Mittwoch, 9. August 2017

Der Schwarm

In einem Punkt habe ich mich in den vergangenen drei Jahren sehr verändert: Ich kippe psychisch nicht mehr sofort um, wenn mir ein Arzt eine schlechte Nachricht übermittelt. Im aktuellen Fall geht es um Diabetes Mellitus. Es gibt zwar keine Diagnose, aber aufgrund eines erhöhten Blutzuckerspiegels im nüchternen Zustand liegt der Verdacht zumindest nahe.


Alles kein Drama. Die Ärzte bestätigen meine Vermutung, dass ich meine Blutzuckerwerte durch Ernährungsumstellung, Gewichtsreduktion und intensives Training deutlich verbessern kann. Eine drastische Senkung des Blutzuckers, in Milligramm pro Deziliter gemessen, wäre dadurch sicher möglich. Mein Blutzucker hat sich schon immer meinem Gewicht entsprechend verändert. Je dicker ich war, desto höher der mg/dl-Wert. Je mehr Gewicht ich verloren habe, desto niedriger war er. Ich habe zwar keine alten Befunde griffbereit, erinnere mich aber daran, dass das schon vor zwanzig Jahren so war. Langzeitschäden eines erhöhten Blutzuckers habe ich keine. Meine Wundheilung ist sogar außergewöhnlich gut.


Bisher habe ich die Bestimmung des Langzeit-Blutzuckerwertes (HbA1c) verweigert. Ich weiß, dass es nicht üblich ist, dass ein Patient versucht, die Diagnose zu verhindern, aber hier geht es um nichts anderes als mein Seelenheil. Das klingt vielleicht dramatisch, ist aber so. Mein Selbstwertgefühl war durch meine eigentliche Erkrankung, dem Guillain-Barré-Syndrom, lange Zeit am Boden.


Ich war vom Hals abwärts bis zu den Zehen vollkommen gelähmt. Etwa ein Jahr lang. Innerhalb der folgenden drei Jahre ist es mir durch die Hilfe meines Physiotherapeuten, meines Ergotherapeuten sowie der wunderbaren Mitarbeiter in dem Behindertendorf in Altenhof am Hausruck gelungen, meinen Oberkörper, meine Arme und Hände wieder normal bewegen zu können. Ich kann Gegenstände ergreifen, aufheben, verwenden, und auch das heben einer Packung mit sechs 1,5-Liter-Flaschen Coca-Cola Zero ist kein Problem mehr für mich.


Ich habe Lebensmut, Freude an meiner kreativen Arbeit als Grafiker und dem Schreiben von Blogartikeln, Kurzgeschichten und Romanen wiedergewonnen. Ich bin zu einem neuen Menschen geworden, der gelernt hat, gesundheitliche Probleme, persönliche Katastrophen sowie eine diagnostizierte Generalisierte Angststörung zu bewältigen.


Kennen Sie den Zustand einer Generalisierten Angststörung?


Stellen Sie sich folgendes vor: Sie erwachen frühmorgens mit einem Gefühl einer beklemmenden Bedrohung. Selbst, wenn es Frühling ist, die Sonne scheint, die Vögelchen in den Nussbäumen vor Ihrem Fenster zwitschern und die ganze Welt ein riesiger vor Schmalz triefender Kitschbrocken ist. Hinreißende Krankenschwestern säuseln Ihnen ins Ohr, was heute doch für ein herrlicher Tag sei und nur Mut und wir schaffen das und das wird schon wieder. Eigentlich müsste Ihnen die Lebensfreude aus sämtlichen Poren Ihrer Haut tropfen.


Sie haben aber keinen Sinn für die wunderschöne Welt und das zauberhafte Idyll rund um sie herum. Sie liegen in Ihrem Bett, starren an die Zimmerdecke, und es kommt Ihnen so vor, als würde Ihre Brust vibrieren. Sie spüren ein helles und kaltes Zittern hinter Ihrem Brustkorb, wissen aber, dass Ihr Herz völlig in Ordnung ist. Trotzdem fühlt es sich so an, als würde unter Ihrer Haut ein Schwarm von Insekten wuseln. Und selbst, wenn die Krankenschwestern Ihr Zimmer wieder verlassen haben, sind Sie nicht allein. Ein alter Freund besucht Sie.


Ihr Freund kann fliegen. Er ist sogar ein wahrer Meister in dieser Disziplin. Mit kühler Eleganz schwebt der Tod über Ihnen. Er legt sich sanft auf Ihre Haut und begrüßt Sie. Er will Sie aber nicht umbringen, zumindest jetzt noch nicht. Er will Ihnen nur zu verstehen geben, dass er immer für Sie da ist.


Sie wollen ihn abschütteln, den Tod, aber das lässt er nicht zu. Nicht, weil Sie gelähmt sind. Sie könnten zappeln und um sich schlagen als hätten Sie die Tollwut. Es hat nichts mit Ihrer Lähmung zu tun.


Der Tod lässt Ihnen die Angst in die Knochen kriechen. Eigentlich gibt es gar keinen Grund, sich zu fürchten. Sie sind auf dem Weg der Besserung, und wir schaffen das, und das wird schon wieder. Nur Mut. Nur Geduld. Aber es ist schwer, geduldig und mutig zu sein, wenn sich die eigene Haut um den Körper spannt wie ein Leichentuch.


Das Guillain-Barré-Syndrom hat Sie zu einem Geschöpf gemacht, das nur aus Haut und Hirn besteht. Sie können denken, aber sie spüren nichts. Sie spüren nicht, wie Ihre Mutter Ihre Hand streichelt und zu Ihnen sagt: "Nicht verzagen. Nicht verzagen." Hoffnung und Trost. Ein Jahr später stirbt Ihre Mutter. Von da an untröstlich.


Dieser Insektenschwarm der Angst lebt die folgenden Jahre in Ihnen weiter und legt Eier. Es ist nicht nur ein beklemmendes Gefühl am frühen Morgen, direkt nach dem aufwachen. Diese Bedrohung, diese Angst zu sterben, begleitet Sie mit jedem Atemzug. Es ist ständig da. Ununterbrochen, vierundzwanzig Stunden am Tag. Selbst im Schlaf.


Das einzige, was Ihre Angst gelegentlich unterbricht, ist das blanke Entsetzen, das sie empfinden, wenn Sie am nächsten Tag aufwachen und noch immer leben. Dabei wollten Sie doch weiterschlafen. Für immer.


Wenn der Gedanke an das Leben schrecklicher ist als der Tod.


DAS ist eine Generalisierte Angststörung.


Ach so, fast hätte ich es vergessen: Die Lähmung, die Angst und der Tod waren schon fast verschwunden. Mein alter Freund ist zum nächsten Patienten weitergezogen und hat seine Helfershelfer mit ihren Nadeln, Kanülen und Diagnosen ratlos zurückgelassen. Aber die lassen sich nicht einschüchtern. Mit einem scharfen zischen aus ihren insektoiden Tracheen rufen sie die Angst und den Tod wieder zurück.


Und der Sensenmann atmet zufrieden auf. Er freut sich, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört. Seine Klinge wetzt er wieder und singt sein altbekanntes Lied.


Ich bin immer für dich da.


 

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