Samstag, 30. Mai 2015

Der Bopti

Bedingungslos optimistisch.
Diese Einstellung brauchen Sie, wenn Sie Fortschritte und Erfolge haben wollen. Das gilt natürlich nicht nur für Guillain-Barré-Syndrom-Patienten, sondern für alle Menschen in allen Lebenslagen.
Toll so ein Erfolgsrezept, nicht wahr?
Jetzt wissen wir endlich alle, was wir unser Leben lang falsch gemacht haben und kennen die Lösung für alle Probleme. Wir müssen nur immer bedingungslos optimistisch sein, und das jederzeit. Immer und überall. 
Nichts leichter als das!
Wie sollte uns Bobtis denn irgend etwas aus der Bahn werfen?
Uns was?
Bobtis.
Ein Bobti ist ein bedingungsloser Optimist. Das ist meine eigene Wortschöpfung. Ist mir jetzt gerade beim Schreiben eingefallen. Gut, oder?
Na ja, geht so...
Das denken Sie sich sicher gerade. Aber jetzt im Ernst: Wer wird den in einer Zeit der selbstfinderischen, erfolgsorientierten, konzeptuell erstellten, To-Do-Listen orientierten, sich mit überfliegend motiviertem Adlerblick durchs Leben fortschreitenden Zeit der Wikipedia-Bildung und des Positiven Denkens an sich selbst zweifeln? Mann, das war ein langer Satz.
Sie etwa? Zweifeln Sie? An sich selbst? An Ihrer Zukunft?
Zweifeln Sie gar daran, wieder gesund zu werden?
Oder verzweifeln Sie manchmal sogar?
Ich habe eine gute Nachricht für Sie: Das dürfen Sie nicht! Schließlich gibt es keine Probleme, sondern nur Lösungen, und das Glas ist immer halb voll. Und alle Wege führen nach Rom, das nicht an einem Tag erbaut wurde. Selbst die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Das ist das schöne am Leben: es ist ein Tageskalender mit Sprüchen zum Abreissen.
Für alle, die es nicht wissen sollten: für einen Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom ist das Glas weder halb voll, noch halb leer.
Für uns ist das verdammte Glas zu schwer, um es auch nur einen Millimeter anheben zu können. Von der eigenen Stimmung und der Lebensfreude ganz zu schweigen. Am ersten Tag meiner Reha sagte ein Arzt zu mir: "Aber Ihre Lebensfreude ist noch da." Es war keine Frage. Es war eine Feststellung. Eine Art Diagnose. Dummerweise war sein Befund mit der Realität kontraindiziert. Was ich ihm erwidern wollte, waren die Worte des Dr. Faust von Goethe: "Und so ist mir das Dasein eine Last. Der Tod ist mir erwünscht, das Leben mir verhasst." Ich hoffe, dass es Ihnen nicht auch so geht. 
Wie oft habe ich mir vor dem Einschlafen gewünscht, am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen?
Zu oft. Viel zu oft.
Und wie oft bin ich wieder aufgewacht?
Jeden Tag.
Heute bin ich froh darüber. Aber heute bin ich auch wieder richtig wach. Noch vor einem Jahr und in dem Jahr davor war ich in einem ständigen Dämmerschlaf aus Angst und Verzweiflung. Orientierungslos. Zukunftslos. Hoffnungslos. Das lag aber nicht an meiner Krankheit, den Medikamenten oder den medizinischen Prognosen. Die Prognosen waren von Anfang an sehr gut. Nur einmal hat mir ein junger Assistenzarzt mit Tränen in den Augen gesagt, dass es sein könnte, dass ich mein ganzes Leben lang total gelähmt bleiben werde. Damals machte mir das noch mehr Angst als ich ohnehin schon hatte, aber ich war ihm gleichzeitig dankbar dafür. Er war der Einzige, der nicht diese grauenhafte "Wird-schon-wieder"-Mentalität verströmte. Alle anderen Ärzte haben mir auch die Wahrheit gesagt und mich auch hervorragend behandelt, ab er servierte mir seine Prognose auf einem goldenen Tablett mit scharfen Rändern.
