Samstag, 31. Oktober 2015

Der Elefant im Monster Truck

Oft fällt es mir schwer, meine Situation aus der richtigen Perspektive zu betrachten. In meiner Vorstellung wächst ein Sandkorn schnell zu einem Sandsturm heran, der mich zu begraben droht. Meine Phantasie macht aus einer Fußnote ein welterschütterndes Drama. Das war zwar schon immer so, aber in Zusammenhang mit meiner Krankheit hat mich diese Eigenschaft viel Zeit und Fortschritte gekostet.
Aber damit muss ich leben. Mittlerweile kann ich das sogar ganz gut.
Ich habe gelernt, die objektiven Fakten zu meiner Krankheit, dem Guillain-Barré-Syndrom, ins Sonnenlicht treten zu lassen, während die Sorgen im Schatten dahinter verblassen. Das klingt so einfach, und mit ein bisschen Übung ist es das auch. Man muss es einfach nur tun. Schaden kann es nicht. Ebenso lernte ich, mir in Momenten des Zweifels und der akuten Angst die positiven Fortschritte und guten Prognosen meiner Ärzte und Therapeuten in Erinnerung zu rufen. 
Es sind meistens einfache Gedanken, die meine Stimmung sofort wieder aufhellen. Einer dieser Gedanken lautet:
Ich übertreibe maßlos.
So wird aus einem einfachen, letztlich ja harmlosen Harnwegsinfekt, der mir nicht einmal Schmerzen bereitet, eine Nierenbeckenentzündung mit hohem Fieber, massivem Schüttelfrost und einem langsamen qualvollen Tod. Immer, während solche Gedanken durch meinen Kopf spuken, bin ich mir absolut bewusst, dass das reiner Unsinn ist. Ich weiß das, aber die Gefühle spielen dann schnell verrückt und es legt sich ein eiskaltes nasses Leichentuch auf mich und umhüllt mich.
Warum ich eine so ausufernde Vorstellungskraft habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ein sehr visuell orientierter Mensch bin, und die bildhafte Art zu denken für mich eine Selbstverständlichkeit ist. Vielleicht sind die Brüder Grimm schuld daran. Ich konnte mir schon als kleines Kind sehr lebhaft vorstellen, wie der Wolf die Großmutter frisst. Und damit meine ich nicht hapsundweg, sondern ich sah vor meinem inneren Auge die ganzen farbenprächtigen Details.
Einfache rationale Gedanken hatten bei mir also keine Chance gegen die Gewalt der Bilder in meinem Kopf. Also war es für mich naheliegend, dass ich das rationale Vernunftdenken stärken musste. Aber wie? Wie verwandle ich den Elefanten zurück in eine Mücke?
Irgendwann, als ich damit angefangen habe, meine Fortschritte und alles Schöne, das ich im Laufe meiner Krankengeschichte erlebt hatte, bewusst in meine Erinnerung zurückzurufen. Schon im Dezember 2014 ist es mir gelungen, aus dem Rollstuhl aufzustehen und ein paar Schritte zu machen. Ich hielt mich am Rollator fest und stand zuerst nur eine zeitlang da. Schon in der Woche davor habe ich mir vorgenommen, bei diesem Versuch zumindest einen Schritt zu machen. Nur, um mir zu beweisen, dass ich wieder gehen kann. Aus einem Schritt wurde ein zweiter und dann ein dritter.
So konnte ich nach eineinhalb Jahren Lähmung von einer Sekunde auf die andere wieder gehen. Na ja, ganz so schnell ging es natürlich nicht. Es waren auch eineinhalb Jahre Physiotherapie und Übungen zur Festigung der Rumpfstabilität nötig. Und meine Schritte waren zaghaft und wacklig.
