Samstag, 9. Mai 2015

Die Angstwolke

Leiden Sie auch unter einer Angst, die Sie nicht in Worte fassen können?
Bei mir war es so. Inzwischen hat sich mein seelisches Befinden wesentlich gebessert, aber die Momente, in denen die Angst in mir aufsteigt und innerlich überschwemmt wie ein Tsunami aus Eis gibt es immer noch. Zwar sind diese Erlebnisse nicht mehr so intensiv und beklemmend wie noch vor einem halben Jahr, aber ganz verschwinden wollen sie auch nicht.
Lange Zeit, nachdem meine Krankheit Guillain-Barré-Syndrom ausgebrochen war, hatte ich das ständige Gefühl, in einer Art Angstwolke festzusitzen. Sie war eine Mischung aus Befürchtungen, Sorgen, konkreten Ängsten um meine Gesundheit und, mehr als nur einmal, Todesangst. Diese Wolke war immer um mich herum, kalt und schwarz, von Juni 2013 bis etwa April 2015. Inzwischen ist die Angstwolke grau geworden und auch die Temperatur meiner Angst ist jetzt nicht mehr so eisig.
Ich war noch nie ein besonders mutiger Mensch, aber so intensive Gefühle aus genereller Angst und unmittelbarer Furcht habe ich noch nie erlebt. Jetzt kann ich sagen, dass es eine interessante Erfahrung war. Und noch immer ist. Noch bin ich nicht gesund. Zugegeben, es war und ist für mich faszinierend, diese nackte und hilflose Seele - mich selbst - kennenzulernen. Trotzdem wollte ich immer nur, dass die Ängste verschwinden. Meine Gesprächstherapeutin hat mir gesagt, dass das nicht so wichtig sei. Viel wichtiger sei es, die Angst zu verstehen. Nur so kann man sie schließlich bewältigen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg in diese Richtung.
Wie kriegt man die Angst in den Griff?
Zuerst muss man sie identifizieren, und um das zu können, muss man sich ihr stellen und ihr ins Auge blicken. Oft wurde ich gefragt, wovor ich eigentlich Angst hätte. Ich konnte diese Frage lange Zeit nicht beantworten. Die Wolke hat meine Sicht getrübt. Als ich dann anfing, intensiv darüber nachzudenken, habe ich festgestellt, dass ich im wesentlichen unter drei Ängsten litt und auch heute noch leide:

1. Die Angst, nie wieder gesund zu werden.
2. Die Angst, gesund zu werden.
3. Die Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Sie haben richtig gelesen! Ich hatte Angst davor, nie wieder gesund zu werden, aber gleichzeitig fürchtete ich mich vor der Genesung. Die erste Angst ist leicht erklärbar: Es ist kein schönes Dasein, am ganzen Körper gelähmt zu sein, fast ein halbes Jahr lang, es ist auch nicht schön, in einem Rollstuhl zu sitzen und den ganzen Tag einen Druck auf der Blase zu spüren, weil man einen Katheter tragen muss. Es ist ein grauenhaftes Erlebnis, eine Tiefenvenenthrombose mit der Gefahr einer tödlichen Lungenembolie zu haben. Da habe ich nicht nur der Angst in die Augen geblickt, sondern dem Tod. Und glauben Sie mir, er ist ein wirklich hässlicher Bursche.
Was also  tun gegen die Angst?
Eigentlich ist es ganz einfach. Theoretisch. Hier ist mein 3-Punkte-Plan zur Angstbewältigung:

1. Konfrontieren
2. Akzeptieren
3. Loslassen

Klingt ganz leicht, nicht wahr?
Ist aber ganz schwer.
Zugegeben, den 3-Punkte-Plan kann man nicht alleine umsetzen. Bereits für Punkt 1, konfrontieren, braucht man Hilfe. Am besten ist ein Gesprächspartner. Eine Vertrauensperson, mit der man offen und frei von Bedenken alles besprechen kann. Ich glaube, aus dieser Beschreibung kann man schon herauslesen, dass Lebenspartner, Angehörige und Freunde dafür nicht unbedingt geeignet sind. Was ich brauchte, war jemande, der mir gegenüber eine verständnisvolle, aber neutrale Einstellung hat.
Wenn Sie es nicht gewöhnt sind, mit Personen, die Ihnen sehr nahe stehen, frei über wirklich alles zu reden, suchen Sie sich unbedingt professionelle Hilfe. Am besten fragen Sie Ihren behandelnden Arzt nach seinem Rat. Als GBS-Patient sind Sie sowieso ständig von Ärzten umgeben. Fragen Sie nach einer Psychotherapie.
Schrecken Sie jetzt bitte nicht zurück.
Psychotherapie bedeutet nicht, dass Sie verrückt sind. Ich bin es nicht und mache trotzdem eine. Der Vorteil an einem offenen Gespräch mit einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin ist, dass sie außenstehende Personen sind. Sie sind ihnen nicht bekannt, das Gespräch beginnt also ohne Vorgeschichte und ohne Vorurteile.
Sie werden sehen, dass Sie schon nach wenigen Therapiesitzungen eine große Erleichterung spüren werden. Dabei ist es gar nicht notwendig, sofort Resultate zu erzielen und der Quelle Ihrer Angst auf den Grund zu gehen. Alleine das offene, ungezwungene Reden wird Ihnen weiterhelfen.
Wenn Sie ein introvertierter Mensch sind wie ich, werden Sie sich vielleicht denken, dass eine Gesprächstherapie für Sie ungeeignet wäre. Schließlich reden Sie auch sonst nicht sehr viel mit ihren Mitmenschen. Sie irren sich. Ich behaupte sogar, dass Ihre Verschlossenheit und Unsicherheit einen wesentlichen Anteil an der Entstehung und Ausformung Ihrer Angst haben. Wahrscheinlich waren Sie schon immer einer, der seine Probleme "lieber mit sich selbst ausmacht" und "niemanden braucht zum Reden". Auch da irren Sie sich. Sogar gewaltig. Ich habe das auch immer geglaubt, und auch ich habe mich gewaltig geirrt.
Ich bin Künstler. Zeichner, Grafiker, Maler, Schriftsteller. Ich dachte immer, ich könne meine Probleme und Sorgen auf kreative Art bewältigen. Es muss doch möglich sein, seelische Probleme alleine zu lösen, richtig?
Falsch.
Die kreative Arbeit hat mich zwar beruhigt und war schon in meiner Kindheit eine frühe Form der Meditation, ist es auch heute noch, aber sie hat mich auch einsam gemacht. Äußerlich und innerlich.
Wer einsam ist, denkt viel nach, und wer zu viel nachdenkt füttert den negativen Teil seines Egos mit immer neuen Zweifeln und Befürchtungen. So entsteht Angst. Das Ego braucht diese vielen Gedanken, weil es nur in dieser Form existieren kann. Das Ego ernährt sich von Gedanken, und darum erzeugt es immer neue negative Gedanken, Sorgen und Grübeleien, weil die ein sehr reges Wachstum haben. So hat das Ego immer neues Futter. Und immer mehr. So wird es dick und fett und träge und depressiv.
Und Sie auch.
Ihr ganzes Ego ist letztlich nichts anderes, als ein immer weiter und weiter denkendes Angstbewusstsein. Eine Art Panikfabrik. Angst erzeugt neue Gedanken, und neue Gedanken füttern das Ego. Also will es immer mehr Futter und erzeugt deshalb immer mehr Angst.
Mehr zu diesem Thema lesen Sie in meinem Blog-Artikel "Ewiges Leben - Über Ihr Wahres Selbst".
