Gehören Sie auch zu den Menschen, die in Krisensituationen immer gleich das Schlimmste befürchten? Und stellen Sie im Nachhinein dann fest, dass es nicht einmal annähernd so schrecklich war, wie Sie es sich in Ihrer überbordenden Phantasie vorgestellt haben?
Ich gehöre dazu. Eigentlich ist Phantasie ja ein Talent, aber sie kann einen auch ganz schön bedrücken. Im Laufe der zwei Jahre und vier Monate, die ich jetzt schon mit dem Guillain-Barré-Syndrom verbringe, habe ich mich schon in den schlimmsten Situationen gesehen und mir die grauenhaftesten Schrecknisse vorgestellt, die noch auf mich zukommen würden. Kleinigkeiten wie ein Katheterwechsel waren im Krankenhaus für mich noch eine Frage auf Leben und Tod. Ich hatte wirklich das beklemmende Gefühl, bei dem Katheterwechsel oder kurz danach sterben zu müssen. Ich wusste, dass das Unsinn ist. Ich komme aus einer Medizinerfamilie. Vater Arzt, Bruder Arzt, Mutter Diplomkrankenschwester. Von Kindesbeinen an war ich über die verschiedensten Krankheiten gut informiert. Etwa zwanzig Jahre lang habe ich meinen Vater auf Patientenvisite am Attersee begleitet. Das gehört zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens.
Aber als ich dann krank wurde, erkannte ich, wieviel ich wirklich von Medizin verstehe.
Gar nichts.
Es ist eine Sache zu wissen, dass Medikamente eine Krankheit heilen können, aber eine ganz andere, diese Medikamente durch einen zentralen Venenkatheter verabreicht zu bekommen, der direkt am Herz vorbeiführt. Gut, damals war ich noch fast ganz gelähmt und dementsprechend überängstlich. Aber das wirklich schlimme daran war das Gefühl der Machtlosigkeit und des Kontrollverlusts.
Soche Dinge wie Katheterwechsel, eine kleine Nachoperation oder eine Computertomographie wurden für mich zu einem schicksalshaften Drama. Ich glaubte wirklich, das sei jetzt der Anfang vom Ende und an diesem Tag würde sich mein Schicksal vollziehen.
Passiert ist nie etwas. Nicht einmal bei der Darmsepsis, bei der ich fast verblutet wäre. Im Vergleich dazu ist alles, was das Guillain-Barré-Syndrom so mit sich bringt doch harmlos. Es ist eine Erkrankung, die wieder abheilt. Sie werden es schon sehen!
Auch heute bedrängen mich noch solche Gedanken. Wenn ich in der Früh aufwache und schon ein Ziehen in der Blase spüre ist praktisch der ganze Tag für mich schon gelaufen. Dann kommt keine Freude mehr auf, und ich hänge nur in meinem E-Rolli und lese E-Books.
Beispielsweise über das Thema "Kognitive Verhaltenstherapie". Ich habe zwar nie eine solche Therapie gemacht, aber mir zumindest genug angelesen, um die Techniken dieser Therapieform für mich selbst sehr erfolgreich anzuwenden. Die Autoren der E-Books schreiben auch, dass man das in Selbsttherapie machen kann, obwohl es mit einem Therapeuten natürlich besser wäre.
Ganz knapp gesagt, geht es in der kognitiven Verhaltenstherapie darum, die negativen Gedanken und das ihnen folgende Verhalten durch positive Gegenstücke zu ersetzen. Das Wort Kognition bedeutet Wahrnehmung. In der KVT geht man davon aus, dass unsere Gefühlslage und Stimmung durch unsere Gedanken ausgelöst und bestimmt werden. Eine Möglichkeit, die schlechte Stimmung und die Depression, in der man sich befindet, aufzulösen ist, sich Fragen zu stellen, wie:
"Was hat meine momentane Stimmung ausgelöst?"
"Warum bin ich traurig?"
"Warum habe ich Angst?"
Die meisten Menschen stellen sich diese Fragen sowieso, aber diejenigen, die ihre Probleme nicht in den Griff kriegen, sind sich selbst gegenüber nicht hartnäckig genug. Ich wende in solchen Momenten die Technik an, mich an den Gedanken zu erinnern, der meine negative Stimmungslage ausgelöst hat.