Er und die Putzfrau waren meine wichtigsten Propheten. Sie erinnern sich an die Putzfrau? Sedita, oder so ähnlich, die zu mir sagte: "Mit ein bisschen Wünsch geht alles."
Und damit, mein lieber Bopti, wären wir wieder beim Thema dieses Blogposts. Bis hierhin habe ich meine Sätze mit ein bisschen Zynismus gewürzt. Aber Zynismus ist besser als Zyankali. Ich wollte immer leben. Zuerst nur überleben, dann weiterleben und jetzt wieder richtig leben. Ein neues Leben.
Vita nuova, wie Dange es nannte.
Das neue Leben.
Aber ist das ganze Leben letztlich nicht eine Göttliche Komödie? Ich zumindest kann den Witz im Wahnwitz erkennen. Wenn es mir gut geht. Den Sinn im Irrsinn. Wenn auch Sie GBS haben und dies hier lesen, haben wir beide die Hölle des Guillain-Barré-Syndroms bereits hinter uns. Andere sind nicht so glücklich wie wir. Mein Physiotherapeut hat mir gesagt, dass es hier im Behindertendorf Assista Altenhof noch einen zweiten Bewohner mit GBS gibt. Er will aber niemanden sehen und kann nur mit seinen Augen kommunizieren. Mehr darf er mir nicht sagen, wegen der Schweigepflicht. Sicher ist dieser Patient in einem ähnlichen Zustand wie ich es war. Da war ich allerdings noch auf der Intensivstation, konnte meinen Kopf bewegen und sprechen. Dieser Mann scheint sich noch im Zustand der Tetraparese zu befinden, also der vollständigen Lähmung aller vier Gliedmaßen, aber das ist nur meine Vermutung.
Ich würde ihn gerne kennenlernen. Um ihm Mut zu machen. Und um ihm zu zeigen, in welchem gesundheitlichen Zustand man mit dem Guillain-Barré-Syndrom nach zwei Jahren sein kann. Bisher war ich nicht so der Samariter- und Missionarstyp, aber das würde ich wirklich gerne tun. Vielleicht ergibt es sich ja irgendwann.
Oder vielleicht ist er gar nicht so verzweifelt wie ich es war. Ich kann mir das zwar nicht vorstellen, aber es gibt solche Menschen. So oder so, auf jeden Fall wird mein GBS-Kollege dasselbe brauchen wie wir alle. Und damit meine ich uns wirklich alle, nicht nur die GBSler.
Wir brauchen bedingungslosen Optimismus.
Aber wo kriegen wir den her?
Wenn nichts so läuft wie es soll, wenn der Weg immer länger und steiniger wird, wenn andere schon längst aufgegeben haben und sich damit zufrieden geben, lediglich zu überleben, anstatt richtig zu leben.
Freudvoll und erfüllt zu leben.
Die Antwort ist einfach, und mehr als das habe ich leider nicht anzubieten.
Wir geben nicht auf und erinnern uns immer daran, dass der Weg da ist. Auch, wenn er uns unbegehbar erscheint und wir unseren Durst nach dem Leben nicht stillen können, weil auf der Strecke nur halbleere Gläser stehen, die wir nicht aufheben können.
Der Weg ist da. Für mich, für Sie, für Dich, für uns alle.
Wenn Ihnen das reicht, um den bedingungslosen Optimismus aufzubringen, der den Weg letztlich doch noch begehbar macht, gehören Sie zu den Glücklichen und Gesegneten. Ich weiß noch immer nicht genau, ob ich selbst dazugehöre, weil das Gehen fällt mir immer noch sehr schwer, und ich muss mich dabei an einem Barren festhalten. Außerdem kann ich die Fußrücken nicht anhebn.
