von Markus G. Pärm - In meinem Blog erzähle ich von meinen Erfahrungen mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Von Kopf bis Fuß total gelähmt. Langsame Besserung. Und jetzt fast völlig geheilt. Eine sechsjährige Reise voller Verlust, Angst, Hoffnung und einer vollkommen neuen Sicht auf das Leben.
Montag, 21. August 2017
Der Knirpsgänger
Sonntag, 20. August 2017
Ausgerechnet Bananen!
Freitag, 18. August 2017
Im Reich der Bergaffen
Sonntag, 13. August 2017
Der Optimistkäfer
Heute berichte ich von meinem aktuellen Rehaaufenthalt. Es ist eine kurze Geschichte über Träume, wie man sie erfüllt und wie man sie platzen lässt. Über Hoffnung, Aufmunterung und unglaubliche Fortschritte. Schweiß und Blut sind auch dabei. Und Sie erfahren etwas über Mistkäfer und warum sie zu Recht den Ruf haben, Glücksbringer zu sein.
Physiotherapie. Hoffnung der Gelähmten. Ein Behindertensport. Zeitreise zurück an die Sprossenwand. Ich glaube, ich muss gar nicht erst versuchen, diese Heilkunst zu definieren. Außerdem verstehe ich zu wenig davon.
Aber eines weiß ich besser als alle Physiotherapeuten der Welt.
Ich weiß, was Physiotherapie nicht ist, was keine Fortschritte bringt und Hoffnung zerstört. Mit Therapeuten zu diskutieren ist sinnlos. Jeder Vorschlag wird abgewehrt, jede Frage ignoriert. Der Therapeut hat immer recht. Die Meinung des Patienten ist bestenfalls dazu da, belächelt zu werden.
Durch das viele aufstehen und hinsetzen in der Physiotherapie hat sich bei mir am linken Unterschenkel die Haut aufgerieben. Das ist nicht erst hier am Gmundnerberg passiert. Das Problem kenne ich schon aus der Physiotherapie in Altenhof. Meine Therapeutin auf der Gmundner Alm hat zwar Verständnis, macht aber keine Anstalten, meinen Übungsplan zu ändern. Alles, was sie mir sagt, ist, ich solle aufpassen. Ob ich die Stelle regelmäßig ansehen lasse, hat sie mich gefragt. Ja, habe ich gesagt, sie wird immer bei der Morgenpflege und der Abendpflege überprüft.
Was ich in weiterer Folge während dieser Reha machen werde, weiß ich noch nicht. Ich sollte am besten keinen Therapien mehr zustimmen, bei denen ich mich am Bein aufreiben könnte, bis es durch den Stützstrumpf blutet. Das würde aber für alle Übungen in der Physiotherapie gelten. Ich wetze mit dem Bein ja nicht nur beim aufstehen an der Kante der Fußschiene aus Metall. Bei den Übungen in der Gruppentherapie Koordination ist es ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass ich dabei sitze und wetze. Wenn ich in der Physiotherapie nicht mehr aufstehen kann, kann ich gleich ganz damit aufhören. Dazu sei noch gesagt, dass meine Therapeuten hier von der blutenden Wunde nichts wussten.
Wenn ich die Beinkraft anders trainieren könnte, hätte ich weniger Probleme und Frust. Der Motomed wäre ideal, aber auch die Beinpresse. Bei der Presse ist es schwierig, mich draufzusetzen. Das ist ein kleiner Sitz, umgeben von Sicherungen, wie Haltegriffen oder erhöhten Rändern. Da komme ich nicht drüber. Das war schon in Altenhof ein großes Problem. Beim Motomed sind die Fußstützen meines E-Rollis im Weg. Die kann man zwar auf sehr umständliche Art abnehmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es dann funktionieren würde. Oder ich setze mich auf einen normalen Sessel, doch da werde ich sicher nicht hineinpassen oder er würde zusammenbrechen.
Es bleibt also aussichtslos, hier auch nur den geringsten Fortschritt zu machen.
