Samstag, 24. Oktober 2015

Der Körper ist ein Witz

Ich habe leider einen Hang zur Dramatik. An sich ist das etwas Gutes, denn er hat mich schon in früher Kindheit dazu gebracht, mich für Filmgeschichte, für das Zeichnen und Malen und Literatur zu interessieren. Auch heute ist es noch so, dass ich versuche, alles, was ich erlebe, künstlerisch zu verarbeiten.
 
Kreativ zu sein bedeutet für mich, am Leben zu sein. Die Kreativität ist für mich das Lebenselixier schlechthin. Selbst auf der Intensivstation, diese durstigen zwei Monate lang, habe ich mir bei all meiner Hoffnungslosigkeit überlegt, wie ich all das später literarisch, oder durch eine andere Form der Kunst, verarbeiten könnte.
Ich habe mir Geschichten ausgedacht und an meiner Zukunft als Autor gearbeitet. Begleitet waren diese Träume immer von dem Gedanken, dass das alles Weltfremd und unrealistisch ist. So dachte ich zwar auch früher schon, aber in dieser Ausnahmesituation, völlig bewegungslos, wurden meine Zweifel immer größer und stärker. Immer mächtiger. Bedrohlich.
Genau das ist die negative Seite meiner Vorliebe für Drama und Pathos. Wenn ich selbst in einer solchen Situation bin, befürchte ich immer das Schlimmste. Meine Phantasie ist da grenzenlos. Und obwohl ich ansonsten ein sehr auf Vernunft und Logik aufbauend denkender Mensch bin, werde ich in Krisenmomenten zum Spielball mir böse gesonnener Mächte.
Vielleicht bin ich auch nur zu eingebildet und halte mich für zu wichtig, aber ich glaube dann immer, dass sich jetzt ein grauenvolles Schicksal vollziehen wird. Dass ich jetzt die Strafe für meine Verfehlungen bekomme und der Sensenmann ernten wird, was ich selbst gesät habe.
Zugegeben, ich war in meiner früheren Jugend kein sehr zielstrebiger Mensch. Ich war träge, faul, selbstorientiert, egoistisch, ungeduldig und arrogant. Meinen Eltern habe ich das Leben schwer gemacht, indem ich nutzlos vor dem Fernseher saß, selbst bei schönstem Wetter nicht hinausging und immer nur an irgendwelchen Roman- oder Filmideen bastelte. Und zeichnete. Meiner Mutter haben meine Bilder gefallen. Ich werde nie wieder ein so strahlendes Gesicht wie ihres sehen, wenn jemand meine Pastellportraits von Kindern sieht. Aber selbst meine Freude an der Kreativität brachte mich im Leben nicht weiter, obwohl ich eine abgeschlossene Ausbildung zum Werbegrafiker habe. Dazu hatte ich noch ein ungesundes Essverhalten, wurde immer dicker und träger und schwemmte meine Sorgen und Existenzängste mit Bier weg.
Kurz gesagt: Ich war ein Nichtsnutz und Versager. Mein Vater starb 2001 im September. Er hat es nicht erlebt, dass aus mir ein fleissiger und glücklicher Mensch wird. Meine Mutter auch nicht. Sie starb im August 2014. Seitdem lebe ich in einem seelischen Niemandsland.
Ich habe meine ganze Welt verloren. Alles, was mich ausgemacht hat, all die Insignien meiner Persönlichkeit, wurden mir im Juni 2013 entrissen, als ich auf der Intensivstation aufwachte und über meine Krankheit informiert wurde.
Schon davor hatte ich einige Jahre lang die Wohnung nicht mehr verlassen. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern ich konnte aufgrund meines extremen Gewichts von über 160 Kilo nicht mehr gehen. Wobei dieses Gewicht nur eine Schätzung ist. Die Waage, die wir zuhause hatten, reichte nur bis 140 Kilo. Irgendwo in irgendeinem Befund muss es wohl stehen, was ich bei meiner Einlieferung ins Krankenhaus gewogen habe.
In den Jahren vor der Erkrankung verbrachte ich meine Zeit zu Hause mit schlafen, fernsehen und schreiben. Unproduktiv war die Zeit nicht. Vier Romane und unzählige Ideen für zukünftige Projekte sind dabei entstanden, sowie hunderte Seiten Tagebuch. Damals noch handschriftlich. Glücklicherweise habe ich all diese Aufzeichnungen noch. 
Mir geht es gesundheitlich zwar zunehmend besser, aber mich plagen vor allem Zukunftsängste und die Überzeugung, dass sich meine Träume nicht mehr erfüllen werden. Ganz einfach, weil ich zu alt bin. Ich bin jetzt 46.
