Samstag, 23. Mai 2015

Sei kreativ! Flieg!

Wenn Sie ein Mensch sind, der unter dem Guillain-Barré-Syndrom leidet, habe ich einen Tipp für Sie, der mir auf dem langen Weg voran ins Leben sehr geholfen hat. Vielleicht sind Sie noch in einem Stadium der Krankheit, in der Sie Ihren Kopf voll Sorgen, Ängsten und Albträumen haben. Aber Ihr Kopf ist in dieser Phase des Guillain-Barré-Syndroms das einzige Organ, dass noch richtig funktioniert.
Und lebt.
Sollten Sie nicht der Typ Mensch sein, der sein Leben durch Selbstreflexion und Kunst zu verstehen versucht, folgen Sie meinem Rat trotzdem. Sie werden sehen, dass es sich lohnt. Wenn Sie und ich allerdings Seelenverwandte sind, werden Sie sich in den folgenden Zeilen sicher wiedererkennen und schon einiges von dem, was ich jetzt empfehlen werde, praktiziert haben. Vielleicht sogar schon Ihr ganzes Leben lang?
Egal, zu welchem Menschentypus Sie gehören und unabhängig davon, in welchem Stadium der Erkrankung Sie sind, empfehle ich Ihnen:
Sein Sie kreativ!
So gut Sie können. In der Plateau-Phase der Erkrankung, werden Sie nur eine Form der Kreativität nutzen können: Ihre Gedanken. Wenn Sie oft meditieren, können Sie sich in seelischen Krisenmomenten soweit beruhigen, dass Sie Ihre Gedanken dann vielleicht abschweifen lassen können.
Wollten Sie schon immer mal einen Roman schreiben? Glauben Sie mir, als Patient mit Guillain-Barré-Syndrom haben Sie jede Menge Zeit, Romane, Geschichten, Filmideen, Gedichte oder sogar Bilder in ihrem Kopf zu erstellen. Denn am Anfang werden auch Sie nicht in der Lage sein, etwas anderes zu haben als ein Kopfleben.
Wenn Sie keine kreative Ader haben, entwickeln Sie vielleicht eine. Sie können Verwandte und Freunde bitten, Ihre Ideen zu notieren oder sie selbst auf ein Diktiergerät sprechen. Ich rate Ihnen auf jeden Fall, alle Ihre Ideen, Gedanken und Erlebnisse auf irgendeine Art zu bewahren. Und wenn Sie sie aus Ihrem Kopf nicht rausbekommen, archivieren Sie sie dort. Die besten bleiben Ihnen bestimmt in Erinnerung.
Halten Sie mich bitte nicht für zynisch, wenn ich vom Romaneschreiben und Dokumentieren der Erlebnisse rede, während Sie vielleicht gerade künstlich beatmet werden, überall Schläuche in Ihrem gelähmten Körper stecken haben und total verzweifelt sind. Ich meine all das, was ich hier schreibe, ernst. Ich kann darüber schreiben, denn ich habe es selbst erlebt. Meine größte Sorge war seit Anbeginn die Frage "Werde ich wieder zeichnen und schreiben können?" Die Befürchtung, dass es vielleicht unmöglich sein könnte, hätte mich fast um den Verstand gebracht.
Die Plateauphase von GBS geht vorbei, und Ihre Motorik kehrt zurück. Dann haben Sie wieder die Möglichkeit, selbst zu schreiben, auch wenn es nur mit einem Finger auf einer Tastatur oder einem Display ist.
Aber was erzähle ich Ihnen? Wenn Sie sowieso eine kreative Ader haben, werden Sie früher oder später wieder damit beginnen, Ideen auszuarbeiten. Und das ist eine Form der Lebensplanung.
Kreativität ist heilsam!
Die folgenden Tipps sind nicht für alle GBS-Patienten in den frühen Stadien der Krankheit gedacht. Wenn Sie die geistige Stärke haben, bereits zu planen, was Sie alles tun werden, wenn Sie Ihre Arme und Hände wieder einigermassen bewegen können, dann sind hier aber sicher einige Denkanstöße dabei.
