Samstag, 23. Januar 2016

Auf Sommerfrische

Es ist mir, als wäre ich in einer anderen Welt. Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich erlebe, aber mir ist vollkommen bewusst, dass ich nicht träume. Mir ist nicht einmal kalt. Ich habe das Gefühl, wieder in die echte Welt zurückgekehrt zu sein. Zwar kann ich nur meinen Kopf und die Arme bewegen, aber fast alle Sinneseindrücke melden meinem Bewusstsein, dass es tatsächlich wahr ist.
Die Sonne blendet mich, aber das stört mich nicht. Ich denke daran, dass es dieselbe Sonne ist, die mich als Kind am Meer beschienen hat. Ich höre die Wellen am Ufer zwar nicht, aber ich sehe die Bäume, den Weg und das Gras im Therapiegarten des Krankenhauses. Es ist Spätsommer, Anfang September. Einige Blätter beginnen bereits, sich zu verfärben. Es ist ein bisschen windig, aber die Sonne wärmt meine Arme und mein Gesicht. Ich schließe die Augen. Gerne würde ich den Augenblick genießen, aber Genuss kann ich schon lange nicht mehr empfinden.
Ich warte auf Alfred, meinen Physiotherapeuten. Er ist im Geräteschuppen, um irgendetwas zu holen, mit dem ich trainieren kann. Wolfgang wird auch gleich hier sein. Ich sehe eine Biene, die vor dem Blatt eines Weinstockes umherfliegt. Einige Blätter haben eine rote Farbe angenommen. Der Wein hängt ziemlich trostlos an dem Holzzaun. Aber er trägt einige dunkle, schon halb vertrocknete Trauben. Ich frage mich, was eine Weinrebe im Garten eines Krankenhauses verloren hat, schiebe den Gedanken aber wieder weg, um den Augenblick so intensiv wie möglich wahrzunehmen.
Den Druck in meiner rechten Hüfte ignoriere ich. Der unbequeme Pflegesessel verwandelt sich in meiner Phantasie in einen Liegestuhl am Strand. Ich blicke an mir herab. Bis zur Brust bin ich mit einer sandbraunen Decke zugedeckt. Ich trage nur das kurzärmelige weiße Krankenhausnachthemd mit dem hellblauen Karomuster. Die Hände habe ich über meiner Brust gekreuzt, damit mein Schatz nicht auf den Boden fällt. Ich hüte diesen Gegenstand wie ein Heiligtum und sehe ihn an, als wäre er ein Relikt aus einer unwiederbringlich vergangenen Zeit. Ich erinnere mich an die vielen Sommertage am Meer, an Begegnungen mit verlorenen Freunden, an die Kindheit, die frühe Jugend, Spazierfahrten mit meinem Vater und glaube nicht, dass all dies gerade wirklich passiert.
Nach drei Monaten kompletter Lähmung, weißen Wänden und Kacheln, Untersuchungszimmern, medizinischen Geräten, Infusionsschläuchen und Blut, sitze ich in einem Sessel in der Sonne, betrachte mir den Himmel, die Bäume und halte in meinen Armen eine kleine Flasche Coca-Cola. Ich umklammere sie, als wäre sie das kleine Kind, das ich einmal war. Das Kind, dessen Seele irgendwann erschlagen wurde.
Der Oberazt hat mir das Cola erlaubt. Wenn ich dafür mit den Therapeuten in den Garten hinausfahre. Es würde mir guttun, hat er gesagt. Aber er kann nicht geahnt haben, welche Freude, welches Glück ich in diesem Augenblick empfinde. Ich hatte die Hoffnung, jemals wieder ins Freie zu kommen und die Natur zu sehen, schon aufgegeben. Und jetzt sitze ich hier wie ein Tourist auf Sommerfrische und trinke Cola. So lässt sich' s leben, denke ich mir und muss fast lachen, als mir bewusst wird, wie absurd dieser Gedanke ist.