Ich hatte große Träume, wie ein erfolgreicher Filmregisseur zu werden oder ein Bestsellerautor. Die Welt zu bereisen, Abenteuer zu erleben, darüber zu schreiben und Filme zu drehen, ein glückliches Leben zu führen, eine Frau zu finden, Kinder zu haben, ein schönes Haus irgendwo am Wasser und so weiter. Im Grunde nichts Besonderes. Millionen Menschen haben solche Träume und erfüllen sie sich. 
Ich gehöre zu denen, die das nicht geschafft haben. Noch vor einigen Jahren habe ich gesagt "noch nicht", aber das noch ist zusammen mit meinen Eltern und meiner Gesundheit gestorben. Diese Träume sind tot.
Oder?
Ich würde jetzt gerne voller Überzeugung schreiben, dass sie wieder aufleben und jeden Tag stärker werden, aber so recht kann ich das doch nicht glauben. Da ist meine Neigung zu dramatischen Übertreibungen dann doch nicht mächtig genug. Negative Dinge kann ich mir sehr plastisch vorstellen und sie auch fühlen, aber bei positiven Ausblicken klappt es nicht zu recht. Ich bin viel zu sehr davon überzeugt, dass meine seelischen Blockaden zu gewaltig sind, um irgendetwas von dem zu erreichen, was ich wirklich will.
Das alles sollte eigentlich nur eine kurze Einleitung zu dem werden, was ich Ihnen sagen möchte:
Übertreiben Sie nicht!
Machen Sie Ihr Schicksal nicht größer und bedrohlicher als es wirklich ist! Ihre Krankheit ist keine Strafe für Ihre Versäumnisse, Verschwendungen und all die kleineren und größeren Gemeinheiten, die Sie anderen Menschen angetan haben. Ich gebe zu, dass ich mir das oft denke. Eine solche Krankheit, die mich vom ersten Tag an seelisch weitaus mehr belastet hat als körperlich, habe ich verdient. Für all die vergeudeten Lebensjahre, die ich mit Nichtstun verbracht habe, immer vom großen Erfolg träumend. Grafiker ist ein guter Beruf. Mit mehr Fleiss und Verantwortungsbewusstsein hätte ich damit mein Leben finanzieren können. Es gibt Kollegen, die verdienen ein Vermögen in der Werbebranche. Wer kann schon von sich sagen, dass er mit künstlerischen kreativen Arbeiten seinen Lebensunterhalt bestreiten kann?
Könnte. Gekonnt hätte. So, wie ich es gekonnt hätte, wenn ich mich dazu aufgerafft hätte, das Lenkrad auf der holprigen Straße meines Lebens früher herumzureissen. Habe ich aber nicht. Gut, ich habe ein paar Bücher geschrieben und veröffentlicht, ohne dafür Druckkostenzuschuss bezahlt zu haben. Aber sehe ich das als Leistung? Nein. Zumindest keine große. Ich hätte mehr aus mir machen können. Aber ich war zu schwach, zu ängstlich, zu wenig selbstbewusst und zu faul.
Und dann lag ich zwei Wochen im künstlichen Tiefschlaf, wäre fast verblutet, erstickt, an einem Herzversagen, einem Nierenversagen und einer Darmsepsis gestorben und war nach all dem ein halbes Jahr lang am ganzen Körper gelähmt. Meine Mutter ist gestorben, unsere Wohnung habe ich verloren, weil ich so lange nicht dort war. Zwei Jahre und vier Monate sind seit meiner Einlieferung ins Krankenhaus vergangen. Gelähmt bin ich zwar nicht mehr, aber gehen kann ich noch immer nicht. Zumindest nicht richtig. Frei, ohne Stützstangen. Und selbst in einer solch zuerst bedrohlichen und dann beschwerlichen Lebenssituation mache ich dieselben Fehler wie früher. Ich trainiere zu wenig, esse zu viel und führe noch immer ein Kopfleben, während das wahre Leben rund um mich herum auf eigenen Beinen vorbeigeht.
Irgendwie geschieht mir das alles recht. Alle Chancen, die ich hatte, habe ich vertan. Das Resultat sind Selbstzweifel, die mich jetzt noch immer nicht aus dem Rollstuhl rauslassen wollen. Wahrscheinlich können Sie das nicht verstehen, um ehrlich zu sein, ich verstehe es ja selber nicht:
Ich kann aus dem Rollstuhl aufstehen, aber ich traue mich nicht.
Die Angst hinzufallen ist immer noch zu groß. Mit einem Sturz vor meinem Bett hat alles angefangen. Zwar muss ich das Guillain-Barré-Syndrom schon Wochen davor bekommen haben, aber ich konnte noch immer gehen. Zwar brauchte ich einen Stock, aber vom Bett zur Toilette, zum Fernsehsessel und abends wieder zurück ins Bett habe ich es geschafft. Dann fiel ich vor dem Bett hin und konnte nicht mehr aufstehen. Das war Anfang Juni 2013. ein paar Tage verbrachte ich noch zu Hause, zuerst in meinem Bett, dann am Boden.
