Samstag, 16. Januar 2016

Nachmittag auf der Neuro

Es ist ein normaler Nachmittag auf der Station für Neurologie im Landeskrankenhaus Vöcklabruck in Oberösterreich. Allerdings sagt Krankenschwester Julia gerne "Die Welt ist ein Irrenhaus, und wir sind die Zentrale." Den Spruch kannte ich schon. Das soll wohl Ironie sein. Ich kann diese Art von makabrem Humor nicht mehr gut finden. Früher schon, jetzt nicht mehr. Was weiß die Schwester schon darüber, was im Inneren eines Menschen vorgeht, der hier liegt?
Ich bin noch einer der wenigen Glücklichen, denn meine Krankheit ist heilbar. Sagt man. Aber es ist ja nicht böse gemeint, denke ich mir. Sie ist eine phantastische Diplomschwester Ende zwanzig. Klein, stämmig schwarzhaarig mit einem hübschen und freundlichen Gesicht. Sie war es, die mich nach acht Stunden ununterbrochenen Blasenkrämpfen von einem verstopften Katheter befreit hat.
Der Patient im Bett neben mir lacht. Herr Kaiser. Ein siebzigjähriger, äußerst gut gelaunter und sympathischer Mensch, der wegen einer halbseitigen Gesichtslähmung hier ist. Nachts trägt er eine Saugglocke aus Plastik auf seinem rechten Auge, das er wegen der Lähmung nicht schließen kann. Darin befinden sich Tropfen, damit das Auge nicht austrocknet.
"Ich bin in der Früh aufgewacht, und mein Gesicht war ganz schief", hat er mir vorgestern erzählt. "Ich habe mir gedacht, so ein Blödsinn. Ich bin zum Arzt, und der hat mich hierhergeschickt. Gesichtslähmung. Keine Ahnung, woher ich die habe. So ein Blödsinn."
Der weißhaarige Herr Kaiser mit dem runden, meist geröteten Gesicht ist wirklich immer guter Laune. Sie wirkt bei ihm aber nicht gekünstelt. Er hat eine natürliche Ungezwungenheit, die ich auch gerne hätte. Oft wünsche ich mir, ich könnte das Leben leichter nehmen. So wie früher. Da konnte ich das noch. Aber spätestens mit dem Ausbruch meiner Krankheit war das vorbei. Früher hatte ich trotz meines seltsamen Lebens immer noch den Ausblick auf eine schöne und erfolgreiche Zukunft. Aber jetzt...Jetzt weiß ich nicht einmal, ob ich jemals wieder nach Hause kommen werde. Und auf die Beine. Wieder gehen können. Schritte machen.
Ich kann aber auch nicht hier bleiben. Irgendwann schmeissen sie mich raus, denke ich mir. Wo soll ich dann hin? Bei Mama zu Hause kann ich nicht leben. Sie hat früher zwar als Diplomkrankenschwester gearbeitet und hat mir oft von ihrem schweren Beruf erzählt. In einer Zeit, den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als es noch keine elektrische Hebelifter gab und die Krankenschwestern die Patienten aus ihren Betten heben oder ziehen mussten.
Aber jetzt ist Mama dreiundsiebzig. Unsere Wohnung in Seewalchen am Attersee ist mit achtzig Quadratmetern zwar nicht klein, aber es müsste alles für mich umgebaut und angepasst werden. Außerdem gibt es in diesem Haus mit Mietswohnungen keinen Lift. All das wäre zuviel für Mama. Es ist unmöglich, nach Hause zu gehen, bevor ich wirklich wieder gehen kann. Niemand weiß, wann das sein wird. Oder ob es überhaupt so sein wird. Vielleicht bildet sich die Lähmung nicht mehr zurück. Oder nur unvollständig. Vielleicht bleiben meine Beine gelähmt. Und die Finger auch.
So, wie ich mich momentan fühle, halte ich das für sehr wahrscheinlich. Also werde ich in ein Heim müssen. Die Krankenschwestern erwähnen immer wieder den Namen Cumberland. Ein Behindertenheim in Gmunden. Schwester Gerti, die drahtige Bergsteigerin, hat mir erzählt, dass dort alle den ganzen Tag schreien. "Ich wünsche dir nicht, dass du dorthin musst" hat sie einmal gesagt.
Aber wohin dann? Nach Graz, zu meinem Bruder? Vielleicht. Zu viel vielleicht in meinem Leben. So viel Ungewissheit. Dadurch entstehen Sorgen, aus den Sorgen wird Angst, und wenn das Zittern wieder aufhört, folgen Resignation und Hoffnungslosigkeit. So geht das jeden Tag. Jede Stunde.