Oder sterben, denke ich mir als nächstes. Sterben wäre jetz auch schön, in diesem friedvollen Moment in der Sonne. Aber ich weiß, dass ich das nicht wirklich will. Ich will gesund werden und wieder gehen können. Momentan kann ich zwar nicht einmal die kleine Glasflasche in der Hand halten oder den Strohhalm zu meinem Mund positionieren, ohne dabei mit dem Oberkörper hin- und herzuwackeln, aber ich glaube trotzdem, dass es mir eigentlich gar nicht so schlecht geht. Es könnte alles viel schlimmer sein, und das war es auch schon.
Dann schaue ich auf den Rasen neben dem Kieselsteinpfad, und mein Optimismus erstickt. Ich werde nie wieder barfuß über eine Wiese gehen können und den Tau an meinen Fußsohlen spüren. Ich spüre ja nicht einmal meine Fußsohlen und auch meine Beine und den Rest des Körpers bis zu den Armen nicht. Ich nehme einen Schluck. Zucker und Koffein, zwei banale und alltägliche Zutaten, aber sie machen diesen Spätsommertag für mich zu einer Party. Ich spüre die Wirkung des Getränks, es löst ein unbeschreibliches Glücksgefühl aus. Das liegt wohl daran, dass ich schon so lange kein Cola mehr getrunken habe.
Jetzt höre ich Schritte hinter mir. Das ist Wolfgang. Ich erkenne ihn an seiner Art zu gehen. Inzwischen erkenne ich alle Therapeuten, Krankenschwestern und Pfleger an ihrem Gang und ihren Gewohnheiten, an die Tür des Krankenzimmers zu klopfen. Therapeuten klopfen nur einmal sehr kurz und schnell. Wahrscheinlich nur ein Zufall, aber mir ist aufgefallen, dass sie es alle so machen.
"Morgen!" sagt Wolfgang. Er hat immer eine so vergnügte Art, wie ich sie auch gerne hätte. "Heute machen wir ein paar Fotos." Er hält eine Digitalkamera in der Hand. Mir ist es egal. Solange ich die Fotos nicht anschauen muss. Ich sehe mich nicht gerne auf Fotografien oder im Spiegel. Mein Körperbild ist nicht erst seit dem Ausbruch des Guillain-Barré-Syndroms gestört. Das war es schon immer. Schon als Kind. Aber in der Pubertät wurden die Grundlagen für den Abscheu vor meinem Körper gelegt. Spott und Gelächter meiner Freunde. Dumme Witze der Mädchen, die sich lieber von mir abwandten.
Wolfgang macht die Fotos. Ich versuche, so freundlich wie möglich dreinzuschauen. Wenigstens diese Eigenschaft konnte mir die Krankheit nicht wegnehmen. Freundlich und höflich bin ich immer. Nicht, weil ich ein so guter Mensch bin, sondern, weil ich mich mit schlechten Manieren noch mehr hasse als sonst.
Alfred kommt dazu. Er bringt eine dunkelblaue Hantel und legt sie auf ein Plastiktablett, das auf den Armlehnen meines Pflegesessels liegt. Die Flasche Cola nimmt er und stellt sie auf das Tablett. So ist sie für mich zwar unerreichbar, aber jetzt muss ich ja sowieso trainieren. Natürlich muss ich nicht, es ist ein selbstauferlegter Zwang. Irgendwie glaube ich doch noch an meine Heilung. Manchmal. Selten.
"Ich möchte, dass Sie jetzt versuchen, diese Hantel einfach nur hin und herzuschieben", sagt er. Er befindet sich in der Hocke und schaut zu mir auf. "Es geht jetzt nur um die Wahrnehmung und um die Koordination der Bewegungen."
Ich höre ihm nicht zu, blicke nur auf dieses Stück Eisen vor mir, als wäre es ein Granitbrocken, den ich durch den Garten wuchten soll. Wie soll ich diese Hantel bewegen und über das Tablett schieben? Ich kann ja nicht einmal einen leeren Joghurtbecher mit zwei Händen anheben.
"Wieviel wiegt die?" Frage ich.
"Ein- oder zwei Kilo", sagt Alfred.
"Zwei", meint Wolfgang.
