Samstag, 17. Oktober 2015

Der Traum vom Leben

Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine sehr schwere Krankheit. Sie ist in der Akutphase lebensbedrohlich, insbesondere durch einen möglichen Atemstillstand. Es gibt lebensgefährliche Folgeerscheinungen, wie die Tiefenvenenthrombose mit Gefahr einer Lungenembolie. Hatte ich. Außerdem wirkt sich GBS auf die Psyche aus. Das ist vielleicht sogar das Schlimmste an allem.
Zwar betrifft die Zerstörung der Myelinschicht nur das periphäre Nervensystem, also die Nerven außerhalb des Rückenmarks und des Hirns, aber trotzdem sind die Auswirkungen, die diese Krankheit auf die Psyche des Menschen hat, viel gravierender. 
Wenn man die akute Plateauphase einmal überlebt hat, ist es im Grunde nur noch eine Frage der Zeit, der Hilfe und der eigenen Geduld, bis man sich wieder erholt. Möglicherweise sogar vollständig. Körperlich ist das Guillain-Barré-Syndrom also eine Erkrankung, die wieder vollkommen geheilt werden kann. Vielleicht sollte ich besser sagen, austherapiert. Der Verursacher von GBS ist nicht bekannt, darum spricht man in der Medizin nicht von einer Krankheit, sondern von einem Syndrom. Das Wort Austherapieren trifft es also besser als das Wort Heilen. Aber ich verwende lieber eine mir zugängliche Sprache, die persönlicher und schöner ist. Ich sage ja auch lieber Seele anstatt Psyche.
Genau diese seelischen Auswirkungen des Syndroms sind besonders schwer. Vielleicht nicht bei allen Patienten, aber bei den meisten. Und ganz bestimmt bei mir. Von Angstanfällen, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Tränen, Desillusioniertheit, Todesangst, Depressionen, Sprachlosigkeit über den Verlust des Selbstwertgefühls und der Lebensfreude, bis hin zu einer generalisierten Angststörung, die mich immer begleitet und mich vor jedem Einschlafen mehrmals aufschrecken lässt, ist alles dabei. Dazu noch jede Menge Schmerzen, Spritzen, Infusionen, Schläuche, Plastiksäcke, Tupfer, Leintücher, Trainings- und Therapieliegen, Kontrakturen, Rollstühle, Rollbretter, Hebelifter und Aufstehschienen, Holzbarren zum Festhalten, mehr als zwei Jahre Dauerkatheter, Stoma, Rettungsautos, Tabletten, unbeschreibliche Traurigkeit nach dem Tod meiner Mutter und die Aussicht darauf, nach der erfolgten Genesung und der Rückkehr der Freude und der Träume, alt zu werden, dahinzusiechen und letztlich doch noch zu sterben.
Wenn Sie GBS haben, wissen Sie, was ich meine. Falls Sie aber gesund sind, lesen Sie sich obigen Absatz noch einmal durch und stellen Sie sich die Frage, wie sich ein Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom fühlt, wenn er in der Früh aufwacht.
Aber trotz alledem ist es möglich, das eigene Schicksal in die richtige Relation zu setzen.
Sicher haben auch Sie oft den Spruch gehört "Sei doch froh. Schau dir an, wie schlecht es anderen Menschen geht und was du für ein Glück hast". Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie so etwas hören, aber ich kann mich über das Leid anderer Menschen nicht freuen. In der gesamten Zeit meiner Krankheit hat mich der Anblick von Menschen mit Magensonden, Querschnittslähmungen, Muskelschwund, Schlaganfällen, Krücken und hoffnungslosen Augen nicht ein einziges Mal in eine bessere Stimmung versetzt. Auch die schwarzen Fahnen, die immer wieder vor dem Haus hängen, in dem ich jetzt lebe, haben nicht dazu beigetragen, mich wohler zu fühlen.
Im Gegenteil. Seit mehr als zwei Jahren bin ich von Leid, Krankheit, Behinderung und Tod umgeben. Das tut meiner Seele nicht unbedingt gut. Ich kenne die Welt außerhalb der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen nicht mehr. Zugleich habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir denke, dass mich all dieses Elend so belastet. Noch mehr als meine Krankheit und alle Verluste.
Ich bin Gesundheit nicht mehr gewöhnt. Ich kenne die andere Welt nicht mehr. Darum bezweifle ich sehr, dass ich mich in der anderen Welt da draußen jemals wieder zurechtfinden werde. Der Gedanke, gesund zu sein, in einer gesunden Welt zu leben und von gesunden Menschen umgeben zu sein, erscheint mir vollkommen absurd. Natürlich weiß ich, dass es diese gesunde Welt ohne Leid nicht gibt, und selbstverständlich ist mir klar, dass in meiner Welt, hier in Altenhof am Hausruck, bei weitem nicht alle als krank bezeichnet werden wollen. Aber so viele extreme Schicksale habe ich in den ersten dreiundvierzig Jahren meines Lebens nicht erlebt. Und niemals so nahe.