Nach 20 Minuten Physiotherapie bin ich schon so erschöpft, dass es mir oft nicht gelingt, noch einmal aufzustehen, um eine letzte Übung zu machen. Besonders, wenn ich mit den Krücken trainiere, ist es so gut wie unmöglich. Ich fühle mich unsicher, habe wieder meine alte Angst hinzufallen, die mich schon seit vier Jahren verfolgt. Ich kann niemandem richtig verständlich machen, dass das wackelige aufstehen aus dem E-Rolli mit dem Gehbock für mich auf extreme Art und Weise beängstigend ist. Und dadurch, dass meine Sicherheit bei dieser Reha nach und nach abgenommen hat, weil ich nur Misserfolge erlebe, wird es noch schlimmer.
Ich schwitze, atme schwer, schnaufe, verziehe mein Gesicht und möchte am liebsten im Erdboden versinken. Vielleicht versteht auch das niemand. Es ist mir einfach unangenehm und überaus peinlich, einen derartig jämmerlichen Anblick zu bieten. Zusätzlich gehen in unmittelbarer Nähe ständig Leute vorbei. Patienten und Therapeuten. Und ich mitten drin: zittrig, unsicher, mit rotem Kopf, ängstlich wie der allerletzte Feigling und schweißgebadet, dass es mir aus dem Gesicht auf den Boden tropft. Ich muss sogar noch darauf achten, nicht auf den eigenen Schweiß am Boden zu treten. Einmal wäre ich fast ausgerutscht, konnte mich aber noch fangen.
Auf diese Art lege ich zuerst fünf Meter zurück, mache eine Pause, indem ich mich in den E-Rolli setze, wuchte mich wieder hoch und schürfe mir dabei meinen linken Unterschenkel noch mehr auf. Meine zu weite Trainingshose rutscht immer weiter nach unten. Ab und zu sagt die Therapeutin zu mir, sie müsse mir die Hose wieder raufziehen. Meine Hosenträger habe ich in Altenhof vergessen, und die beiden engeren Trainingshosen, die gut sitzen, sind nicht immer für mich verfügbar, weil sie in der Wäscherei sind. Ich mache weiter, schleppe mich so gut wie möglich voran. Wieder fünf Meter. Wieder hinsetzen. Wieder aufschürfen.
Dann die nächste Etappe, abermals mit aufreiben des Unterschenkels. Gehen, aufpassen, nicht hinzufallen, Schweiß, Unsicherheit, immer wieder Schrecksekunden, wenn ich glaube, nach hinten umzukippen. Um den jeweils nächsten Schritt zu machen, muss ich mich zuerst so gerade wie möglich hinstellen und mein Gleichgewicht finden. Ansonsten würde ich wahrscheinlich stolpern oder einfach nur nach hinten umkippen. Also weiter. Ich überwinde mich zu jedem neuen Schritt und bemerke, dass meine Bewegungen kein richtiges gehen oder trainieren sind, sondern lediglich Unfallverhütung.
Meine Physiotherapie ist reine Sturzvermeidung. Genau so habe ich mich vor eineinhalb Jahren in Altenhof gefühlt, als ich mit dem Gehbock angefangen habe. Mein Therapeut hat mich immer wieder ermutigt, nicht aufzugeben, und mit seiner Hilfe habe ich es dann geschafft, mit großer Anstrengung aber ohne Sturzangst, von meinem Zimmer bis in den Speisesaal zu gehen. Das sind ungefähr 150 Schritte. Jetzt ist für mich wieder jeder Schritt, als würde ich über einen Abgrund balancieren.
Dazu kommen die ständigen Ermahnungen meiner Turnlehrerin, ich solle gleich große Schritte machen, einen Fuß weit und dann noch weiter vor den anderen setzen, mich so wenig wie möglich am Gehbock abstützen, aufrecht gehen, das Brustbein rausstrecken, nach vorne schauen und nicht auf den Boden, gleichmäßig und tief atmen, das Becken nach vorne strecken, die Knie und die Vorfüße anheben, und zwar richtig, kein Hohlkreuz machen, mit der Ferse zuerst am Boden auftreten, die Schuhspitze nicht über den Boden schleifen, und als krönenden Abschluss stellt sie mir noch die Frage, ob das alles vielleicht ein bisschen schneller geht.
