Samstag, 20. September 2014

Der schreckliche Ort

Manchmal kommen die Erinnerungen wie Flashbacks. Ich liege dann wieder in diesem Bett auf der Intensivstation und spüre, wie die Angst und die Verzweiflung in mir hochkriechen. Das Gefühl ist wie ein Brennen, das in der Brust beginnt und sich zum Kopf und auch in die Arme ausbreitet. Dann möchte ich am liebsten nur schreien. So wie auf den Selbstportraits von Gottfried Helnwein mit den Gabeln in den Augen.
    Aber ich schreie nicht. Nicht, weil ich nicht kann, sondern, weil ich mich nicht traue. Ich habe Angst, dann in eine geschlossene Anstalt zu kommen. Also verarbeite ich meine Furcht lieber innerlich. Heute weiß ich nicht mehr, was mir damals alles durch den Kopf gegangen ist. Ich erinnere mich nur noch an ein Gefühl der Perspektivlosigkeit und Minderwertigkeit. Das war vielleicht immer das Schlimmste an allem: dieser Eindruck, nicht mehr zu sein als das Opfer eines gleichgültigen Schicksals und in einem Universum zu leben, das mitleidlos auf mich herabblickt.
    Verloren zu sein. Ungeschützt in einen reißenden Strudel aus schwarzem Wasser zu fallen. Ich fühlte mich, als sei ich nichts mehr wert, als würde mich dieses Schicksal genauso treffen wie eine Ameise, die man zertritt, ohne sie überhaupt zu bemerken.
    Warum passiert mir so etwas? Womit habe ich das verdient? All,diese Fragen die sich wohl schon Milliarden von Menschen gestellt haben. Sicher, ich habe immer ein blödsinniges Leben geführt, zu wenig Sport gemacht, zu viel Bier gesoffen und nichts getan, um meine Zukunft zu sichern. Da bin ich aber nicht der Einzige. Andere machen das auch und noch viel Schlimmeres und erleben so etwas nicht. Warum also ich? Erklären kann ich es mir nur mit einem tatenlosen Universum, in dem wir Menschen auch nicht mehr wert sind als diese eine Ameise.
    So irre ich eben umher wie eine Figur in einer Erzählung von Lovecraft, bin den Elementen und den Ereignissen rund um mich herum hilflos ausgeliefert und frage mich, ob das alles einen Sinn hat. Antwort finde ich auf diese Frage keine. Auch auf viele andere Fragen nicht.
    Ich denke oft an das erzählerische Prinzip der Heldenreise wie es der amerikanische Mythologe Joseph Campbell formuliert hat. Ein junger Mann lebt in einer behüteten Umwelt, frei und sorglos. Dann bricht die Grausamkeit der Realität über ihn herein. Der Ruf des Abenteuers. Er findet einen Mentor, der ihn unterweist und ausbildet, er begegnet Schwellenwächtern, die ihn am Vorankommen hindern wollen und stellt sich schließlich seinen größten Ängsten. Er beginnt eine Reise in eine Region, die ihn zu verschlingen und zu töten droht:
    Die dunkle Nacht der Seele.
    Hier leben die Ungeheuer. Die Medusa. Der Minotaurus. Der Teufel in der Wüste. Die Ringgeister. Lex Luthor und Darth Vader. Der große und schreckliche Oz.
    Doch auch Blumen hat' s im Revier. Die Ärzte, die Ärztinnen, die Krankenschwestern und Pfleger, die Therapeutinnen und Therapeuten und alle Menschen, die sich den Schwellenwächtern entgegenstellen.
    So also, mit zuckenden, brennenden und stechenden Muskeln, angehängt an Schläuchen für die Blutwäsche und Medikamente, mit einem Stoma am Bauch, eine Darmsepsis samt Operation, einen Herzstillstand, Leberblutungen und ein fast vollständiges Nierenversagen überlebt, beginne ich, vom Hals abwärts gelähmt, meine Reise in die dunkle Nacht der Seele.
    Wenn Sie wollen, können Sie mich begleiten.
    Aber seien Sie gewarnt: Dieser Ort ist schrecklich.

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