Hat mich das verändert? Ich glaube schon. Ich habe hier gelernt, dass Menschen Lebensfreude empfinden und Fröhlichkeit ausstrahlen können, obwohl ihre Körper verkrümmt und ihre Gesichter verzerrt sind. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele optimistische Menschen kennen gelernt. Natürlich werden nicht alle Bewohner hier im Dorf immer gut gelaunt sein, aber sie sind aktiv. Sie fahren mit ihren E-Rollis und Rollatoren zu Therapien, Veranstaltungen, Festen und mit einem Fahrtendienst in den Urlaub.
Seit eineinhalb Jahren bin ich jetzt in Altenhof. Zwar habe ich nicht viel Kontakt zu den Bewohnern, aber wenn ich mit jemandem rede, sind alle freundlich. Die trübsinnige Mentalität, dass das Leben so hart, das Wetter so schlecht und überhaupt alles so trostlos und sinnlos ist, habe ich hier bisher nicht erlebt. Auch keine Unfreundlichkeit. Ich weiß, das klingt nach einem Idyll, und das ist dieses Dorf für behinderte Menschen sicherlich nicht. Auch hier spielen sich Dramen ab, erfüllen sich Schicksale und schließen sich Menschenaugen für immer. 
Aber das beinharte Konkurrenzdenken der Ellbogengesellschaft draußen habe ich hier nie erlebt. Und jeder grüßt einen! Das ist in der Welt der angeblich Nichtbehinderten keineswegs immer der Fall.
Ich weiß, wie schwer es ist, die eigenen Erlebnisse in die richtige Relation zu setzen. Für mich sind viele Dinge, die zu Beginn meiner Krankengeschichte ein wahr gewordener Albtraum waren, inzwischen zu einer mehr oder weniger lästigen Routine geworden. Ich würde gerne wieder einmal unter der Dusche stehen und mich frei bewegen können, anstatt zu sitzen und mich an einem Geländer festzuhalten. Gewaschen zu werden ist zwar nichts Schlimmes, und ich bin froh, dass es jeden Tag gemacht wird, aber es hat mir anfangs ein Stück Selbständigkeit und Selbstwertgefühl genommen. Ziemlich viel sogar.
Ich konnte mich ja nicht bewegen und musste deshalb von den Krankenschwestern der Intensivstation auf die Seite gedreht werden. Jetzt, wo ich das schreibe, erinnere ich mich wieder daran. Ich hatte es inzwischen schon vergessen. Inzwischen, in Altenhof, kann ich mich selbst am Gitter des Pflegebettes festhalten und umdrehen. Zwar wird ein bisschen nachgeholfen, indem man mir entweder das rechte Bein über das linke legt, damit ich stabiler liege, oder die bedauernswerte Krankenschwester zieht an der Unterlage, damit ich besser auf die Seite komme.
In die Badewanne werde ich nach wie vor mit einem Kran gehoben. Nicht mit einem Baukran, sondern einem Hängelifter. Unter dem Rücken und den Kniekehlen habe ich breite Gurte, die an den Haken des Krans befestigt werden. Ich werde von zwei Mitarbeitern meiner Wohnebene ins Bad gefahren und in die Wanne gelassen. Ohne Krankheit und Behinderung wäre so ein Kran eine hübsche Hängematte, nur die Gurte sind etwas ungemütlich.
Aber im Vergleich zu einem langen Leben mit Tetraparese ist das alles gar nichts. Nur zur Information: Eine Tetraparese ist die Lähmung aller vier Gliedmaßen, also der Arme und der Beine. In meinem Fall war aber auch der gesamte Rumpf gelähmt. Das war im ersten halben Jahr meiner Krankheit, auf der Intensivstation und der Neuro.
Die vollkommene Bewegungsunfähigkeit hat mich total hilflos gemacht. Ich konnte nichts tun, außer meinen Kopf zu bewegen und sprechen. Erst während meiner Reha am Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg kam die Selbstsicherheit langsam wieder zurück. Mit den physiotherapeutischen Übungen für die Rumpfstabilität. Das bedeutet querbettsitzen, also am Bettrand. Anfangs mussten mich die Therapeutinnen noch am Rücken stützen, und es ging nur darum, einfach nur zu sitzen. Solange es mir möglich war. Dazu kamen ein paar vermeintlich leichte Übungen wie Arme heben und nach Plastikbechern greifen.
So begann ich allmählich, mich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Und mit dem Rollstuhl begann schließlich ein neues Leben. Ich war erstaunt, wie leicht es mir fiel, die Reifen des Rollis zu bewegen. Mir wurde davor gesagt, es würde einige Zeit dauern, bis ich ein paar Meter fahren könne, aber dann ging es ganz schnell. Ein neues Lebensgefühl. Nicht gerade Born to Be Wild, aber zumindest die Rückeroberung einer Art von Freiheit, die man gerne für selbstverständlich hält. Bis man sie verliert.
