkeit. Die willst du mehr als alles andere. Unabhängigkeit ist eine Form der Freiheit, und Kontrolle ist der Motor, der dich in die Freiheit bringt und dich antreibt. Erst, wenn du Kontrolle über deine Handlungen hast, wenn du dich nicht zu bestimmten Entscheidungen gedrängt fühlst, kannst du Unabhängigkeit und Freiheit erlangen. Das Gefühl, zu etwas gedrängt zu werden, das man nicht tun will, kommt schnell, wenn man krank ist. Natürlich passiert diese Bedrängnis nie, man empfindet es nur manchmal so. Mich haben Ärzte, Krankenschwestern und Therapeuten immer wieder darauf hingewiesen, dass immer ich derjenige sei, der die Entscheidungen trifft. Ich wurde eher dazu ermuntert, selbstverantwortlich zu handeln.
Was du wirklich willst ist die Ursache über dein Tun zu sein. Du willst nicht immer nur die Wirkung fremder Mächte sein. Mächte, die zwar gutmütig sind und dir nur helfen wollen, aber dir dabei scheinbar die Grundlage deines Lebens entziehen: die Freiheit, entscheiden zu können, was du tun willst.
Diese Mächte, seien es Ärzte, Krankenschwestern oder Therapeuten, arbeiten hart und mit viel Idealismus daran...
...Ja, woran denn?
An deiner Gesundheit? Oder an Deiner Krankheit? An deiner Rückkehr ins Leben? Oder doch an deiner Abhängigkeit? Du musst erst hilflos sein, um Hilfe zu bekommen. Kannst du dich mit dem Zustand der Hilflosigkeit abfinden? Bist du bereit, auf der Stufenleiter des Lebens so tief abzusteigen, dass du so dermaßen im Abgrund sitzt, dass dir selbst die Erinnerung an Licht unvorstellbar erscheint?
Ich konnte es mir nie vorstellen. Bis ich dann auf der untersten Sprosse der Leiter angekommen war. Darunter waren nur der Abgrund und ich selbst. Irgendwie ist man doch sein eigener Abgrund, oder? Zumindest blickt er zu einem zurück, wenn man in die Tiefe schaut. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mein Abgrund mein Spiegelbild ist. Egal, wie groß meine Ängste waren, sie hatten immer mein Gesicht.
Du musst erst den Zustand der Erniedrigung ertragen lernen, bevor du daran arbeiten kannst, wieder emporzusteigen, die Treppe ins Licht zu erklimmen und den finsteren Abyss hinter dir zu lassen.
Aber wie? Sicher fragst du dich das jetzt. Vielleicht bist du in diesem Augenblick sogar selbst in einem Zustand tiefer Verzweiflung. Erlebst du gerade eine Lebensphase, in der du dir vorkommst, als seist auf die Gnade deiner Mitmenschen angewiesen, vielleicht sogar sosehr, dass du ohne sie gar nicht überleben könntest? Nicht einmal einen Tag, nicht einmal eine Stunde?
Nicht einmal für die Dauer eines Atemzugs.
Empfindest du angesichts der vollkommenen Abhängigkeit und des Verlusts deiner Selbstbestimmung Dankbarkeit? Eigentlich solltest du das ja. Stell dir vor, du liegst gelähmt in einem Bett. Du hast eine Tetraparese. Weißt du, was das ist? Ach so, du bist ja ein Leidenskollege...Aber allen anderen sei es erklärt. Ich hatte eine, fast ein halbes Jahr lang. Dabei gehöre ich zu den glücklichen Menschen, die aus diesem Zustand wieder herauskamen. Die meisten können das nicht.
       Eine Tetraparese ist die vollständige Lähmung aller Gliedmaßen. In meinem Fall wurde sie verursacht durch die Krankheit Guillain-Barré-Syndrom. Ich war vom Hals abwärts bis zu den Zehenspitzen vollkommen gelähmt. Ich konnte weder meine Arme noch meine Beine, Füße oder Finger bewegen. Das war zum Zeitpunkt, wo ich diese Zeilen schreibe, vor knapp zwei Jahren. Meine Füße sind immer noch fast vollständig gelähmt.
Wie ist das also mit der Dankbarkeit?