Es gibt zwei Arten von Menschen: Die einen sind kreativ veranlagt, talentiert und aktiv und die anderen nicht. Wenn Sie zu den nicht Kreativen gehören, lesen Sie bitte trotzdem weiter. Ich bin überzeugt davon, dass in jedem Menschen ein Künstler schlummert und wenn kein Künstler, dann zumindest ein Dokumentarist. Ich kann Ihnen nur empfehlen, so bald wie möglich Ihre Erlebnisse mit dem Guillain-Barré-Syndrom festzuhalten. Wahrscheinlich wird es Ihnen am Anfang so gehen wie mir. Ich konnte nicht schreiben oder zeichnen. Das hat die Tetraparese verhindert. Das ist die Lähmung aller Gliedmaßen. Aber als GBSler wissen Sie das sicher.
Dieser Zustand hielt bei mir fünf Monate an. Das einzige Instrument, das ich hatte, um mein Leben kreativ zu verarbeiten und zu dokumentieren, war mein Hirn. Es war ein reines Kopfleben. Um dem oft äußerst beängstigenden Alltag zu entfliehen, habe ich mir in meiner Phantasie ein Haus erschaffen, in dem ich nach der Heilung lebte. Mit einer Frau und als erfolgreicher Schriftsteller. Wann immer ich konnte, ging ich in dieses Haus, schrieb Bücher, kochte, veranstaltete Partys, schlief mit Frauen, war dabei aber natürlich immer treu. Eine Frau pro Phantasie. Krankenschwestern kenne ich ja genug.
Ich habe mich wohlgefühlt in diesem Haus. Es hatte ein Stockwerk mit Bad und Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit gemütlicher Sitzlandschaft nebst Küche. Draußen war ein Garten, nicht zu groß, aber wildromantisch mit einem traumhaft schönen und tröstlichen Blick auf den Attersee. Oft fiel es mir schwer, in die Realität zurückzukehren. In meinem Haus fühlte ich mich sicher und geborgen.
Wie gesagt, dieses Haus und diese Frauen existierten nur in meiner Phantasie. Ich bin froh darüber, eine so ausgeprägte Phantasie zu haben. Manchmal. Aber es gibt auch die Momente, in denen ein tatsächlich existierender Harnwegsinfekt in meinen Gedanken zu einer Nierenbeckenentzündung wird, und ich erlebe dann oft richtige eiskalte Todesangst. Trotzdem würde ich meine Phantasie niemals opfern, um dafür angstfrei zu sein.
Wenn auch Sie über eine derartige Vorstellungskraft verfügen und ebenfalls vom Hals abwärts bis in die Zehenspitzen total gelähmt sind, erschaffen Sie sich doch auch eine Parallelwelt. Wenn Sie glauben, das nicht zu können, tun Sie' s trotzdem. Ich glaube, ich wäre verrückt oder total schwermütig geworden, wenn ich mein Haus nicht gehabt hätte. Nutzen Sie die Fähigkeiten Ihres Verstandes, sich eigene Welten zu erschaffen und dorthin zu entfliehen, damit Ihr Leben nicht nur aus Lähmung, Schmerzen, Spritzen, Infusionen und Angst besteht. Wie Sie das genau machen sollen, kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist ja Ihre Phantasie.
Neben dem Tagebuchschreiben gibt es noch viele andere kreative Techniken. Wenn Sie jemanden haben, der Ihnen technisch behilflich ist, können sie ein Videotagebuch führen oder Tonaufnahmen machen. Oder beides. Auf jedem Smartphone ist das heutzutage eine Leichtigkeit. Irgendwann werden Sie diese Geräte auch selbst bedienen können.
Schreiben, zeichnen, malen, Video- und Audioaufnahmen machen. Es gibt viele Möglichkeiten, kreativ zu sein. Sie können Ihre Gedanken auch jemandem diktieren, der sie niederschreibt oder aufzeichnet. All das ist auch mit extrem eingeschränkter Bewegungsfreiheit möglich.
Und solange Sie noch vollständig gelähmt sind, haben Sie Ihren Kopf und können sich dorthin zurückziehen. In Ihr eigenes Kopfleben.