Wenn ich frühmorgens in den E-Rolli gesetzt werde und sofort ein Ziehen oder Brennen im Schritt spüre, ist meine Aussicht auf gute Laune schon dahin. Dabei ist es gar nicht die Missempfindung selbst, die diese negative Stimmung auslöst, sondern die daraus resultierenden Gedanken. Wenn Sie ein gutes Gespräch führen oder einen spannenden Film sehen, können Sie vielleich den Drang, auf die Toilette zu gehen leicht zurückhalten. Zumindest eine Zeit lang. Sie wissen ja, dass nicht passiert und dass es kein Anzeichen für eine Krankheit ist.
Aber was geschieht, wenn Sie bereits mit diesem Gefühl aufwachen und feststellen, es bleibt immer gleich und verändert sich nicht? Sie tragen einen Dauerkatheter und wissen, dass er funktioniert. Außerdem haben Sie fast zweieinhalb Jahre Krankenhäuser, Reha, Operationen, beängstigende Diagnosen und so weiter hinter sich. Wenn Sie zu den Menschen gehören, die dann trotzdem gelassen bleiben und das Beste aus ihrem Tag machen, wenn Sie die Lebensfreude dabei nicht verlieren, beglückwünsche ich Sie.
Ich kann das inzwischen schon einigermaßen gut, aber ich bin noch immer weit davon entfernt, in Bezug auf meine Krankheit und ihre Folgen, unbeschwert und sorgenfrei zu sein. Also muss ich etwas unternehmen. Es gibt viele Therapieformen für seelische Probleme, aber sie reichen nicht aus, wenn man nicht auch selbst einen Beitrag zu seinem Seelenheil leistet.
Ich mache das, indem ich mir zuerst die Frage stelle, was genau die Traurigkeit oder Angst ausgelöst hat. Den Gedanken unmittelbar davor. Es gab und gibt Momente, in denen ich mich recht wohl fühle. Ich stelle dann fest, dass es nicht der Katheter selbst ist, der mich depressiv macht. Es ist auch nicht die Tiefenvenenthrombose mit Gefahr einer Lungenembolie, die mir eine Höllenangst einjagt.
Es sind meine Gedanken dazu.
Man nennt sie automatisierte Gedanken. Die hat man schon so sehr verinnerlicht und einprogrammiert, dass sie sich geradezu ins Hirn eingebrannt haben. Ich stellte mir oft vor, dass das Ziehen nie wieder aufhören würde. Und damit meine ich wirklich niemals wieder. Dass ich vielleicht den Rest meines Lebens damit würde verbringen müssen. Oder zumindest den ganzen Tag. Das alleine reichte schon, um meine mühsam aufgebaute Selbstsicherheit zum Wanken zu bringen. Ich fühlte mich dann wertlos und nicht würdig genug, gesund und fröhlich zu sein.
Bitte fragen Sie mich nicht, warum das so ist. Ich weiß es nicht. In der Technik der kognitiven Verhaltenstherapie geht es aber nicht darum, die Ursachen einer belastenden Situation zu klären, sondern in der Gegenwart nach Lösungen zu suchen. Man stochert nicht in der Kindheit oder in Träumen herum, sondern nutzt Techniken, die Zweifel, übertriebene Ängste und Depressionen abschwächen oder auflösen können.
Eine davon besteht darin, auf ein Blatt Papier zwei senkrechte Striche zu machen. Dadurch entstehen drei Säulen. In die erste schreibt man das Problem, in die zweite die Befürchtungen, die man hat und in die dritte eine objektive Betrachtung der befürchteten Konsequenzen. Am besten sollte man das schriftlich machen, nur darüber nachzudenken ist zu wenig. Die Gedanken fangen sonst an, wieder ziellos umherzuirren. Sie können das natürlich auch am Computer machen. Ich bin mir nicht sicher, ob die drei senkrechten Reihen wirklich nötig sind, ich habe die Angewohnheit, solche Dinge untereinander in eine Datei auf meinem iPad zu schreiben.
Auf jeden Fall ist es lohnenswert, eine Art Sorgeninventur durchzuführen. Man schreibt alle Dinge, die einen belasten, beängstigen und deprimieren nacheinander auf, erstellt dann eine Rangordung mit dem gravierendsten Problem ganz oben und schreibt dann unter jedes der Probleme die dazugehörige Befürchtung und deren nüchterne Betrachtungsweise.