Ihre Angst brauchen Sie aber nicht. Zumindest nicht mehr. In der Steinzeit war sie nützlich, um uns Menschlein rechtzeitig vor Gefahren zu warnen und zu beschützen. Aus diesem Grund hat uns die Natur nur zwei Urängste eingepflanzt.
Die einzigen beiden Urängste sind die Angst vor dem Fallen und die Angst vor plötzlichen lauten Geräuschen.
Diese Ängste werden genetisch vererbt. Nützlich, wenn Sie auf einen Abgrund zulaufen, weil ein Säbelzahntiger hinter Ihnen her ist (da ist er wieder, der Gute. Sie erinnern sich?). Aber in unserer modernen Welt sind die Säbelzahntiger zur Mangelware geworden, und der einzige Abgrund, auf den Sie zurennen, und in den Sie wahrscheinlich schon gefallen sind, wenn Sie bis hierher weitergelesen haben, ist Ihr eigener.
Es ist der Abgrund Ihrer Angst.
Stellen Sie sich Ihrer Angst. Blocken Sie Ihre Angst nicht ab. Konfrontieren Sie sie! Konfrontieren Sie sich selbst mit Ihrer Angst! Fühlen Sie Ihre Angst. Lassen Sie Ihre Angst zu wie ein Fieber, dass Sie kuriert. Fiebern Sie Ihre Angst aus. Auch, wenn Sie dabei zittern, schwitzen, nur schwer Luft kriegen und Ihr Herz klopft wie verrückt. Unterdrücken Sie die Angst nicht.
Wenn Sie das geschafft haben, akzeptieren Sie Ihre Angst. Nehmen Sie sie an. Heissen Sie Ihre Angst willkommen. Betrachten Sie sie als Freund. Seien Sie gastfreundlich zu Ihrer Angst. Sie meint es ja nicht böse. Sie will Sie ja nur vor dem Abgrund bewahren, merkt dabei aber nicht, dass sie Ihnen dabei einen Tritt gibt, der sie abstürzen lässt. Ihr Ego ist dümmer, als Sie denken.
Und wenn Sie Ihre Angst begrüßt, akzeptiert und ihr freundschaftlich auf die Schulter geklopft haben, lassen Sie sie los! Lassen Sie Ihre Angst wieder gehen. Sagen oder denken Sie in täglichen Affirmationen "Ich lasse meine Angst los." Auch, wenn Sie jetzt skeptisch sind und es im Augenblick der Angst für unmöglich halten, dass Ihnen auch nur einer meiner drei Punkte weiterhelfen kann, glauben Sie mir. Konfrontieren, akzeptieren und loslassen hilft. Nicht nur das, aber der 3-Punkte-Plan hat einen wesentlichen Anteil daran, Ihre Angst...
...nein, nicht zu vertreiben. Sondern zu verstehen.
Verstehen Sie Ihre Angst.
Und dafür brauchen Sie eine Gesprächstherapie. Psychotherapeuten haben Erfahrung mit Angstmenschen. Sie besitzen die richtigen Werkzeuge, um Ihre Ängste aus der Dunkelheit Ihres inneren Abgrunds ins Licht der Selbsterkenntnis zu holen. Und diese Werkzeuge sind weder Skalpelle noch Fluchtfahrzeuge in Scheinwelten, sondern Worte.
Verständnis. Einfühlungsvermögen. Übereinstimmung.
Ich empfehle Ihnen die klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Carl Rogers. Ich mache sie selbst. Fragen Sie danach. Der Therapeut gibt Ihnen dabei keine naseweisen Ratschläge (wie ein gewisser Blogger aus Österreich), sondern hört Ihnen zu. Er stellt Ihnen Gegenfragen, und wenn Sie nicht weiterwissen, gibt er Ihnen Tipps und sagt Ihnen, wie sie gemeinsam weiter vorgehen werden. In Österreich bezahlt die Krankenkassa diese Form der Therapie oder zumindest den Großteil. Erkundigen Sie sich. Schaden kann es Ihnen auf keinen Fall, aber es wird Ihnen auf jeden Fall helfen.
So. Schluss für heute.
Eins noch: Stellen Sie sich selbst die Frage "Will ich mich von meiner Angst wirklich derartig versklaven lassen?" Da wird Ihnen sogar Ihr Ego zur Seite stehen, indem es die Antwort Ihres Wahren Selbst an Sie weiterleitet:
"Nein!"
Aber bevor Sie nein zu Ihrer Angst sagen, bejahen Sie sie. Sagen Sie zuerst "Ja!" zu Ihrer Angst.
Damit rechnet sie nicht.
So machen Sie Ihrer Angst Angst.

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