Aber für mich war es, als hätte sich in diesem Moment ein breites und schwer verriegeltes Tor plötzlich weit geöffnet und den Blick auf eine sonnengeflutete Landschaft freigegeben. So unbedeutend diese Leistung gewesen sein mag, übervorsichtig und verängstigt die drei ersten Schritte zu machen, für mich war sie wie eine Wiedergeburt. Das Tor fiel mit einem ohrenbetäubenden Krachen hinter mir zu, und die Lähmung war für mich Geschichte. Ein neues Zeitalter meines Lebens brach an. Hier, in diesem kleinen Therapiezimmer mit dem grauen Linoleumboden und der viel zu warm eingestellten Heizung.
Gleichzeitig war mir klar, dass es von hier noch ein weiter Weg sein würde, bis meine Schritte wieder fest und sicher sein würden. Aber von diesem Augenblick an war ich nicht mehr der Gelähmte, sondern konnte wieder gehen. In diesem flüchtigen Wimpernschlag der Zeit drehte sich die Achse meiner Welt, und ich stand wieder auf den Beinen.
Erst an diesem Tag, achtzehn Monate nach dem Ausbruch der Krankheit, war für mich die Heilung nicht mehr nur im Bereich des Möglichen. Jetzt bin ich geheilt, dachte ich. Der Rest ist Training. Und so war es dann auch. Zugegeben, ich kann auch heute, zwei Jahre und vier Monate nach Ausbruch des GBS, noch immer nicht frei gehen, aber mit Barren funktioniert es schon sehr gut. Kraft und Sicherheit brauche ich noch. Ich kann mittlerweile auch ohne die Hilfe meines Therapeuten Wolfgang aus dem Rollstuhl aufstehen, wenn ich mich am Rollator festhalte und einen kräftigen Schwung nach vorne nehme. Aber das gelingt mir nicht oft. Meine innere Blockade, die alte menschliche Urangst vor dem Fallen, hindert mich daran.
Ein solches Erlebnis wie die ersten drei Schritte ist so wegweisend, dass es selbst die größte Angst und die tiefste Trauer in Schach halten kann. Egal, was nach diesem Tag im Dezember passierte, es war nie wieder so schrecklich wie davor. Tiefenvenenthrombose, Katheterängste, Gegenstände, die mir aus der Hand fielen, Schwermut, Zukunftssorgen, Selbstwerteinbrüche und endlose Phasen des Stillstands, stellte dieser eine Gedanke in den Schatten:
Ich kann wieder gehen!
Dazu das Bild, wie ich staunend und fassungslos vor Freude an mir hinunterblicke und meinen rechten Fuß in einem schwarzen Hausschuh sehe, der sich vom Boden hebt, ein paar Zentimeter nach vorne bewegt und schließlich wieder auftritt. Jetzt war der E-Rolli für mich kein ewiges Schicksal mehr, sondern verwandelte sich hinter mir in ein echt cooles Spielzeug. So ähnlich wie das rote Kettcar, das ich als Kind hatte, allerdings nicht ganz so cool. Das Kettcar war tiefergelegt, der E-Rolli ist eher eine Art Monster-Truck.
Heute setze ich solche Gedanken und Erinnerungsbilder bewusste ein, wenn ich merke, dass mich Zweifel, Ängste und Pessimismus wieder heimsuchen wollen. Wenn sich mein Katheter Trudi dazu entschloss, mir den Tag schwer machen zu wollen, indem er ständig an meiner Blase zog, als wäre ich eine Wasserpfeife, dachte ich mir:
"Das ist doch alles harmlos."
Oder ich stelle mir vor, wie ich abends wieder im Bett liege und in meine Tagebuch-App schreibe, dass es mir unverständlich ist, dass ich mir wieder Sorgen wegen nichts gemacht habe. Dann muss ich über mich selber lachen.
Vor einem Jahr konnte ich das noch nicht. Vor einem Jahr war mein Ausblick auf die Zukunft oder auch nur den morgigen Tag nicht positiv und hoffnungsvoll. Jetzt schon. Ich konnte mich über nichts mehr freuen. Über nichts und auf nichts. Diese Form der generalisierten Angststörung begleitet mich auch heute noch, aber nur als Autostopper. Die Angst fährt jetzt nicht mehr mit einem Panzer über mich drüber.