Irgendwie schaffe ich auf diese Art knapp 30 Meter. Und da ich mich sehr anstrenge, sogar noch ein bisschen schneller. Dann falle ich wieder zurück in meinen E-Rolli und überprüfe meinen Aggregatzustand: flüssig. Ohne Scherz. Nach zwanzig Minuten Physiotherapie könnten Sie mich in Flaschen abfüllen und in den Traunsee schütten.
Und noch etwas: Die Therapeutin perfektioniert meine heutige Physioeinheit mit der Empfehlung, ich solle das alles doch zu Hause auch machen. Denn, wenn ich nur einmal im Jahr auf der Reha trainiere, war alles nutzlos. In Wirklichkeit ist es aber genau umgekehrt. In meinem neuen Zuhause in Altenhof am Hausruck funktioniert das alles einwandfrei. Dort hat man mich wieder auf die Beine gebracht, nicht hier. Meinen Therapeuten und allen Mitarbeitern bei assista Altenhof gebühren die Lorbeeren.
Hier, auf der Reha, ist es nutzlos.
Ohne Zweifel, diese Therapeutin hat mit allen ihren Anregungen und Vorschlägen sicher recht. Ich habe keine Probleme damit, ihre Kompetenz zu akzeptieren und zweifle sie auch nicht an. Ich kenne die Techniken der Bewegung und die Tipps der Physiotherapeuten inzwischen zur genüge. Aber für mich ist das alles, als würde man einem Ertrinkenden den Rat erteilen, sich doch bitte gerade aufzurichten, die Brust rauszustrecken, die Füße anzuheben und einfach über das Wasser zum rettenden Ufer zu wandeln.
Ich schaffe das alles nicht so einfach. Dazu fehlen mir die Kraft, die Koordinationsfähigkeit, die Feinmotorik, aber vor allem die Motivation. Darum habe ich große Hoffnungen in das Pedaltreten am Motomed gesetzt. Jetzt aber stellt sich heraus, dass das in dem supermodernen, weltweit höchst angesehenen und kurz vor der Heiligsprechung stehenden Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg nicht möglich ist. Egal. Ich nehme andere, aber dafür effektive, Therapievorschläge gerne entgegen. Ich will wieder auf meinen eigenen Beinen stehen und gehen können. Das ist alles, was ich mir vom Gmundnerberg erhofft habe. Daran arbeite ich jetzt schon seit Juni 2013.
Die vollständige Heilung und Wiederherstellung der Gehfähigkeit ist bei der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom absolut möglich. Viel habe ich schon erreicht, aber ohne die Hilfe, die Unterstützung, die Aufmunterung und den Humor der Belegschaft von assista Altenhof hätte ich keinen einzigen Schritt gemacht. Eine Pleite wie jetzt habe ich in den letzten vier Jahren noch nicht erlebt. Daran trägt niemand die Schuld. Auch ich nicht.
Aber ich bleibe optimistisch. Eigentlich mag ich diesen Ausdruck nicht, weil in ihm das Wort Mist steckt. Eine zuversichtliche Einstellung zum Leben ist aber auf jeden Fall gut. In Ägypten war der Mistkäfer heilig. Er hat nie aufgegeben, sondern seine Kugel immer weiter und weiter gerollt. Dabei hat er sich im Rückwärtsgang bewegt, aber die Kugel stetig vorangebracht. Er folgte dem Lauf der Sonne und half ihr so, im Osten wieder aufzugehen.
Der Mistkäfer Skarabäus war die Verkörperung des Ptah, dem Gott der Erneuerung. Skarabäus war das Symbol der Auferstehung und des Lebens. Er symbolisierte Re, den Sonnengott und dessen Erscheinungsform Cheper, die Morgensonne. Als Herr aller Götter und höchster Schöpfergott, der Allvater, war Ptah-Skarabäus in anderen Kulturen identisch mit Brahma, Zeus, Teutates, Jupiter und Odin.
Was soll ich noch sagen? Ich bleibe Optimist. Beim Teutates!
Donnerstag, 10. August 2017
Still sitzen
Mittwoch, 9. August 2017
Der Schwarm
In einem Punkt habe ich mich in den vergangenen drei Jahren sehr verändert: Ich kippe psychisch nicht mehr sofort um, wenn mir ein Arzt eine schlechte Nachricht übermittelt. Im aktuellen Fall geht es um Diabetes Mellitus. Es gibt zwar keine Diagnose, aber aufgrund eines erhöhten Blutzuckerspiegels im nüchternen Zustand liegt der Verdacht zumindest nahe.
