Ich bin ein Mann aus den Bergen. Im steirischen Mariazell geboren, bin ich zwar nie zu einem richtigen Bergfex geworden, aber alle paar Jahre zieht es mich auf die Alm. So auch in diesem Jahr.
Ich wohne in einer heimeligen kleinen Almhütte nahe eines im Sonnenlicht funkelndes Sees und im drohenden Schatten eines großen und finster dreinschauenden Berges namens Traunstein, dessen unzählige Todesopfer diesem majestätischen Brocken eine unheimliche Wirkung verleihen.
Trotzdem, die Aussicht ist fucking awesome. Der Kotzklumpen und der darunterlegende Tümpelteich bieten einen grotesk-schönen Anblick. Das einzige, was mich daran stört, ist, dass man den Traunstein und die umliegenden Berge nicht schon längst weggesprengt hat, damit ich das Meer sehen kann. Geht aber nicht. Die nötigen Sprengmittel gibt es zwar, aber die Himmelsrichtung stimmt leider nicht. Da helfen selbst Neutronenbomben nicht weiter. Die Adria ist im Süden.
Und ich bin auf Reha.
Mein Tagesablauf sieht etwa so aus:
6:00 Ich werde aufgeweckt, und mir wird der Blutdruck gemessen. Gepflogenheit des Hauses, hat man mir gesagt. Ich frage, ob man die Gepflogenheit nicht auf ein paar Stunden später verlegen könnte. Nein, sagt die nette Diplomschwester, das machen wir bei allen Patienten so. Die Anregung, die Gepflogenheit des Hauses bei allen Patienten auf ein paar Stunden später zu verlegen, stelle ich lieber nicht. Diplomschwestern sind meistens mit einem Blutzuckermessgerät bewaffnet. Und darauf habe ich wirklich keinen Bock mehr, Freunde. Okay?
7:30 Frühstück im Bett. 1 Grahamweckerl mit zwei Scheiben Schinken und zwei Scheiben Käse. Geht so. Trocken und körnig. Frisch, saftig, steirisch wäre mir lieber. Ist aber nicht gut für mich. Zu fett. Ich. Vollkornprodukte sind die Empfehlung meiner Diätologin. Hoffentlich verhungert die nicht irgendwann.
8:15 Morgenpflege. Je nach Personal mehr oder weniger chaotisch. Ich bin dabei zwar ausgesprochen gestresst, aber dafür wird alles ausgezeichnet gemacht. Danach bin ich zwar erschöpfter als nach der Physiotherapie, aber dafür gut versorgt und fit wie ein Stützschuh.
9:00 1. Therapieeinheit. Meistens Ergo. Ich staple kleine Holzwürfelchen übereinander, drücke Löcher in Knetmasse, balanciere mit Murmeln, stecke kurze Stöckchen in kleine Brettchen. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis ich die Stöckchen apportieren muss. Die Feinmotorik meiner Finger hat sich seit Beginn dieser Therapie vor zwölf Tagen nicht verbessert. Sonst übrigens auch nichts.
10:30 2. Therapieeinheit. Physio oder Ergo. Strampeln an der Sprossenwand. Ich kann ohne Gehbock aus dem E-Rolli nicht aufstehen, also soll ich mich mit den Beinen so gut ich kann hochstemmen, während ich mich mit den Händen an den Sprossen auf- und abbewege. Ich gebe mir Mühe und stelle fest, dass sich von Tag zu Tag exakt gar nichts verbessert. Weder Kraft noch Beweglichkeit noch Feinmotorik werden stärker.
Es ist eine Reha der Rückschritte.
11:30 Forced Use Training. Eine Art geballte Powereinheit Ergotherapie, in der ich - und das muss man sich bitte einmal vorstellen - nicht 25 Minuten, sondern 50 (!) Minuten Stöckchen in Brettchen stecke und Murmeln balanciere. Danach bin ich so geschafft und derartig erledigt, dass ich auf dem Weg durch den kleinen Park noch sämtliche Bäume ausreißen könnte.
12:00 Mittagessen. Ich fahre mit dem E-Rolli in den großen Speisesaal und versuche, mich durch den Pulk an nicht ausweichenden Rehapatienten zu manövrieren und dabei so wenige Opfer wie möglich zu hinterlassen. Bisher gab es noch keine Verletzten. Ich bin zufrieden. Gestresst. Genervt. Und angefressen noch vor dem ersten Bissen der Reduktionskost, die farblich zwischen beige und grau schwankt. Komischerweise schmeckt alles aber ganz gut. Und manchmal, wenn die Diätologin frei hat und zu Hause hoffentlich nicht verhungert, gibt es wirklich gutes Essen. Spaghetti Carbonara, faschierten Braten, schmackhaften Fisch, Kartoffeln, Vollkornnudeln und wirklich ausgezeichnete Tomatensaucen. Auch die Suppen können sich sehen und schlucken lassen.