Die Bewegungsfreiheit. Nicht, wie wenn man sich den Ellbogen an der Wand anschlägt. Nicht wie im Kino oder im Bus, wenn man sich eingequetscht fühlt wie eine Sardine in der Dose. Auch nicht wie die Arbeit in einem engen Büro voller Aktenschränke. Oder in der Supermarktschlange. Früher habe ich mich in solchen Situation auch eingeengt gefühlt und dachte, wenn ich hier nicht rauskomme, werde ich wahnsinnig. Damals wusste ich noch nicht, was es für ein Gefühl ist, wenn der eigene Körper zum Sarg wird.
Nein, es war die Freiheit der eigenen Bewegung. Die Eroberung des Raums. Die schon aufgegebene Möglichkeit, sich durch eigene Kraft bewegen zu können. Die Rückkehr zur Selbstständigkeit. Der Traum vom Leben.
Für alle, die sich von den Widrigkeiten des Alltags eingeengt und unfrei fühlen, ein kleiner Tipp:
Leg dich ins Bett und lass dich in deiner eigenen Haut einnähen. Bis zum Mund. Mindestens ein halbes Jahr lang. Lass dich drehen, waschen, füttern, stechen, verbiegen, abtasten, herumschieben und mit guten Ratschlägen verprügeln, bis dir das positive Denken durch ein Loch in deinem Bauch in einen Plastiksack rinnt.
Im Juni 2013 habe ich dann erfahren, wie es wirklich ist, eingezwängt zu sein. Aber mein Hindernis waren nicht die Rückenlehnen der Sitze vor mir, auch nicht die Menschen im Supermarkt mit ihren Parfums aus altem Schweiß und frischen Zwiebeln. Ich war noch nie klaustrophobisch veranlagt, im Gegenteil, enge Räume sind mir lieber als weite Plätze. Darin fühle ich mich sicher.
Aber der Raum, in dem ich mich damals wiederfand, gab mir keine Sicherheit. Er war noch enger als ein Lift und viel näher an mir dran als alle Bierfahnen und Billigparfums unserer stinkenden Kultur.
Mein Körper.
Die äußerste Grenze zwischen mir und dem Leben war meine Haut. Alles außerhalb meiner Haut war für mich unerreichbar. Das Wasserglas am Nachttisch. Der Notrufknopf am Galgen über mir. Sogar mein eigener Schweiß, der mir von der Stirn in die Augen rann. Die Elektronik am Bettgitter, um mich nach dem Essen aus der Sitzposition hinzulegen, wenn meine Hüften wieder Presslufthammer spielten.
Ich fühlte mich von der Außenwelt abgeschnitten, obwohl ich mittendrin war. Aber ich fühlte nichts. Schmerzen im Inneren meines Körpers konnte ich spüren, aber meine Haut war trocken und empfindungslos wie Pergament. Meine Sinne waren ebenso versiegelt wie meine gelähmten Muskeln. Ich redete mit Krankenschwestern, Ärzten und der Reinigungsfrau. Durch das große Fenster links von mir sah ich die Straße vor dem Krankenhaus mit der Bushaltestelle und den Menschen, die dort auf- und abgingen. Das werde ich nie wieder können, dachte ich. Oder doch?
Ungewissheit und ständige Stimmungsschwankungen zehrten an meinen Nerven, die sich eigentlich erholen sollten. Um einigermaßen klar denken zu können und nicht vor der grauenhaften Zukunft, die vor mir lag wie eine Rutschbahn aus Stacheldraht, total zu verzweifeln, dachte ich mir: In ein paar Wochen ist der Spuk vorbei. Vielleicht ein paar Monate, aber dann kann ich wieder nach Hause.
Aus den Monaten wurden Jahre, und mein Zuhause habe ich verloren. Jetzt lebe ich in einem elektrischen Rollstuhl. Noch. Meine Chancen stehen gut. Ich noch nicht. Ich wackle hin- und her, wenn ich versuche, freihändig zu stehen. Aber ein paar Sekunden wacklig zu stehen ist besser, als das ganze Leben lang gelähmt zu bleiben. An guten Tagen, wenn das Wetter schön ist, verwandelt sich der E-Rolli in eine Harley-Davidson. Mit meiner wilden Maschine in der Gegend herumzufahren ist die einzige Freiheit, die ich momentan habe. Aber ich kann die Abfahrt vom Lost Highway bereits in der Ferne erkennen. Ich hoffe, dieser Ausblick ist nicht nur ein Traum.
Nein, ich glaube nicht. Die Sicht ist klar, und meine Sinne öffnen sich wieder für den Duft und die Berührung des zurückgewonnenen Lebens.
Es ist fast so schön wie in den langen Urlaubsfahrten mit meinen Eltern früher. Schon einige Kilometer, bevor die Karstfelsen am Rande der Straße den Blick auf das hell erleuchtete Triest freigeben, kann man das Meer riechen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!