Sobald ich den linken Arm heben und den Zeigefinger ausstrecken konnte, habe ich damit begonnen, Tagebuch zu schreiben. Das war fünf Monate nach dem Ausbruch meiner Krankheit. Es war unglaublich anstrengend, und ich habe nur drei Sätze geschafft.
Aber diese drei Sätze waren für mich der erste Schritt voran in mein neues Leben. Nachdem ich sie geschrieben hatte, wusste ich: Ich bin wieder da. Noch nicht so wie früher, aber ich bin wieder da.
Am 4. November 2013, um 11:40 schrieb ich:
"Sitze gerade im Bett im LKH Vöcklabruck. Hatte vorhin Physiotherapie. (Querbett sitzen)"
Diese kurze Notiz war für mich als Patient mit dem Guillain-Barré-Syndrom so anstrengend wie für einen gesunden Menschen ein Marathonlauf.
Mit meiner Ergotherapeutin Julia habe ich begonnen, Tippübungen auf einer externen Tastatur für mein iPad zu machen. Für meine eigenen Schreibarbeiten habe ich dann aber die Bildschirmtastatur verwendet. Das mache ich bis heute so, mittlerweile aber schon mit zwei Zeigefingern. Zwei Jahre nach dem Ausbruch des Guillain-Barré-Syndroms.
Es wird ein langer und mühseliger Weg für Sie werden, glauben Sie mir. Aber, wie ich schon in einem früheren Blogartikel geschrieben habe: Es gibt ihn.
Der Weg ist da.
Sie sind nicht auswegslos verloren, und erführt auch nicht in eine Sackgasse, sondern zurück ins Leben. Genaugenommen muss ich sagen: voran, in ein neues Leben. Darin liegt doch ein unendlicher Trost, finden Sie nicht? Immer, wenn ich wieder dabei bin zu verzweifeln, denke ich daran.
Der Weg ist weit, hart, steinig, kurvig, schlammig und führt durch einen Irrgarten einen unermesslich hohen Berg empor. Die Luft wird dünn, und der Weg wird scheinbar immer weiter, der Berg immer höher, je näher ich dem Gipfel komme.
Aber er ist da.
Der Weg ist da.
Vergessen Sie das niemals.
Wenn Sie beginnen, Ihr Leben kreativ zu verarbeiten oder Ihre Ideen in Kunst zu verwandeln, werden Sie schon bald ein sogenanntes Flow-Erlebnis haben.  Man nennt es in der Psychologie auch die "Zone". Sicher kennen Sie das Phänomen, dass die Zeit wie im Flug vergeht, wenn man sie mit Freunden, seinen Eltern, Geschwistern oder anderen Verwandten verbringt. Wenn man ein Buch liest, das einen in eine andere Welt entführt,  wenn man einen außergewöhnlichen Film sieht, wenn man eininteressanten Spiel spielt oderGespräch führt. Oder wenn manSport betreibt. Egal, womit, hauptsache, es bereitet Ihnen Freude.
Nicht nur Masse krümmt die Raumzeit, wie Einstein nachgewiesen hat. Auch die Freude und die Kreativität beeinlussen die Zeit, verändern sie, und Sie, als kreativer Mensch, gelangen an einen Ort, den ich gerne das "Innere Sanctum" nenne. Im Buddhismus ist es auch als Achtsamkeit bekannt. Der englische Ausdruck dafür ist Mindfullness. Man erreicht diesen Zustand durch Meditation, Freude, Gebet und Kreativität. Marathonläufer kennen diesen Zustand der heiteren Glückseligkeit ebenfalls.
Genau das ist ein Flow-Erlebnis, mein inneres Heiligtum, mein Kraftort.
Es ist ein Zustand außerhalb von Materie, Energie, Raum und Zeit.
Das klingt vielleicht etwas theatralisch, ist aber ein Beweis dafür, dass man die Kreativität nicht definieren kann. Man kann sie auch nicht festhalten, denn sie ist ein ewiges Statik.
Die Kreativität ist immer da. Und zugleich ist sie nirgendwo.
So. Genug für heute. Probieren Sie es aus. Begeben Sie sich an diesen geheimnisvollen Ort.
Sein Sie kreativ!
Wenn Deine Flügel gebrochen sind, flieg!

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