Alles kein Drama. Die Ärzte bestätigen meine Vermutung, dass ich meine Blutzuckerwerte durch Ernährungsumstellung, Gewichtsreduktion und intensives Training deutlich verbessern kann. Eine drastische Senkung des Blutzuckers, in Milligramm pro Deziliter gemessen, wäre dadurch sicher möglich. Mein Blutzucker hat sich schon immer meinem Gewicht entsprechend verändert. Je dicker ich war, desto höher der mg/dl-Wert. Je mehr Gewicht ich verloren habe, desto niedriger war er. Ich habe zwar keine alten Befunde griffbereit, erinnere mich aber daran, dass das schon vor zwanzig Jahren so war. Langzeitschäden eines erhöhten Blutzuckers habe ich keine. Meine Wundheilung ist sogar außergewöhnlich gut.
Bisher habe ich die Bestimmung des Langzeit-Blutzuckerwertes (HbA1c) verweigert. Ich weiß, dass es nicht üblich ist, dass ein Patient versucht, die Diagnose zu verhindern, aber hier geht es um nichts anderes als mein Seelenheil. Das klingt vielleicht dramatisch, ist aber so. Mein Selbstwertgefühl war durch meine eigentliche Erkrankung, dem Guillain-Barré-Syndrom, lange Zeit am Boden.
Ich war vom Hals abwärts bis zu den Zehen vollkommen gelähmt. Etwa ein Jahr lang. Innerhalb der folgenden drei Jahre ist es mir durch die Hilfe meines Physiotherapeuten, meines Ergotherapeuten sowie der wunderbaren Mitarbeiter in dem Behindertendorf in Altenhof am Hausruck gelungen, meinen Oberkörper, meine Arme und Hände wieder normal bewegen zu können. Ich kann Gegenstände ergreifen, aufheben, verwenden, und auch das heben einer Packung mit sechs 1,5-Liter-Flaschen Coca-Cola Zero ist kein Problem mehr für mich.
Ich habe Lebensmut, Freude an meiner kreativen Arbeit als Grafiker und dem Schreiben von Blogartikeln, Kurzgeschichten und Romanen wiedergewonnen. Ich bin zu einem neuen Menschen geworden, der gelernt hat, gesundheitliche Probleme, persönliche Katastrophen sowie eine diagnostizierte Generalisierte Angststörung zu bewältigen.
Kennen Sie den Zustand einer Generalisierten Angststörung?
Stellen Sie sich folgendes vor: Sie erwachen frühmorgens mit einem Gefühl einer beklemmenden Bedrohung. Selbst, wenn es Frühling ist, die Sonne scheint, die Vögelchen in den Nussbäumen vor Ihrem Fenster zwitschern und die ganze Welt ein riesiger vor Schmalz triefender Kitschbrocken ist. Hinreißende Krankenschwestern säuseln Ihnen ins Ohr, was heute doch für ein herrlicher Tag sei und nur Mut und wir schaffen das und das wird schon wieder. Eigentlich müsste Ihnen die Lebensfreude aus sämtlichen Poren Ihrer Haut tropfen.
Sie haben aber keinen Sinn für die wunderschöne Welt und das zauberhafte Idyll rund um sie herum. Sie liegen in Ihrem Bett, starren an die Zimmerdecke, und es kommt Ihnen so vor, als würde Ihre Brust vibrieren. Sie spüren ein helles und kaltes Zittern hinter Ihrem Brustkorb, wissen aber, dass Ihr Herz völlig in Ordnung ist. Trotzdem fühlt es sich so an, als würde unter Ihrer Haut ein Schwarm von Insekten wuseln. Und selbst, wenn die Krankenschwestern Ihr Zimmer wieder verlassen haben, sind Sie nicht allein. Ein alter Freund besucht Sie.
Ihr Freund kann fliegen. Er ist sogar ein wahrer Meister in dieser Disziplin. Mit kühler Eleganz schwebt der Tod über Ihnen. Er legt sich sanft auf Ihre Haut und begrüßt Sie. Er will Sie aber nicht umbringen, zumindest jetzt noch nicht. Er will Ihnen nur zu verstehen geben, dass er immer für Sie da ist.