Ängste und Depressionen lösen sich dadurch nicht sofort in Luft auf, aber bei mir hat die Technik, Listen meiner Probleme zu erstellen und dann schriftlich abzuarbeiten, zu einer äußerst zufriedenstellenden Aufhellung meiner Stimmung geführt. In letzter Zeit ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich schmunzle. Früher undenkbar. Manchmal schmunzle ich so ausführlich, dass man glauben könnte, ich lache.
Es liegt wohl daran, dass man durch solche Übungen das Gefühl zurückgewinnt, die Kontrolle über sein Leben zu haben. Ob Sie es glauben oder nicht, nur Sie allein bestimmen über Ihre seelische Verfassung. Stimmungsförderne Ernährung, soziale Kontakte, Freundschaften, vielleicht sogar eine liebevolle Partnerschaft, Therapien und im schlimmsten Fall Medikamente sind letztlich nur unterstützende Hilfen, aber selbst die beste Versorgung mit Serotonin, Putenfleisch und Bananen, ein guter Bekannten- und Freundeskreis und selbst eine objektiv-einfühlsame Therapeutin können Ihnen nicht weiterhelfen, wenn Sie die gute Laune und Freude in Ihrem Leben nicht zulassen. Selbst wenn das alles zusammenkommt, wird es nicht helfen, wenn Sie stattdessen an Ihren deprimierenden Gedanken festhalten. Oder, besser gesagt, darin festhängen.
Kaum zu glauben, aber wahr:
• Sie sind, was Sie denken.
• Ihre Gedanken formen Ihre Wirklichkeit.
• Mit jedem Gedanken erschaffen Sie sich selbst immer wieder neu.
Ihr Hirn kann nicht unterscheiden, ob Sie sich einen glücklichen Moment nur vorstellen, oder ob Sie ihn tatsächlich erleben. Man bezeichnet dieses Phänomen als Neuroplastizität. Alleine schon das Hochziehen der Mundwinkel bewirkt eine Endorphinausschüttung im Hirn. Endorphine gehören, ebenso wie das Serotonin zu den körpereigenen Glücklichmachern. Bei den Endorphinen handelt es sich um Opioidpeptide, die in der Hypophyse und im Hypothalamus produziert werden. Mit anderen Worten:
Ihr Hirn produziert die Drogen, die Sie glücklich machen.
Um zu lächeln, müssen Sie nicht glücklich sein. Aber ein Lächeln kann Sie glücklich machen. Es kann Sie fast schon in eine euphorische Stimmung versetzen. Das liegt aber nicht an irgendeiner magischen Wirkung, sondern ganz einfach nur daran, dass die Muskelbewegungen im Gesicht die Freisetzung von Endorphinen im Gehirn verursachen. Sollten Sie sich einmal in einer depressiven Stimmung befinden, probieren Sie es doch einfach aus! Lächeln Sie einfach nur so und beobachten Sie dabei Ihre emotionale Reaktion. Sie werden sehen, dass Sie sich schlagartig besser fühlen werden. Damit können Sie schwerwiegende Probleme oder existenzielle Lebenskrisen zwar nicht bewältigen, aber es stärkt Ihren Optimismus und Ihr Vertrauen, damit zu beginnen, diese Lösungen zu finden.
Suchen Sie nicht, finden Sie!
Wenn Sie jemand fragt, was Sie da machen, wenn Sie Ihre Brille verlegt haben, sagen Sie nicht "Ich suche meine Brille", sondern "Ich finde meine Brille." Ich nenne diese Einstellung "erfolgsorientierten Optimismus". dieser Ausdruck ist vielleicht etwas sperrig, aber er fühlt sich für mich besser an als das abgedroschene "positive Denken".