Ich war dankbar. Sehr sogar. Ich bin es noch heute. Nicht aus Anstand und Höflichkeit, sondern aus tiefer innerer Überzeugung. Seit mittlerweile 22 Monaten. In dieser Zeit sind mir nur hilsbereite Menschen begegnet. Menschen, die mehrmals mein Leben gerettet, mich gepflegt, aufgemuntert, therapiert, gefüttert, gewaschen, angezogen und mit Medikamenten versorgt haben. Ich kann gar nicht sagen, wie tief mein Gefühl der Dankbarkeit, der Freude und der Liebe zu all diesen Menschen ist.
Klingt das nach einem Aber?
Stimmt. Hier ist es:
Aber die Hilfe, die mir zuteil wurde, hat mich klein gemacht. Sie hat mir mein Selbstbewusstsein und mein Selbstvertrauen genommen. Die Abhängigkeit, der Kontrollverlust und die Hilflosigkeit haben mich zu der Erkenntnis gezwungen, dass ich ein Nichts bin. Ein vollkommenes, lebensunfähiges, verängstigtes, hoffnungsloses Nichts.
Die Krankheit und die ständige Hilsbedürftigkeit haben mich von einem Menschen in eine Pflanze verwandelt. Ich habe nicht mehr gelebt, sondern nur noch überlebt. Dieses Gefühl ist lange geblieben, zum Teil empfinde ich es jetzt noch, obwohl ich schon viele Entscheidungen selber treffen kann. Ich kann auch schon ziemlich viel tun, wie selbst essen, diesen Text in mein iPad tippen, Flaschen anheben und daraus trinken und mit meinem E-Rolli umherfahren. Waschen kann ich mich noch nicht selbst, zumindest nicht am ganzen Körper. Gehen kann ich auch noch nicht. Nicht richtig. Drei Minischritte am Rollator habe ich schon geschafft, aber ein Spaziergang liegt noch in weiter Ferne.
Was brauche ich also, um meine Gesundheit wiederzuerlangen und wieder richtig auf die Beine zu kommen? Vor allem brauche ich die Hilfe, auf die ich angewiesen bin. Darüber mache ich mir auch keine Sorgen, da ich von vielen hilsbereiten Menschen umgeben bin.
Meine Krankheit hat mein Menschenbild verändert. Ich habe die Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin immer als Bedrohung betrachtet. Ich fühlte mich von frühester Kindheit an ausgegrenzt, unverstanden und nicht akzeptiert. Von geliebt will ich gar nicht reden. Damit meine ich aber nur die Menschen außerhalb meines Elternhauses. Bei meiner Mutter und meinem Vater war das nicht so. Bei ihnen fühlte ich mich immer sicher, und sie waren die einzigen Menschen, denen ich bedingungslos vertraut habe. Und das immer zu Recht. Sie haben mich nie enttäuscht. Niemals. Ich sie hingegen sehr oft, fast würde ich sagen, immer.
Nach dem Ausbruch des Guillain-Barré-Syndroms war ich plötzlich von Unmengen von Menschen umgeben, die alle für mich da waren, mich untersuchten, medizinisch behandelten, pflegten, therapierten und auch immer wieder versuchten, mich auzumuntern. Alles dies ist ihnen gelungen. Alles bis auf die Aufmunterung. Dagegen bin ich resistent. Trotzdem habe ich erkannt, und das erst mit 43 Jahren, dass nicht alle Menschen egoistisch, geldgierig, falsch, berechnend und intrigant sind. Solchen Menschen bin ich auch nur wenigen begegnet, aber sie haben seit meiner Kindheit mein Menschenbild falsch geprägt, und darum hing es immer schief an der Wand meines Lebens, gegen die ich immer gerannt bin.
Plötzlich stellte ich fest, dass es Menschen gibt, die Verständnis für mich haben, mich akzeptieren, respektieren und mir helfen. Schon alleine deshalb war die Krankheit für mich nicht nur schrecklich, sondern auch sehr lohnenswert.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist lehrreich, grausam und ehrlich.
Sie hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen und mir viel genommen. Viel Schönes, Gutes und Angenehmes. Dinge, die ich immer für selbstverständlich gehalten habe, wie ohne darüber nachdenken zu müssen nach einem Becher zu greifen und daraus zu trinken oder Gegenstände, die ich mühsam in einer Hand hielt, wieder loszulassen. Loslassen war und ist noch immer schwieriger als greifen.
Aber die Krankheit hat mir auch etwas weggenommen, was ich überhaupt nicht vermisse: Mein negatives Menschenbild. Seitdem betrachte ich andere Menschen nicht mehr als Gefahr, sondern als Gefährten.
Ich sage es noch einmal, weil es eine der wichtigsten Lektionen ist, die mir das Guillain-Barré-Syndrom erteilt hat:
Ich betrachte andere Menschen nicht als Gefahr, sondern als Gefährten.