Als meine Mutter gerade einkaufen war, dachte ich mir, es müsse doch möglich sein, dass ich es bis ins Wohnzimmer schaffe, mich dort auf den Sessel setze und warte, bis meine Mutter wieder zurückkommt. Aufstehen und gehen konnte ich nicht. Das war vollkommen ausgeschlossen.
Aber kriechen.
Also habe ich mich vorsichtig vom Bett auf den Boden gleiten lassen und bin auf dem Bauch ins Wohnzimmer gerobbt. Es war mühsam, aber ich war optimistisch, dass jetzt alles gut werden würde. Was für ein Wahnsinn das alles war, wurde mir erst auf der Intensivstation bewusst. Und jetzt, während ich darüber schreibe.
Im Wohnzimmer angekommen, schaffte ich es nicht, mich in den schwarzen Ledersessel hochzustemmen. Also blieb ich am Boden sitzen. Ich wartete, bis meine Mutter nach Hause kam. Als sie schließlich die Wohnung betrat, konnte sie nicht glauben, was sie sah und hat sich gefreut, dass ich das geschafft habe. Um es kurz zu machen: Zwei oder drei Tage blieb ich am Boden vor dem Fernsehsessel liegen. Mama war entsetzt, dass ich mich nicht ins Krankenhaus einweisen lassen wollte. Aber sie legte mir ein Leintuch, eine Decke und einen Polster zurecht und machte mir so ein warmes und weiches Bett.
Auf dem Boden.
Da lag ich dann. Ich sah fern, schlief, benutzte eine Harnflasche, aß ein bisschen Schokolade und Kuchen und versprach meiner Mutter, mich am nächsten Tag mit der Rettung ins Krankenhaus bringen zu lassen. Sie war der Verzweiflung nahe und bat mich immer wieder, doch endlich ins Krankenhaus zu fahren. Aber ich blieb stur. Aus Angst. Angst, im Krankenhaus zu sterben.
An den Rest erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur aus Mamas Erzählungen, dass ich an einem Sonntag, etwa um zwei Uhr Nachmittags, mit verkrümmtem Körper und eingezogenen Armen auf dem Boden lag und das Bewusstsein verloren hatte. Mama rief sofort die Rettung und einen Arzt, und so kam ich ins Landeskrankenhaus Vöcklabruck.
Ich habe diese Episode deshalb geschildert, um Ihnen verständlich zu machen, dass ich glaube, meine Krankheit verdient zu haben. Wäre ich schon viel früher in meinem Leben selbstständig geworden, hätte mehr Fleiss aufgebracht und hätte vernünftiger gelebt, wäre das alles nicht passiert. Zumindest nicht so. Das Guillain-Barré-Syndrom hätte ich vielleicht trotzdem bekommen, aber es wäre alles anders verlaufen. Meine Mutter wusste schon seit einigen Jahren, dass sie einen operationsbedürftigen Herzklappenfehler hatte. Aber sie wollte sich nicht operieren lassen, weil ich nicht versorgt war. Also hat sie die Operation immer weiter hinausgeschoben. Dann wurde ich krank, und schließlich verschlimmerte sich Mamas Gesundheitszustand. Das geschah sehr plötzlich. Sie hat mich in Altenhof ja noch ein paar Mal besucht, und wir haben jeden Tag telefoniert.
Ich gebe mir selbst zwar nicht die Schuld daran, dass Mama tot ist, aber wenn ich früher alles richtig anstatt falsch gemacht hätte, wäre sie vielleicht noch am Leben. Ich denke, das verdeutlicht, warum ich glaube, dass ich es letztlich nicht besser verdient habe.
Der menschliche Körper ist ein Witz. Egal, ob gesund oder krank, behindert oder nicht behindert. Der Körper des Menschen, mit all seinen Funktionen, ist nichts weiter als ein biochemischer Misthaufen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich behinderten Menschen jemals nacheifern würde. Nicht in ihrer Leidensfähigkeit, sondern in ihrem Lebensmut und ihrer Unternehmungslust. Ich hätte diese Einstellung zum Leben auch gerne. Aber ich glaube, die kommt noch. Ich spüre direkt, wie ich immer zuversichtlicher werde. Dieses schwer zu beschreibende Klima, das hier in Altenhof herrscht, färbt ab.
Und mit Farben kenne ich mich aus. Obwohl ich mein Leben eher als surrealistisches Gemälde betrachte, merke ich doch, dass ich mich in meiner Sicht auf die Welt und das Leben dem Impressionismus annähere. Ich sehe das Leben nicht mehr so sehr als eine über eine Tischkante rinnende Uhr. Wenn ich nämlich die Augen ein bisschen zusammenkneife und ganz genau hinschaue, sehe ich hinter dem Fenster meines Zimmers die Seerosen.

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