Vielleicht wache ich morgen nicht mehr auf, denke ich mir. Ich denke mir das oft. Es wäre schrecklich für Mama, aber für mich wäre es das beste. Aber jedesmal, wenn ich das denke, bin ich mir vollkommen im Klaren darüber, dass ich auch am nächsten Tag wieder aufwachen werde. Morgen. Und übermorgen. Und nächste Woche auch.
Warum bin ich bei der Operation meiner Darmsepsis nicht gestorben? Warum haben sie mich nicht einfach sterben lassen? Dann wäre die ganze Scheiße endlich vorbei gewesen. Mein Leben. Nichts erreicht. Nichts aus mir geworden. Viel gewollt, geträumt und versäumt. Alle Chancen gehabt und alle vertan. Keine Arbeit, kein Geld, keine Frau, keine Familie. Und jetzt habe ich Körper auch keinen mehr. Ich bin nur noch ein Kopf.
Ich bin das Musterbeispiel einer gescheiterten Existenz. Nichts von dem, was man im Laufe des Lebens erreicht, habe ich geschafft. Ich habe zwar eine Berufsausbildung, bin Werbegrafiker, hatte aber nie das Talent oder die Energie, in diese Branche richtig vorzudringen. Nicht einmal den Führerschein habe ich gemacht. Mit achtzehn hatte ich die Schnauze von Schulen, lernen und Prüfungen derartig voll, dass ich mich nicht schon wieder diesem ganzen verdammten Stress aussetzen wollte. 
Einen Wimpernschlag später war ich zwanzig, einen Atemzug später dreißig, meinen letzten Schritt machte ich mit dreiundvierzig, und jetzt liege ich auf dem Rücken wie eine Schildkröte, mit nutzlosen Armen und nutzlosen Beinen.
Herr Kaiser erzählt Julia Krankenschwestern einen Ärztewitz. "Treffen sich zwei Freunde. Sagte der eine, du, gestern hat mir mein Hund das Leben gerettet. Wie denn das? fragt der andere. Na ja, sagt der erste, der Arzt hat geklingelt, aber der Hund hat nicht aufgemacht."
Julia lacht. irgendwie. Immer, wenn die Krankenschwestern oder Pfleger über seine Witze lachen, habe ich den Eindruck, sie tun es aus Höflichkeit. Die Ärzte lachen gar nicht. Ich schmunzle ein wenig. Mir ist sowieso nicht nach Lachen zumute. Es ist September. Meinen vierundvierzigsten Geburtstag habe ich hinter mir. Letztes Jahr um diese Zeit war ich noch zu Hause. Ich war zwar nicht ganz gesund, stark übergewichtig und konnte nur schwer gehen, aber mit meiner Krankheit hatte das noch nichts zu tun.
"Und was hast du?" fragt mich Herr Kaiser. Er sitzt am Rand seines Bettes und schaut mich an. In seinem Blick liegt eine Mischung aus Neugierde und Mitleid. Vielleicht, weil ich nicht sitzen oder aufstehen und herumgehen kann, wie er. Er ist ein freundlicher naturverbundener Mann vom Attersee. Vielleicht mag ich ihn deswegen. Oder sind es doch seine Witze?
"Ich habe das Guillain-Barré-Syndrom", sage ich und sehe, wie sich bei ihm sofort die Stirn runzelt. Wie bei jedem, dem ich von dieser Erkrankung erzähle. Dann kommt die Frage, die immer kommt.
"Was ist denn das?"
"Eine bakterielle Infektion meines Nervensystems, die mich komplett gelähmt hat. Vom Kopf bis zu den Zehen. Aber es geht mir schon besser. Die Krankheit ist heilbar. Angeblich." Ich spule meine Standardantwort auf diese Frage ab. Komischerweise hat mich noch nie jemand gefragt, ob GBS ansteckend ist.
"Wirst du wieder auf den Fuß kommen?" Er verwendet diese typische oberösterreichische Redewendung. Auf den Fuß kommen für gehen. In seiner Stimme schwingt ein Anflug von Sorge mit. Oder vielleicht bilde ich mir das nur ein. Nein, ich glaube, ich tue ihm wirklich leid.
"Ich hoffe, schon. Die Ärzte sagen, es wird wieder", sage ich. In Wirklichkeit habe ich die Hoffnung schon längst aufgegeben. Ich werde nie wieder gehen können. Wie denn? Wie soll denn dieser Körper das machen? Wie soll denn dieser verheerende Schaden, den die Krankheit bei mir angerichtet hat, jemals wieder ausheilen? Oder doch? Vielleicht. So geht das schon seit Anfang Juni auf der Intensivstation. Ich schwanke im Minutentakt zwischen Verzweiflung und Zuversicht.
"Sicher!" sagt Herr Kaiser und lacht mich an. "Wenn die Ärzte das sagen, wird es schon stimmen. Du musst positiv denken! Außerdem bist du noch jung." Er lacht freundlich.