Früher habe ich gesagt, nicht mehr. Ich kann die Fußrücken nicht mehr anheben. Aber heute sage ich: noch nicht. Ich kann die Fußrücken nach zwei Jahren zwar noch immer nicht anheben, aber ich kann gehen. Das trägt zu meinem Optimismus bei, obwohl ich gestehen muss, dass er nicht ganz bedingungslos ist.
Noch nicht.
Wenn im Leben alles gut läuft, kann jeder ein Bopti sein. Das ist kein Problem. Ich selbst bin einer, der seine eigenen Ängste und Zweifel nicht mehr verstehen kann, wenn sie erstmal vorbei sind. Bis dahin leide ich seelisch wie ein Höllenhund, und jede kleine Unpässlichkeit wird bei mir zum Weltuntergang. Ich glaube dann, jetzt erfüllt sich mein Schicksal, und es war alles umsonst. All die Mühe, die ich mir gegeben habe, um wieder auf die Beine zu kommen, der Glaube an eine schöne Zukunft und die viele Hilfe, die mir in den letzten Jahren zuteil wurde.
Aber wenn Trudi (Sie erinnern sich...) dann nicht mehr zwickt, könnte ich schon wieder Bäume ausreissen. Dann ist die Zuversicht wieder da, die großen Erwartungen, teuren Pläne, und Bobti sieht, wie der Mann in Platos Höhlengleichnis, dass die Welt nicht nur aus Schatten an der Wand besteht, wenn man aus seiner Höhle erst einmal herausgekrochen ist.
Aber wie soll man in Momenten der Angst, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit noch optimistisch sein? Diese schreckliche Zeit ist für mich inzwischen zwar vorbei, aber ganz aus der Höhlenhölle namens Guillain-Barré-Syndrom bin ich noch nicht draußen, doch ich kann das Sonnenlicht, die Zypressen und das Meer schon sehen.
Also wie?
Die Antwort, die ich für mich gefunden habe, lautet: Einfach weitermachen. Einfach ist es zwar nicht, aber, wenn man aufgibt, schließt sich die Höhle für immer. Uns sie ist kein schöner Ort, glauben Sie mir. Ich war lange genug dort. Aber als Mensch mit GBS wissen Sie ja, wie das ist. Wenn man sich in derselben Situation befindet wie der bedauernswerte Bursche bei Plato.
Angeschnallt. Gefesselt. Bewegungslos.
Gefangen in einem Kopfleben.
Den Weg nach draußen findet man nur durch Willensstärke. Auch wenn man, glaubt, dass sie gestorben ist, ist Sie letztlich doch noch da. Zwar nicht gerade alive and kicking, aber zumindest als leise Stimme, die beharrlich flüster:
Weitermachen.
Just do it.
Tu' s trotzdem!
Das ist einer der Motivationssätze, die mir viel geholfen haben. Ich halte mich zwar nicht immer daran, gebe aber trotzdem nicht auf. Sie bitte auch nicht. Fallen Sie nicht in das Loch der Lethargie. Sonst passiert es Ihnen, dass Sie sich mit Ihrem Schicksal abfinden. Dann verlieren Sie zwar nicht Ihr Leben, aber etwas, ohne das ein richtiges Leben nicht möglich ist:
Sie verlieren sich selbst!
Wie Sie vielleicht aus einem meiner anderen Blogartikel wissen, bin ich davonn überzeugt, dass Zufriedenheit tötet! Nicht den Körper, aber die Seele.
Also, wenn Ihr GBS-Leben auch aus einem reinen Kopfleben besteht, verlieren Sie den Kopf deswegen trotzdem nicht!
Sie werden wieder gesund!
Sie werden nicht vielleicht wieder gesund, oder die Prognosen sind gut, oder Sie könnten sich wieder erholen, nein, sagen Sie sich immer wieder,  auch wenn die körperlichen und seelischen Schmerzen stark sind, und der Weg immer länger und steiniger zu werden scheint:
Ich werde gesund!
Ich!
Tu' s!
Trotzdem!


Zufriedenheit tötet!

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