Alleine schon dafür lohnt es sich, ein halbes Jahr vom Hals abwärts gelähmt zu sein und auch zwei Jahre später noch immer nicht wieder gehen zu können. Wenn auch du an GBS leidest, denke bitte immer daran.
GBS nimmt dir viel, schenkt dir aber noch mehr.
Die Krankheit ein Geschenk?
Diese Frage muss ich mit ja beantworten. Nein, ich muss nicht, ich tue es aus Überzeugung. Und aus Erfahrung. Krankheit kann tatsächlich ein Geschenk sein. Mir schenkte das Guillain-Barré-Syndrom eine neue Form der Freiheit in meinem Denken und meinem Handeln. Sie hat mir den Weg geebnet, indem sie mir Stolpersteine und Schranken vor die Füße gelegt hat. Aber die sind überwindbar, auch für Dich.
Neben der vielen Hilfe gibt es noch etwas, das ich brauchte und noch immer brauche, um wieder gesund zu werden. Es ist sicher nicht das einzig Wichtige, aber ohne es ist alles andere zwecklos.
Und dieses Etwas heißt:
Ich.
Markus.
Der kriegerische Sohn des Gottes Mars.
Zugegeben, so bin ich nicht, aber das ist die Bedeutung meines Vornamens. Mit zweitem Vornamen heiße ich Gregory, was der Wachsame bedeutet. Die Medikamente machen mich zwar manchmal ziemlich müde, aber wachsam bin ich trotzdem. Und achtsam. Auch ein bisschen faul. Und verängstigt und depressiv, obwohl es damit zusehends besser wird.
Es gibt also noch ein Menschenbild, das meine Krankheit verändert hat: mein eigenes. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Angst einen Menschen noch mehr lähmen kann als eine Tetraparese. Sie kann einen daran hindern, für seine eigene Gesundheit und sein Lebensglück zu kämpfen.
Die Angst lähmt zwar nicht den Körper, aber die Seele. Sie lässt , Optimismus, Tatendrang, Zuversicht, Vertrauen in andere und in sich selbst, Motivation, Gelassenheit und  Lebensfreude einfach erstarren. Fast bis zum absoluten Nullpunkt, bis selbst das Lebenslicht beinahe erfriert.
Wie kommt man also aus diesem ewigen Eis wieder heraus?
Indem du, so schwer es auch sein mag, bedingungslos und fest an dich selbst glaubst!
Es liegt an dir. Du schmiedest nicht nur dein Glück, sondern auch dein Unglück. Ich selbst habe den Hammer lange Zeit auf den Amboss der Hoffnungslosigkeit geschlagen und dabei mein Unheil mehr und mehr gestählt. Das ging so weit, dass mich Kleinigkeiten wie das Klopfen an meiner Zimmertür fast zu Tode erschrocken haben. Ich wurde immer nervöser, ängstlicher und hoffnungsloser. Ich quälte mich um halb acht Uhr Früh in den Rollstuhl, quälte mich durch den Tag und um halb sieben am Abend quälte ich mich ins Bett, begleitet von Angst und Depressionen.
Das Resultat war Stillstand. Richtig schlimm wurde es im August 2014 nach dem Tod meiner Mutter. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Ich wusste nicht, wer ich ohne sie war. Plötzlich war der einzige Mensch, der mich bedingungslos geliebt hat und mich trösten konnte, weg. Ich war im freien Fall. Zugleich verfiel ich in eine neue Lähmung, die viel schlimmer war als die andere. Es war eine seelische Lähmung.
Ich war nicht mehr handlungsfähig, konnte gar nichts mehr aus eigenem Antrieb tun. Dazu kamen noch gesundheitlicher Stress und eine vollkommen unsichere Zukunft.
Dieser Zustand dauerte bis ins neue Jahr hinein. Dann wurde es allmählich besser, aber es war noch immer nicht genug. Es reichte noch immer nicht, um endlich richtig mit dem Trainieren anzufangen und nicht nur an meiner Gesundheit zu arbeiten, sondern mich aus diesem verdammten Rollstuhl hinauszuzwingen.
Wenn man nicht handelt, ändert sich auch nichts. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass die Hilfe nicht nur von außen kommen kann. Die Initialzündung, der Funke der Heilung, muss aus mir selbst kommen.
Und aus dir, mein lieber GBS-Kollege.
Aber wie entzünden wir diesen Funken?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!