Sie wollen ihn abschütteln, den Tod, aber das lässt er nicht zu. Nicht, weil Sie gelähmt sind. Sie könnten zappeln und um sich schlagen als hätten Sie die Tollwut. Es hat nichts mit Ihrer Lähmung zu tun.
Der Tod lässt Ihnen die Angst in die Knochen kriechen. Eigentlich gibt es gar keinen Grund, sich zu fürchten. Sie sind auf dem Weg der Besserung, und wir schaffen das, und das wird schon wieder. Nur Mut. Nur Geduld. Aber es ist schwer, geduldig und mutig zu sein, wenn sich die eigene Haut um den Körper spannt wie ein Leichentuch.
Das Guillain-Barré-Syndrom hat Sie zu einem Geschöpf gemacht, das nur aus Haut und Hirn besteht. Sie können denken, aber sie spüren nichts. Sie spüren nicht, wie Ihre Mutter Ihre Hand streichelt und zu Ihnen sagt: "Nicht verzagen. Nicht verzagen." Hoffnung und Trost. Ein Jahr später stirbt Ihre Mutter. Von da an untröstlich.
Dieser Insektenschwarm der Angst lebt die folgenden Jahre in Ihnen weiter und legt Eier. Es ist nicht nur ein beklemmendes Gefühl am frühen Morgen, direkt nach dem aufwachen. Diese Bedrohung, diese Angst zu sterben, begleitet Sie mit jedem Atemzug. Es ist ständig da. Ununterbrochen, vierundzwanzig Stunden am Tag. Selbst im Schlaf.
Das einzige, was Ihre Angst gelegentlich unterbricht, ist das blanke Entsetzen, das sie empfinden, wenn Sie am nächsten Tag aufwachen und noch immer leben. Dabei wollten Sie doch weiterschlafen. Für immer.
Wenn der Gedanke an das Leben schrecklicher ist als der Tod.
DAS ist eine Generalisierte Angststörung.
Ach so, fast hätte ich es vergessen: Die Lähmung, die Angst und der Tod waren schon fast verschwunden. Mein alter Freund ist zum nächsten Patienten weitergezogen und hat seine Helfershelfer mit ihren Nadeln, Kanülen und Diagnosen ratlos zurückgelassen. Aber die lassen sich nicht einschüchtern. Mit einem scharfen zischen aus ihren insektoiden Tracheen rufen sie die Angst und den Tod wieder zurück.
Und der Sensenmann atmet zufrieden auf. Er freut sich, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört. Seine Klinge wetzt er wieder und singt sein altbekanntes Lied.
Ich bin immer für dich da.
Montag, 7. August 2017
Reha der Rückschritte
Ich bin ein Mann aus den Bergen. Im steirischen Mariazell geboren, bin ich zwar nie zu einem richtigen Bergfex geworden, aber alle paar Jahre zieht es mich auf die Alm. So auch in diesem Jahr.
Ich wohne in einer heimeligen kleinen Almhütte nahe eines im Sonnenlicht funkelndes Sees und im drohenden Schatten eines großen und finster dreinschauenden Berges namens Traunstein, dessen unzählige Todesopfer diesem majestätischen Brocken eine unheimliche Wirkung verleihen.
Trotzdem, die Aussicht ist fucking awesome. Der Kotzklumpen und der darunterlegende Tümpelteich bieten einen grotesk-schönen Anblick. Das einzige, was mich daran stört, ist, dass man den Traunstein und die umliegenden Berge nicht schon längst weggesprengt hat, damit ich das Meer sehen kann. Geht aber nicht. Die nötigen Sprengmittel gibt es zwar, aber die Himmelsrichtung stimmt leider nicht. Da helfen selbst Neutronenbomben nicht weiter. Die Adria ist im Süden.
Und ich bin auf Reha.
Mein Tagesablauf sieht etwa so aus:
6:00 Ich werde aufgeweckt, und mir wird der Blutdruck gemessen. Gepflogenheit des Hauses, hat man mir gesagt. Ich frage, ob man die Gepflogenheit nicht auf ein paar Stunden später verlegen könnte. Nein, sagt die nette Diplomschwester, das machen wir bei allen Patienten so. Die Anregung, die Gepflogenheit des Hauses bei allen Patienten auf ein paar Stunden später zu verlegen, stelle ich lieber nicht. Diplomschwestern sind meistens mit einem Blutzuckermessgerät bewaffnet. Und darauf habe ich wirklich keinen Bock mehr, Freunde. Okay?