"Oh, danke", sage ich. Dieses Mal ist mein Lächeln echt. "Das höre ich nur noch selten." 
"Was?"
"Dass ich jung bin."
Ich möchte ihm auch sagen, dass man positiv denken nicht müssen kann. Eine positive Lebenseinstellung und Zwang schließen einander aus. Ich sage es aber nicht. Ich will ihn nicht verbessern. Er schafft es, mich wenigstens ein bisschen aufzuheitern. Dafür bin ich dankbar.
"Ich hatte auch einen Sohn. Er ist umgekommen. Mit dem Motorrad." Er wird ruhig und blickt auf den Boden. "Da war er einundzwanzig. Meine Frau hat das nie überwunden."
Ich möchte ihn fragen, ob er es überwunden hat, tue es aber nicht. Es wäre unhöflich von mir. Außerdem kann man soetwas nicht überwinden. Sein Gesicht und seine Stimme beantworten meine Frage.
"Ich schau nach der Zeitung." Er steht auf. "Möchtest du auch die Zeitung lesen?"
"Nein", sage ich. "Ich kann nicht umblättern. Meine Hände sind noch gelähmt." Das Wort noch würde ich gerne selber glauben, aber das kann ich nicht mehr. Es ist kein vorübergehender Zustand. Meine Finger, mit denen ich mein ganzes Leben lang gezeichnet habe, werden gelähmt bleiben. Ich bin inzwischen schon so weit, dass mir die Tränen kommen, wenn ich an einen Bleistift denke. Wenn ich einen Bleistift in der Hand hatte und gezeichnet habe, war ich immer glücklich.
Das Zeichnen mit einem Bleistift auf einem normalen Schulzeichenblock war für mich ein Gefühl von Freiheit. Wenn ich eine Pinie in Kroatien gezeichnet habe, ein Gesichtsportrait, Comicfiguren oder Bäume am Attersee, bin ich in einer Welt versunken, die ich mit Worten nur schwer beschreiben kann. Es war zugleich ein Zustand der äußersten Konzentration und ein Erlebnis völliger Gelöstheit. Die Zeit hörte auf zu existieren, und es gab nur das Motiv, meine Hand, den Stift und das Papier. Das alles verschmolz zu einer Einheit. Es war ein auf eine graue Graffitlinie zusammengeschmolzener ewiger Augenblick. Sicher ist das der Grund, warum Künstler manchmal ihre Bilder verderben. Wir können einfach nicht aufhören. Dann fangen sie an herumzukritzeln. Mit unserem bewussten Verstand glauben wir, dass wir lediglich unzufrieden mit dem Ergebnis unserer Arbeit sind, aber in Wahrheit ist es die Angst, diesen unendlichen und friedlichen Ort außerhalb von Zeit und Raum wieder verlassen zu müssen.
Dieses Glück werde ich nie wieder erleben. Selbst wenn sich die Lähmung in meinen Fingern zirückbildet, werden sie doch gekrümmt bleiben. Sogar die Ergotherapeutinnen haben Schwierigkeiten, meine Finger auszustrecken. Selbst mit Kraft geht es nicht. Wie sollen diese Finger jemals wieder den Zauber in den Augen eines hübschen Mädchens einfangen, das unbeschwerte Lachen eines Kindes oder die Segelboote am See?
Ich schiebe den Gedanken weg. Dazu muss ich mich zwingen. Ich bin ein wenig sentimental. Schöne Erinnerungen sind schrecklich. Sie sind vorbei, und die Bilder und Gefühle, die im Kopf entstehen, sind lediglich ein Abklatsch. Aber manchmal gelingt es mir, in meinen Gedanken in die Vergangenheit zu reisen und mich dort geborgen zu fühlen. Ich sitze im Auto und sehe die Hohen Tauern vorbeiziehen. Am Katschberg sitze ich mit meiner Mutter im trockenen Moos. Wir basteln Kühe aus Tannenzapfen.
Schön wäre es, wenn ich jetzt einschlafen könnte. Nur ein bisschen. Bis zum Abendessen. Wurstbrote und Vanillepudding. Aber nicht träumen. Meine Träume sind immer beängstigend. Das war schon immer so. Entweder irre ich durch fremde Städte oder wandere über fremde Landschaften. Ich spreche mit fremden Menschen, frage sie nach dem Weg, aber sie kennen ihn auch nicht. Nach Hause finde ich nie.
Seit ich auf der Neuro bin, träume ich kaum noch. Manchmal gehe ich einkaufen und treffe im Supermarkt meinen Vater. Wir lachen dann beide und kaufen gemeinsam ein. Aber meistens bin ich in meinen Träumen allein. Oder unter fremden Menschen.
Ich zähle meinen Atem bis ich einschlafe.

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