Freitag, 19. September 2014

Kopfleben

Ich liege im Bett auf der Intensivstation, Abteilung Stroke Unit. Es ist ein warmer Julitag. Jetzt wäre es schön, schwimmen zu gehen, denke ich und sofort überfällt mich ein Anflug von Traurigkeit. Ich werde nie wieder schwimmen können, sagt mir meine Gefühlsstimme. Es ist manchmal eine sehr böse Stimme, die da zu mir spricht. Sie sagt Dinge zu mir, die ich nicht hören will. Die Vernunftstimme ist mir wesentlich lieber. Sie ist immer sachlich und logisch. Die Gefühlsstimme gleicht eher dem Meer. Oft ist es schön, spiegelglatt und klar. Es kann warm sein und nach Sommer und Lebensfreude duften, aber manchmal ist es unruhig, auufgewühlt und tobt im Sturm. Meine Gefühlsstimme ist jetzt fast immer so. Meine Gedanken überschlagen sich wie die Wellen im Sturm. Ruhig läuft da gar nichts. Es ist zwar alles im Fluss, wie diese neumodische Redewendung sagt, aber in meinem Fall ist es ein reißender Strom, der mich direkt in die Richtung eines Abgrunds spült.
    Zum Glück verschafft sich die Vernunftstimme immer wieder Gehör und ermahnt mich, ruhig zu bleiben. Es ist alles nicht so schlimm, sagt mir diese Stimme. Alles wird wieder gut. Es dauert nur. Ich weiß nicht, ob ich dieser Stimme vertrauen kann. Sie klingt doch ziemlich zaghaft und zittrig. Und leise ist sie auch, eigentlich ist sie gar keine Stimme, sondern eher ein Säuseln, ein Flüstern, fast nicht hörbar. Trotzdem hat sie die Kraft, meinen Verstand immer wieder zu retten - zu retten vor dem Ertrinken, dem Ersticken, dem Verbluten, dem Verdursten und dem Verzweifeln. Schade, dass dieses Stimmchen nicht etwas lauter ist, aber vielleicht macht gerade die geringe Lautstärke sie glaubhaft. Die Gefühlsstimme ist laut genug, polternd, stechend, bebend und kalt.
Natürlich sind es nur meine Gedanken, die da in meinem Inneren rumoren. Zum Glück höre ich nicht wirkliche Stimmen. Auch das ist ein Umstand, der mich tröstet und nicht vollkommen verzweifeln läßt. Vielleicht wäre für mich alles leichter zu ertragen, wenn ich verrückt wäre, wenn ich nicht klar denken könnte, wenn ich wirklich Stimmen hören würde, die zu mir sprechen und mich in einen alles vernebelnden Wahnsinn treiben. Aber verrückt bin ich nicht.
    Nur gelähmt. Vorübergehend. Aber das wird schon wieder. Es dauert nur. Du mußt geduldig sein. Immer wieder höre ich die Worte der Ärzte, Krankenschwestern, Pflegern und Therapeuten. Die Chancen stehen gut. Bis hin zur vollkommenen Heilung. Ich weiß, es ist ein harter Weg, höre ich immer irgendjemanden sagen, aber, wenn du geduldig bist und mitarbeitest, wird’ s schon wieder. Das wird. Das wird. Wie ein Echo, das ein Wahnsinniger an eine Bergwand brüllt, hallen diese Worte immer wieder durch meinen Kopf.
    Das wird wieder. Das wird wieder.
    Und während ich darauf warte, dass es wieder wird, liege ich imBett, auf dem Rücken und schaue in die Luft oder zum Fenster hinaus. In meinen Träumen sehe ich an der Zimmerdecke Gemälde von mir, die sich ständig verändern. Es sind verzErrte Körper, furchtbare Grimassen, obszöne, pornographische Bilder. Ich habe sie vor einigen Jahren als Auftragsarbeit für dieses Krankenhaus angefertigt. Die Bilder über mir und den Köpfen der anderen Patienten passen sich immer der Stimmungslage an. Manchmal sehe ich lustige Comicfiguren. Von Asterix und Obelix, Lucky Luke und Jolly Jumper und vielen anderen sind sie alle dabei. Die Simpsons, Micky Maus, Superman, all die Helden meiner Kindheit. Und immer wieder Clowns. Böse Clowns. Clowns mit spitzen Zähnen, die mich angrinsen.
    Das alles habe ich erschaffen. Für dieses Krankenhaus hier in Linz. Oder in China? Sie sagen ja nur zu mir, ich sein im Krankenhaus Vöcklabruck in Oberösterreich, aber in Wirklichkeit bin ich abwechselnd in Linz und in China. Das chinesische Krankenhaus ist ein gigantischer Wolkenkratzer, der bis weit in die Wolken hineinreicht. Ich liege im obersten Stockwerk, sehe zum Fenster hinaus, sehe die Stadt, die Häuser, die Wolken, vorbeifliegende Flugzeuge, die rotflammende Sonne. Zwischendurch betrachte ich mir die verdrehten und mutierten Körper, die sich an der Zimmerdecke in bunten Farben räkeln und sexuelle Handlungen vollziehen, zu denen echte menschliche Körper gar nicht fähig wären. Sie beziehen ihre Lust, indem sie ihre Leiber schmelzen und ineinanderrinnen lassen. Auch Clowns sind dabei. Und Goofy. All das passiert über meinem Kopf.
    In meinem Kopfleben.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!