Ich strecke den rechten Arm aus und lege ihn an eines der dicken Enden der Hantel. Ich konzentriere mich, nehme all meine Kraft und meinen spärlichen Kampfgeist zusammen und versuche, die blaue Hantel ein Stück nach links zu bewegen.
Es tut sich nichts. Natürlich nicht. Für einen gesunden Menschen sind das vielleicht nur zwei Kilo, aber für mich ist es eine Tonne Blei.
"Versuch’ es! Komm!" feuert mich Alfred an. Manchmal sagt er Sie zu mir, dann duzt er mich wieder. Duzen wäre mir sowieso lieber, aber hier im Krankenhaus ist alles ein wenig Etepetete, und man siezt sich. Egal. Versuchen soll ich es also.
Mir fällt in solchen Momenten immer Yoda, der Jedimeister ein, wie er zu Luke Skywalker sagt: "Tu es oder tu es nicht. Kein versuchen es gibt."
Also versuche ich, es nicht zu versuchen, sondern es einfach zu tun. Man soll ja nichts unversucht lassen, und es gibt nichts Gutes, ausser, man tut es. Ich denke völligen Schwachsinn, denke ich.
Und dann tue ich es. Ich schiebe die Hantel ein paar Zentimeter nach links. So recht glauben kann ich es aber nicht.
"Super!" sagt Alfred, und man merkt ihm an, dass er sich wirklich freut. Das hat mir von Anfang an bei den Therapeuten und Krankenschwestern am besten gefallen. Dass sie sich richtig mitfreuen, wenn es mir besser geht und mir etwas gelingt, das ich für unmöglich gehalten habe.
"Gleich nocheinmal." Wolfgang legt die Hantel wieder in die Mitte des Tabletts.
"Jetzt zieh’ sie mal zu dir hin und schieb sie wieder weg", sagt Alfred.
Ich tue es, schiebe die Hantel ein Stück nach vorne. Hier nähere ich mich schon meinen Grenzen. Ich muss mich gleichzeitig ein Stück nach vor beugen, und das ist mit der Rumpfstabilität eines Wackelpuddings und der Kraft eines Wattebausches völlig unmöglich. Trotzdem gelingt es mir. Einige Millimeter.
Wieder zurückziehen ist einfacher. Ich muss die Hand nur irgendwie auf das Metall drücken und mich dann rückwärts in den Pflegesessel fallen lassen. Ich mache das ganz vorsichtig. Im Grunde ist das ja Betrug, denke ich. Mit meinem Gewicht könnte ich einen ganzen Güterzug bis nach Linz ziehen, wenn ich mich dabei nicht anstrengen, sondern nur fallenlassen müsste.
Damit ist die heutige Einheit Physiotherapie auch schon wieder vorbei. Wie immer weiß ich nicht, ob ich glücklich oder traurig sein soll. Ich habe es zwar geschafft, eine kleine Eisenhantel ein paar Zentimeter herumzuschieben, aber eine Meisterleistung ist das nicht gerade.
Sofort setzt meine Selbstkritik wieder ein. Ich war vor drei Monaten noch vollkommen gelähmt, und jetzt schiebe ich eine Hantel über eine Platte. Ich könnte doch wirklich stolz auf mich sein. Ich bin es aber nicht. Stattdessen fange ich an, mich selbst zu bedauern, eine der vielen Charaktereigenschaften, die ich an mir besonders hasse.
So tief bin ich gesunken, denke ich mir. Ich habe eine Hantel ein kleines Stück bewegt und bin entsetzt darüber, dass ich mich eigentlich freuen sollte. Was ist nur aus mir geworden?
Zurück ins Gebäude. Durch den langen Gang, an dem Friseursalon und der kleinen Trafik vorbei. Ich frage mich, ob ich jemals wieder in der Lage sein werde, ein Buch oder eine Zeitschrift umzublättern. Menschen mit Krücken gehen an mir vorbei, und ich beneide sie. Mein Gott, denke ich. Ich beneide Menschen mit Krücken. Bin ich total verrückt geworden? Aber dieser Gedanke ist hartnäckig. Immerhin können sie gehen. Sie sehen zwar aus, als hätten sie Fronturlaub und kämen gerade von einem Schlachtfeld, aber sie können gehen. Auf ihren eigenen Beinen. Ich versuche, nicht mehr daran zu denken. Irgendwie gelingt es mir sogar.