13:30 Physiotherapie. Meine Therapeutin ist riesig, schlank, jung, sympathisch und geduldig. Ich gehe mit dem Gehbock geradeaus, bis ich nur noch aus Schweiß, Fett und Frust bestehe. An sich kein Problem. Kann ich alles aber schon seit zwei Jahren. Dann darf ich Streckübungen im E-Rolli machen. Die Therapeutin erinnert mich in jeder Einheit gefühlte tausendmal: "Brustbein aussi! Als ob a Schnur dran wär!" So versuche ich halt, mein Brustbein aussi zu strecken, als ob a Schnur dran wär, aber es sieht bei mir nicht annähernd so elegant aus wie bei ihr.
14:30 Ergotherapie. Amadeo. Grinsegesichter. Nein, ich meine nicht die Therapeutinnen. Alle supersympathisch. Der Amadeo ist kein Komponist einfühlsamer Klaviersonaten, sondern ein rollender Tisch mit einem Computermonitor dran. Davor befindet sich eine Apparatur, die man am besten als fünf bewegliche Spangen bezeichnen kann. Sie sehen aus, wie die Typen einer alten mechanischen Olivetti-Schreibmaschine. An meinen fünf Fingern werden mit Klebeband kleine runde Magneten befestigt. Manchmal erlaube ich mir einen hochintellektuellen Witz und sage: "Es sind nur vier Finger, weil der Daumen ist anatomisch gesehen ja eigentlich keiner." Die Kommentare der Therapeutinnen reichen von vergnügtem Glucksen bis hin zu anerkennendem Nicken ob meines unnützen Wissens, bis hin zu Bemerkungen wie: "Na, Sie kennen sich aber aus, Herr Präähm." Ich will Ihnen meinen Nachnamen entgegenbrüllen, lasse es aber sein, weil mich jeder anfangs Herr Präähm nennt. Manche lernen es mit der Zeit, manche nicht.
Gut. Die Amadeospangen ziehen meine Finger auseinander und drücken sie wieder zusammen. Aber nicht einfach so, weil Muskeln kann man nicht passiv trainieren, also muss ich mitmachen, wenn ich mag (mag aber meistens nicht). Das ganze dauert zehn Minuten oder länger, und je gleichmäßiger und kräftiger ich mitmache, desto mehr freuen sich die beiden lustigen orangefarbenen Smileys auf dem Computerschirm und grinsen über das ganze Gesicht. Die Therapeutinnen kommentieren das meistens mit einer Feststellung, wie: "Na also, die Smileys freu'n sich heut' aber besonders! Bravo, Herr Präähm."
Ich mich aber nicht, will ich sagen, verkneife es mir aber. Es ist doch so ein schönes, teures und effektives Gerät, dieser Amadeo. Und hin- und herschieben kann man ihn auch.
Ich frage mich, ob man die Smileys foltern kann. So wie früher die Tamagotchis. So richtig zum schreien bringen und dann mit einem Haufen grauem Gras verhungern lassen.
In Altenhof, wo ich wohne, gibt es keine geballten Hightech-Forced-Use Smileymaschinen. Dort hat mir mein Ergotherapeut ein Geschirrtuch in die Hand gedrückt und gesagt: "Das ist unser Amadeo". Seine Methode war äußerst effektiv und hat dazu beigetragen, meine Finger durch strecken und raffen wieder in Bewegung zu bringen. Dafür zeigt der Amadeo in Prozent an, wie viel Extension und Flexion ich mit meinen Fingern erreiche. Das hat allerdings absolutes Suchtpotential. Ich ertappe mich immer wieder bei der streberhaften Reaktion, richtig stolz auf mich zu sein, wenn ich statt 97% 98% schaffe. I must be the greatest, wie Muhammad Ali sagen würde.
17:00 Abendessen. Dasselbe in Grün wie zu Mittag. Aber auch viel beige und grau. Manchmal Nudeln mit Tomatensauce. Schmeckt ganz gut, aber Johannes Itten würde daran verzweifeln. Ruhig mal googeln. Nein, kein Koch.
17:30 Ich sitze im Park mit den Ausreißbäumchen und dem fucking awesome Ausblick auf den Kotzklumpen und den Tümpelteich und das Bergpanorama und die Wolken und den Himmel über dem Gmundnerberg. Alles ist gut. Besser geht es gar nicht. Ich fühle mich wohl (oder übel?). Es ist alles, wie es ist. Carpe Diem, Herr Präähm. Die Zeit vergeht wie im Flug. Nein, die Grenzen zwischen Raum und Zeit verschwimmen und verdichten sich schließlich zu einer absoluten Singularität vollkommener Glückseligkeit.
Junge vollbusige Schönheiten in Bikinis schieben mir geschälte Litschis, Créme brulé, und Schokoladetrüffel in den Mund, laben mich mit Champagner und einem ausgezeichneten Chianti und singen mir mit ihren zarten Stimmen verträumte Melodeyen ins Ohr.
Verträumt?
Ohh, fuck you, Herr Präähm. Alles nur geträumt.
Ich wache auf und bin wieder am Gmundnerberg.
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