Positives Denken will nämlich gelernt sein! Es reicht nicht aus, einfach nur so zu tun, als wäre alles in Ordnung und würde schon gut ausgehen. Positives Denken oder erfolgsorientierter Optimismus funktionieren nur dann, wenn man sich seiner Probleme vollkommen bewusst wird. Das bedeutet:
• Finden Sie heraus, was genau Ihr Problem ist
Denken Sie darüber nach. Sein Sie dabei so neutral wie möglich
• Erstellen Sie eine Problemliste
Schreiben Sie alles, wirklich alles, auf, was Sie belastet. Von der Angst um das eigene Leben bis hin zum viel zu sauren Salatdressing. Zensieren Sie sich dabei nicht selbst. Schreiben Sie einfach, Stichwortartig und schnell. So erstellen Sie eine Art "Einkaufsliste zum Glück". Am besten ist es, wenn Sie immer etwas zum Notieren mit sich führen. Ein Notizbuch oder Ihr Smartphone. Ein Diktiergerät ist auch hilfreich oder eine entsprechende App. Wenn Sie die Liste so umfangreich und detailliert wie möglich erstellt haben, können Sie damit beginnen, für jedes Problem und jeden negativen Gedanken eine Lösung zu finden.
• Notieren Sie den Super-GAU
Schreiben Sie sich das schlimmste Horrorszenario auf, dass Sie mit Ihrem Problem in Verbindung bringen. Aber keine Fantasy, sondern das, was Ihnen wirklich Angst macht. Dabei können Sie ruhig unwahrscheinliche oder irreale Dinge notieren. Alles, was Ihnen Angst macht oder Sie depressiv stimmt, ist für Sie real.
Ich sah mich in der Zeit der Tiefenvenenthrombose im Krankenbett liegen, während mich Schüttelfrost, Krämpfe und Schmerzen heimsuchen und mir einen ewig langen und qualvollen Tod bringen. Das war nicht einmal so übertrieben, denn Lungenembolien verlaufen zumindest so ähnlich.
• Formulieren Sie eine objektive Sicht der Dinge
Schreiben Sie auf, was höchstwahrscheinlich passieren wird. Sein Sie dabei so neutral wie möglich. Ignorieren Sie Ihre Schreckensvisionen von Blut, Krämpfen und Schmerz, sondern erinnern Sie sich an das, was die Ärzte Ihnen gesagt haben. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an Ihre Ärzte.
Folgender Punkt ist vielleicht der wichtigste: Wenn Sie nicht wissen, wovor Sie eigentlich genau Angst haben, sondern eher eine diffuse Beklemmung spüren, denken Sie objektiv darüber nach, was so gut wie sicher passieren wird. Seien Sie sachlich. Und vor allem:
Schreiben Sie es auf! Nur darüber nachzudenken genügt nicht. Gedanken, so mächtig und lebensbestimmend sie auch sein mögen, sind fliehende Pferde. Sind sie erstmal entkommen, ist es schwierig, ihnen die Zügel wieder anzulegen.
Kürzlich sagte eine Krankenschwester zu mir, ich hätte ein "Helfersyndrom", weil ich in meinem Blog immer Tipps und Ratschläge gebe. Vielleicht habe ich das wirklich. Auf jeden Fall ist es mir ein großes Anliegen möglichst vielen Menschen, die am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt sind, die Geschichte eines Leidensgenossen zu erzählen. Ich bemühe mich, die medizinischen Fakten so genau und knapp wie möglich wiederzugeben.
Aber im Mittelpunkt steht für mich, GBS-Betroffenen das anzubieten, was ich mir eineinhalb Jahre lang vergeblich gewünscht habe:
Den Verlauf der Krankheit und der Heilung beim Guillain-Barré-Syndrom.
Ich möchte meine Erfahrungen mit der Krankheit weitergeben, damit jemand, der das gleiche erlebt wie ich, einen Einblick in das bekommt, was ihm bevorsteht. GBS ist eine sehr nebulöse Angelegenheit. Niemand weiß genau, wo es herkommt, wie es verlaufen und wie lange es dauern wird. Es ist kein schönes Gefühl, aus einem zweiwöchigen künstlichen Koma aufzuwachen, zu hören, dass man von Kopf bis Fuß gelähmt ist und nicht zu wissen, was einen erwartet. Ob man überhaupt mit dem Leben davonkommen wird. Und, wenn ja, in welchem körperlichen und seelischen Zustand.
Also erzähle ich meine Geschichte, damit sie für die Ahnungslosen und Verzweifelten von einem Einblick zu einem Lichtblick wird.
Licht ist immer gut. Davon bin ich überzeugt, meine Freunde.
Licht ist immer gut.
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