7:30 Frühstück im Bett. 1 Grahamweckerl mit zwei Scheiben Schinken und zwei Scheiben Käse. Geht so. Trocken und körnig. Frisch, saftig, steirisch wäre mir lieber. Ist aber nicht gut für mich. Zu fett. Ich. Vollkornprodukte sind die Empfehlung meiner Diätologin. Hoffentlich verhungert die nicht irgendwann.
8:15 Morgenpflege. Je nach Personal mehr oder weniger chaotisch. Ich bin dabei zwar ausgesprochen gestresst, aber dafür wird alles ausgezeichnet gemacht. Danach bin ich zwar erschöpfter als nach der Physiotherapie, aber dafür gut versorgt und fit wie ein Stützschuh.
9:00 1. Therapieeinheit. Meistens Ergo. Ich staple kleine Holzwürfelchen übereinander, drücke Löcher in Knetmasse, balanciere mit Murmeln, stecke kurze Stöckchen in kleine Brettchen. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis ich die Stöckchen apportieren muss. Die Feinmotorik meiner Finger hat sich seit Beginn dieser Therapie vor zwölf Tagen nicht verbessert. Sonst übrigens auch nichts.
10:30 2. Therapieeinheit. Physio oder Ergo. Strampeln an der Sprossenwand. Ich kann ohne Gehbock aus dem E-Rolli nicht aufstehen, also soll ich mich mit den Beinen so gut ich kann hochstemmen, während ich mich mit den Händen an den Sprossen auf- und abbewege. Ich gebe mir Mühe und stelle fest, dass sich von Tag zu Tag exakt gar nichts verbessert. Weder Kraft noch Beweglichkeit noch Feinmotorik werden stärker.
Es ist eine Reha der Rückschritte.
11:30 Forced Use Training. Eine Art geballte Powereinheit Ergotherapie, in der ich - und das muss man sich bitte einmal vorstellen - nicht 25 Minuten, sondern 50 (!) Minuten Stöckchen in Brettchen stecke und Murmeln balanciere. Danach bin ich so geschafft und derartig erledigt, dass ich auf dem Weg durch den kleinen Park noch sämtliche Bäume ausreißen könnte.
12:00 Mittagessen. Ich fahre mit dem E-Rolli in den großen Speisesaal und versuche, mich durch den Pulk an nicht ausweichenden Rehapatienten zu manövrieren und dabei so wenige Opfer wie möglich zu hinterlassen. Bisher gab es noch keine Verletzten. Ich bin zufrieden. Gestresst. Genervt. Und angefressen noch vor dem ersten Bissen der Reduktionskost, die farblich zwischen beige und grau schwankt. Komischerweise schmeckt alles aber ganz gut. Und manchmal, wenn die Diätologin frei hat und zu Hause hoffentlich nicht verhungert, gibt es wirklich gutes Essen. Spaghetti Carbonara, faschierten Braten, schmackhaften Fisch, Kartoffeln, Vollkornnudeln und wirklich ausgezeichnete Tomatensaucen. Auch die Suppen können sich sehen und schlucken lassen.
13:30 Physiotherapie. Meine Therapeutin ist riesig, schlank, jung, sympathisch und geduldig. Ich gehe mit dem Gehbock geradeaus, bis ich nur noch aus Schweiß, Fett und Frust bestehe. An sich kein Problem. Kann ich alles aber schon seit zwei Jahren. Dann darf ich Streckübungen im E-Rolli machen. Die Therapeutin erinnert mich in jeder Einheit gefühlte tausendmal: "Brustbein aussi! Als ob a Schnur dran wär!" So versuche ich halt, mein Brustbein aussi zu strecken, als ob a Schnur dran wär, aber es sieht bei mir nicht annähernd so elegant aus wie bei ihr.
