Sonntag, 26. Oktober 2014

Der Tod, der Schatten und der Schnee

Hier ein Auszug aus meinem Tagebuch. Über solche Dinge macht sich ein Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom Gedanken. Ich zumindest.

18:34
Bett

Wieder im Bett, wieder froh, dass der Tag vorbei ist. Ich bin traurig darüber, dass ich mich darüber freue. Lieber wäre es mir, wenn ich mich darüber freuen könnte, dass ein neuer Tag beginnt. So wie früher, vor langer Zeit, als ich noch ein Kind war. Damals habe ich es , wenn ich schlafen gegangen bin, gar nicht erwarten können, wieder aufzuwachen. Jeder Tag war für mich der Beginn eines neuen Lebens. Das Leben war neu, und der Tod in weiter Ferne. Eigentlich gab es den Tod damals gar nicht. Höchstens in Wildwestfilmen. Aber nicht als reale Bedrohung und Wegbegleiter. Er war höchstens ein vager Gedanke an irgendetwas, das irgendwann passieren wird, wenn man sehr alt ist. Bis dahin ist noch viel Zeit, eine Ewigkeit, ein ganzes Leben.
   Jetzt ist der Tod kein weit entfernter, fast nicht wahrnehmbarer Schatten mehr. Er ist für mich vielleicht nicht allgegenwärtig, aber seine Präsenz ist spürbar. Der Tod macht sich im Leben zuerst als jemand bemerkbar, der einem das wegnimmt, was man am meisten liebt.
   Mama und Papa sind tot. Mein Vater ist vor dreizehn Jahren gestorben, meine Mutter dieses Jahr im August. Die Unbeschwertheit meiner Kindheit ist tot, das innere Kind in mir. Ich hoffe zwar, dass es noch lebt, aber ich bin mir nicht sicher. Höre ich seine heitere, hoffnungsfrohe Stimme noch, oder ist das nur das Echo eines Gespenstes? Meine jetzige Stimme ist es jedenfalls nicht. Wenn ich heute lache, dann nicht mehr aus Heiterkeit, sondern als Versuch, den Schatten zu verjagen.
   Die Angst lähmt mich inzwischen mehr, als es das Guillain-Barré-Syndrom jemals geschafft hat. Als ich auf der Intensivstation lag, wollte ich wieder gehen können. Jetzt könnte ich, traue mich aber nicht. Das hätte ich damals nicht gedacht.
   Wenn die Angst weggeht, verschwinden alle Probleme. Dann kann ich mich wieder meinem Leben zuwenden. Heute habe ich gelesen, dass es nur zwei angeborene Ängste gibt: Die Angst vor dem Fallen und die Angst vor plötzlichen lauten Geräuschen. Alle anderen Ängste sind angelernt, und können daher auch wieder verlernt werden. Dieser Gedanke gibt mir Hoffnung. Ich kann meine Angst verlernen. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie.
   Ich verabscheue den Spruch "Lebe jeden Tag, als wäre er dein letzter". Es gibt Menschen, leider auch viele junge, die ihn zu ihrem Lebensmotto gemacht haben. Ich finde, man sollte jeden Tag leben, als wäre er der erste im Leben. Ist es nicht viel schöner, jeden neuen Tag als den Beginn eines neuen Lebens zu betrachten? Als Weckruf in ein großes Abenteuer? Jeder Tag steckt voller neuer Chancen und Wege. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. So sagte es Hermann Hesse.
Leider habe ich diese Einstellung verloren. Das innere Kind ist verwaist. Aber vielleicht schläft es nur.
   Vielleicht wacht es wieder auf, kniet sich ans Fußende seines Bettes, sieht zum Fenster hinaus und freut sich über den ersten Schnee.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!