In den Lift. Wolfgang bekommt vom Knopf wieder einen gewischt und zuckt zurück. "Jedesmal", sagt er und lacht. Wieder einen Gang entlang, dann Linkskurve, noch ein Gang und schließlich durch die Tür in mein Krankenzimmer. Herr Kaiser grüßt mich. Ich grüße zurück.
"Gleich gibt’ s das Mittagessen" sagt Wolfgang. Ich komme in einer Stunde wieder und mache dann den Transfer. Er meint damit, dass er mich mit dem Kran aus dem Inquisitionsstuhl wieder ins Bett legen wird.
Vielleicht wird es ja heute nicht so schlimm mit den Schmerzen, denke ich mir und weiß, dass das nur eine schöne Hoffnung bleiben wird. Alfred legt mir einen Polster zwischen Hüfte und Seitenlehne und eine dicke Gummiwurst unter den Arm. Dann verabschieden wir uns voneinander.
Die Zwei haben sich wieder viel Mühe mit mir gegeben. Und ich habe wieder nur mitgemacht, anstatt mich voll einzusetzen und zu kämpfen. Ich bin müde. Vielleicht schlafe ich ja ein und spüre die Schmerzen nicht. Noch sind sie nicht da. Aber bald werden sie kommen. Heute und morgen und in den Wochen danach. Ich würde jetzt gerne einen dramatische Gedanken fassen, um mir in meiner Rolle des Märtyrers Mut zu machen, aber alles, woran ich denken kann, ist, mit dem Essen fertig zu werden, bevor der Meissel wieder in die Hüfte fährt.
Ein Stechen zwischen den Beinen. Der Katheter. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, dass er jetzt so verstopft ist, dass er gespült werden muss. Dazu müssen sie mich ins Bett legen. Aber es passiert nichts. Der Katheter verhält sich wieder ruhig. Dann klopft es an der Tür. Alexandra, die Große.
"Heute gibt es gekochtes Kalbfleisch", sagt sie.
Ich beschließe, mich zu freuen. Zumindest werde ich es versuchen. Oder tun. Oder doch nicht. Mir wird das alles zuviel. Morgen wieder. Jeden Tag dieselbe Trostlosigkeit. Mit Aussicht auf Besserung. Irgendwann, in ein paar Jahren.
Alexandra legt mir einen Latz um. "Wo sind Sie eigentlich geboren?" fragt sie mich.
"In Mariazell."
"Wo ist denn das?"
Gott, denke ich. Der berühmteste österreichische Wallfahrtsort, und sie kennt ihn nicht.
"In der Steiermark."
"Aha."
Undefinierbare graubraune Suppe. Sieht furchtbar aus, schmeckt aber gut. Dann gekochtes Kalbfleisch mit Kartoffeln. Wirklich köstlich. Zum Nachtisch eine Magertopfencreme mit Orangengeschmack. Geht so. Gemischtes Eis mit Schlagrahm wäre mir lieber.
Das Essen ist vorbei. Alexandra trägt das Geschirr hinaus. Ich mag sie. Sie ist fleissig und immer gut gelaunt. Und Mariazell kennt sie jetzt auch.
Dann kehrt die Trostlosigkeit zurück. Der Blick in eine nebulöse Zukunft. Die Aussicht auf noch mehr Tage im Bett oder im Pflegesessel. Der Anblick all der leidenden Menschen in diesem schrecklichen Haus. Irgendwann treiben mich diese Gedanken noch in den Wahnsinn. Diese Monotonie der Lähmung.
Aber jetzt ist Schluss mit der frustrierenden Langeweile.
Die beginnenden Schmerzen in meiner Hüfte sorgen für Abwechslung.
Und wieder einmal denke ich an den alten chinesischen Fluch: Mögest Du in interessanten Zeiten leben.

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