14:30 Ergotherapie. Amadeo. Grinsegesichter. Nein, ich meine nicht die Therapeutinnen. Alle supersympathisch. Der Amadeo ist kein Komponist einfühlsamer Klaviersonaten, sondern ein rollender Tisch mit einem Computermonitor dran. Davor befindet sich eine Apparatur, die man am besten als fünf bewegliche Spangen bezeichnen kann. Sie sehen aus, wie die Typen einer alten mechanischen Olivetti-Schreibmaschine. An meinen fünf Fingern werden mit Klebeband kleine runde Magneten befestigt. Manchmal erlaube ich mir einen hochintellektuellen Witz und sage: "Es sind nur vier Finger, weil der Daumen ist anatomisch gesehen ja eigentlich keiner." Die Kommentare der Therapeutinnen reichen von vergnügtem Glucksen bis hin zu anerkennendem Nicken ob meines unnützen Wissens, bis hin zu Bemerkungen wie: "Na, Sie kennen sich aber aus, Herr Präähm." Ich will Ihnen meinen Nachnamen entgegenbrüllen, lasse es aber sein, weil mich jeder anfangs Herr Präähm nennt. Manche lernen es mit der Zeit, manche nicht.
Gut. Die Amadeospangen ziehen meine Finger auseinander und drücken sie wieder zusammen. Aber nicht einfach so, weil Muskeln kann man nicht passiv trainieren, also muss ich mitmachen, wenn ich mag (mag aber meistens nicht). Das ganze dauert zehn Minuten oder länger, und je gleichmäßiger und kräftiger ich mitmache, desto mehr freuen sich die beiden lustigen orangefarbenen Smileys auf dem Computerschirm und grinsen über das ganze Gesicht. Die Therapeutinnen kommentieren das meistens mit einer Feststellung, wie: "Na also, die Smileys freu'n sich heut' aber besonders! Bravo, Herr Präähm."
Ich mich aber nicht, will ich sagen, verkneife es mir aber. Es ist doch so ein schönes, teures und effektives Gerät, dieser Amadeo. Und hin- und herschieben kann man ihn auch.
Ich frage mich, ob man die Smileys foltern kann. So wie früher die Tamagotchis. So richtig zum schreien bringen und dann mit einem Haufen grauem Gras verhungern lassen.
In Altenhof, wo ich wohne, gibt es keine geballten Hightech-Forced-Use Smileymaschinen. Dort hat mir mein Ergotherapeut ein Geschirrtuch in die Hand gedrückt und gesagt: "Das ist unser Amadeo". Seine Methode war äußerst effektiv und hat dazu beigetragen, meine Finger durch strecken und raffen wieder in Bewegung zu bringen. Dafür zeigt der Amadeo in Prozent an, wie viel Extension und Flexion ich mit meinen Fingern erreiche. Das hat allerdings absolutes Suchtpotential. Ich ertappe mich immer wieder bei der streberhaften Reaktion, richtig stolz auf mich zu sein, wenn ich statt 97% 98% schaffe. I must be the greatest, wie Muhammad Ali sagen würde.
17:00 Abendessen. Dasselbe in Grün wie zu Mittag. Aber auch viel beige und grau. Manchmal Nudeln mit Tomatensauce. Schmeckt ganz gut, aber Johannes Itten würde daran verzweifeln. Ruhig mal googeln. Nein, kein Koch.
17:30 Ich sitze im Park mit den Ausreißbäumchen und dem fucking awesome Ausblick auf den Kotzklumpen und den Tümpelteich und das Bergpanorama und die Wolken und den Himmel über dem Gmundnerberg. Alles ist gut. Besser geht es gar nicht. Ich fühle mich wohl (oder übel?). Es ist alles, wie es ist. Carpe Diem, Herr Präähm. Die Zeit vergeht wie im Flug. Nein, die Grenzen zwischen Raum und Zeit verschwimmen und verdichten sich schließlich zu einer absoluten Singularität vollkommener Glückseligkeit.
Junge vollbusige Schönheiten in Bikinis schieben mir geschälte Litschis, Créme brulé, und Schokoladetrüffel in den Mund, laben mich mit Champagner und einem ausgezeichneten Chianti und singen mir mit ihren zarten Stimmen verträumte Melodeyen ins Ohr.
Verträumt?
Ohh, fuck you, Herr Präähm. Alles nur geträumt.
Ich wache auf und bin wieder am Gmundnerberg.