Samstag, 9. Januar 2016

Himmel hilf!

"Himmel hilf!" sagt der alte Mann und versucht aus seinem Krankenbett zu steigen. Aus seinem rechten Arm hängt ein Infusionsschlauch. Mit der freien Hand streicht er sich das weiße Haar zurück. Dann setzt er sich auf und sieht mich an. Das tut er oft. Er sitzt oft einfach nur da und sieht die Leute an. "Ich kann nicht mehr liegen". Er legt sich wieder hin. Strampelt mit den Füßen. Wälzt sich im Bett hin- und her. Er ist ruhelos. Immer. Er will irgendwohin, irgendetwas tun, nur nicht den ganzen Tag in seinem Krankenbett liegen. Ich kann ihn gut verstehen.
Ich sehe ihn an. Aufrichten kann ich mich wegen meiner Lähmung nicht, aber ich kann den Kopf ein Stück anheben. Der Mann in dem gegenüberliegenden Bett hatte einen Schlaganfall. Er ist zwar ansprechbar, aber sehr verwirrt. Immer wieder sagt er dieselben Sätze. "Himmel hilf!", "Ich kann nicht mehr liegen!" und "Ich kenn' mich nicht mehr aus." Fast jedesmal, wenn eine Krankenschwester ins Zimmer kommt, sagt er, dass er mit seiner Tochter telefonieren will. Meistens wird er auf später vertröstet. Er fragt seine Tochter immer, wo er denn sei. Und sie solle ihn nach Hause holen. Wenn er nicht mit ihr telefonieren darf, weil die Krankenschwestern keine Zeit haben, verweigert er die Tabletteneinnahme. Er braucht ein Blutverdünnungsmittel, nimmt es aber nicht.
Jetzt setzt er sich mit einer schwungvollen Art, die gar nicht zu seinem gebrechlichen Körper passt, auf. "Ich kann nicht mehr liegen!" Er streckt ein Bein seitlich aus dem Bett und setzt sich an den Rand der Matratze. "Ich kenn' mich nicht mehr aus." Kurz verweilt er so. Blickt um sich. Keine Frage, er will raus aus dem Bett.
"Bleiben Sie bitte liegen!" rufe ich ihm zu. Ich weiß, dass er oft aus dem Bett steigt und dann im Krankenzimmer umherirrt. Sein Bett findet er dann nicht mehr und sieht sich ratlos um. Das geht praktisch im Minutentakt so dahin. Ich kann nicht mehr liegen! Ich kenn' mich nicht mehr aus. Und zwischendurch immer wieder ein verzweifelter Ruf zum Himmel. Manchmal schafft er es bis zur Toilette. Dort steht er dann. Minutenlang. Ich höre, wie er den Notruf aktiviert. Eine Krankenschwester kommt. Dem Mann ist ein Missgeschick passiert. Die Schwester reagiert geduldig, redet ihm gut zu, sagt, dass alles nicht so schlimm sei und dass sie alles aufwischen werde. "Aber zuerst muss ich Sie waschen", sagt sie. Dann schließt sie die Tür zum Bad. Er lässt sie immer offen, und wenn er die Toilette verlässt, vergisst er die Spülung.
Der Alte hört nicht auf mich. Seine nackten Füße berühren schon die neben seinem Bett liegenden Hausschuhe. Ich wiederhole meine Worte. "Bleiben Sie bitte liegen!" Die Notrufglocke kann ich nicht bedienen. Meine Arme kann ich zwar anheben, aber ich habe nicht genug Kraft, um den Knopf zu drücken. Schon oft hätte ich sie gebraucht, wenn ich allein in diesem Zimmer war und niemanden um Hilfe bitten konnte. Nächtelange Blasenkrämpfe, eine motorische Beinschiene, die an meinem Oberschenkel reibt, Schmerzen in der rechten Hüfte oder einfach nur ein Anfall beklemmender Angst. Angst vor dem Sterben. Angst vor dem Leben. Angst vor der Angst.
"Ich kann nicht mehr liegen!" sagt der Mann und steht auf. An seine Infusion denkt er dabei nicht. Er geht um das Bett herum, sieht den an einem Haken über ihm hängenden Beutel teilnahmslos an und bewegt sich in Richtung Toilette. Bekleidet ist er nur mit einem kurzärmeligen, am Rücken offenen weißen Krankenhausnachthemd mit hellblauen Karos. Sein Unterkörper ist nackt. Bis auf die Hausschuhe.
"Passen Sie auf! Die Infusion!" Ich glaube, er hört mich nicht. Hat nicht eine der Krankenschwestern gesagt, er sei schwerhörig? Aber er würde sowieso nicht auf mich hören und unbeirrt weitermarschieren. Ich bin machtlos. Schreien will ich auch nicht. Das schlimmste, was ihm passieren kann, ist, dass er hinfällt, denke ich und lasse mich wieder zurückfallen. Kommt rein, kommt rein, denke ich, aber es kommt niemand. Telepathie funktioniert bei mir nicht. Schlimm genug, dass ich es überhaupt versuche. Ich verblöde allmählich, denke ich mir.
Ich höre die Schritte des alten Mannes. Jetzt sagt er nichts. Es passiert auch nichts. Er fällt nicht hin. Aber seine Schritte verklingen. Er bleibt stehen und bewegt sich nicht, sagt nichts. Was ist jetzt los? frage ich mich. Ich hebe meinen Kopf und sehe zu ihm hinüber. Er steht da, einfach so, und blickt ungläubig an sich herab.
"Legen Sie sich wieder hin! Bitte!" sage ich. Aber er reagiert nicht.
"Himmel hilf!" Es ist fast schon ein Schrei. "Himmel hilf! Blut! Blut!"
"Legen Sie sich doch bitte wieder hin!" Ich kann meinen Körper nicht weiter anheben, um zu sehen, was los ist.
Die Tür geht auf.
"Um Gottes Willen!" Es ist Bettina. Die Hübsche mit dem kecken Haarschopf. Eine junge Diplomschwester, die oft sehr nervös ist, aber gerade dann äußerst gefasst bleibt und sehr präzise arbeitet. Ich denke mir oft, wenn mir etwas passiert, hätte ich gerne, wenn Bettina in der Nähe wäre. Sie sagt immer, man müsse bei der Arbeit als Krankenschwester strukturiert vorgehen.
"Sie stehen in einer Blutlacke!" Bettina geht auf den Mann zu, nimmt ihn bei der Hand und will ihn zu seinem Bett zurückführen. "Der Schlauch. Sie haben sich den Infusionsschlauch aus dem Arm gerissen." Langsam geht sie neben ihm, hält ihn an einem Arm.
Ich kann das Blut des alten Mannes nicht sehen, will es auch nicht. Aber ich kann es mir vorstellen. Das ist schlimmer, als es direkt vor Augen zu haben. In meiner Phantasie ist alles viel schlimmer. Er nimmt ein starkes Blutverdünnungsmittel zur Thrombosevorbeugung. Wenn er mit seiner Tochter telefonieren darf. Gestern und heute hat er es nicht genommen. Die kleine Wunde einer aus dem Arm gerissenen Infusionskanüle kann da sehr viel anrichten. Ich bin froh, dass ich es nicht sehen muss.
"Da ist alles voll", sagt Bettina zu sich selbst. "Alles voller Blut." Sie hilft dem alten Mann, sich wieder hinzulegen.
"Ich kann nicht mehr liegen!" sagte er zu ihr.
"Doch. Das müssen Sie aber. Ich hole schnell jemanden." Bettina dreht sich um und eilt aus dem Zimmer.
"Himmel hilf!" sagt der alte Mann.

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