Die Erfahrung, die Erfolge und der Wechsel des Blickwinkels haben das hervorgebracht. Mit der geduldigen Hilfe meiner Krankenschwestern, Krankenpfleger, Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, Verwandten und all der vielen anderen Menschen, die mich auf meinem Weg begleiten. Sie alle haben keinen leichten Job mit mir.
Um mich aufzuheitern braucht man ein ganzes Dorf.
Vielleicht haben Sie ganz ähnliche Erfahrungen mit dem Guillain-Barré-Syndrom oder einer anderen Krankheit gemacht. Falls Sie noch nie auf meinem Blog waren, aber durch irgendeinen Link hierhergefunden haben, kann ich nur hoffen, dass Sie hier ein paar gute Tipps finden werden. Vielleicht kann ich Ihnen auch ein bisschen Auftrieb und Hoffnung geben oder Sie sogar gelegentlich zum Schmunzeln bringen. Oft denke ich mir, dass es eigentlich sinnlos ist, diesen Blog immer weiter zu führen, aber dann sehe ich die 14.037 Seitenaufrufe und überlege es mir anders.
Ist das der Schlüssel zum Erfolg? Es sich einfach anders zu überlegen? Bei trüben Gedanken einfach das Gegenteil zu denken und sich darüber zu wundern, wie schnell sich die Laune doch bessert? Ich praktiziere das seit einiger Zeit ziemlich erfolgreich.
Ich vertausche die Sorgen gegen Fakten und Erfolgsbilder. Ich scheue auch nicht mehr davor zurück, mich zu früh zu freuen. Ich habe es einfach ausprobiert, und es hat geklappt. Ich denke mir: 
"Ich wache auf und freu' mich auf den Tag."
Das ist eine der erfolgreichsten Affirmationen, die ich bisher verwendet habe. In meinem Blogpost "Mach Dich neu! Affirmationen und Mantras" können Sie lesen, wie das geht. Außerdem können Sie sich Ihre eigenen Motivations- und Mutmachersätze ausdenken und aufschreiben. Am besten erstellen Sie eine Liste mit Gedanken, die Sie tagtäglich quälen und verkehren sie in ihr positives Gegenteil.
Aus "Morgen geht das alles wieder von vorne los. Ich werde wieder den ganzen Tag gelähmt im Bett liegen, unsicher sein und aus meinen Depressionen nie wieder herauskommen" machen Sie:
"Ich wache auf und freu' mich auf den Tag!"
Sagen Sie sich das vor dem Einschlafen im Flüsterton oder auch laut so lange vor, bis Sie müde werden. Ich schlafe dabei sogar manchmal ein. Und tagsüber denken oder sagen Sie sich:
"Mir kann nichts mehr passieren. Ich hab' s geschafft!"
Auch wenn Sie gesundheitlich vielleicht noch nicht so weit sind, dass Sie das wirklich glauben können, kann ich Ihnen sagen, dass der Moment kommen wird. Bei fast allen GBS-Patienten kommt er. Der Augenblick, an dem Sie erkennen, dass Sie die Krankheit hinter sich gelassen und dass Sie es tatsächlich geschafft haben!
Was ich hier schreibe ist keine graue Theorie. Ich habe das alles selbst erlebt und praktiziere meine eigenen Tipps schon seit Monaten täglich. Das Resultat ist, dass ich inzwischen so zuversichtlich bin, dass mir kaum ein Ziel mehr unerreichbar scheint. Ich weiß jetzt, dass ich nicht für den Rest meines Lebens auf dem Rücken liegen und an die Zimmerdecke starren werde.
Diese Perspektive habe ich hinter mir gelassen, und beim Blick nach vorne tun sich neue Horizonte auf. 


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