Sonntag, 13. August 2017

Der Optimistkäfer

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Heute berichte ich von meinem aktuellen Rehaaufenthalt. Es ist eine kurze Geschichte über Träume, wie man sie erfüllt und wie man sie platzen lässt. Über Hoffnung, Aufmunterung und unglaubliche Fortschritte. Schweiß und Blut sind auch dabei. Und Sie erfahren etwas über Mistkäfer und warum sie zu Recht den Ruf haben, Glücksbringer zu sein.


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Physiotherapie. Hoffnung der Gelähmten. Ein Behindertensport. Zeitreise zurück an die Sprossenwand. Ich glaube, ich muss gar nicht erst versuchen, diese Heilkunst zu definieren. Außerdem verstehe ich zu wenig davon.


Aber eines weiß ich besser als alle Physiotherapeuten der Welt.


Ich weiß, was Physiotherapie nicht ist, was keine Fortschritte bringt und Hoffnung zerstört. Mit Therapeuten zu diskutieren ist sinnlos. Jeder Vorschlag wird abgewehrt, jede Frage ignoriert. Der Therapeut hat immer recht. Die Meinung des Patienten ist bestenfalls dazu da, belächelt zu werden.


Durch das viele aufstehen und hinsetzen in der Physiotherapie hat sich bei mir am linken Unterschenkel die Haut aufgerieben. Das ist nicht erst hier am Gmundnerberg passiert. Das Problem kenne ich schon aus der Physiotherapie in Altenhof. Meine Therapeutin auf der Gmundner Alm hat zwar Verständnis, macht aber keine Anstalten, meinen Übungsplan zu ändern. Alles, was sie mir sagt, ist, ich solle aufpassen. Ob ich die Stelle regelmäßig ansehen lasse, hat sie mich gefragt. Ja, habe ich gesagt, sie wird immer bei der Morgenpflege und der Abendpflege überprüft.


Was ich in weiterer Folge während dieser Reha machen werde, weiß ich noch nicht. Ich sollte am besten keinen Therapien mehr zustimmen, bei denen ich mich am Bein aufreiben könnte, bis es durch den Stützstrumpf blutet. Das würde aber für alle Übungen in der Physiotherapie gelten. Ich wetze mit dem Bein ja nicht nur beim aufstehen an der Kante der Fußschiene aus Metall. Bei den Übungen in der Gruppentherapie Koordination ist es ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass ich dabei sitze und wetze. Wenn ich in der Physiotherapie nicht mehr aufstehen kann, kann ich gleich ganz damit aufhören. Dazu sei noch gesagt, dass meine Therapeuten hier von der blutenden Wunde nichts wussten.


Wenn ich die Beinkraft anders trainieren könnte, hätte ich weniger Probleme und Frust. Der Motomed wäre ideal, aber auch die Beinpresse. Bei der Presse ist es schwierig, mich draufzusetzen. Das ist ein kleiner Sitz, umgeben von Sicherungen, wie Haltegriffen oder erhöhten Rändern. Da komme ich nicht drüber. Das war schon in Altenhof ein großes Problem. Beim Motomed sind die Fußstützen meines E-Rollis im Weg. Die kann man zwar auf sehr umständliche Art abnehmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es dann funktionieren würde. Oder ich setze mich auf einen normalen Sessel, doch da werde ich sicher nicht hineinpassen oder er würde zusammenbrechen.


Es bleibt also aussichtslos, hier auch nur den geringsten Fortschritt zu machen.


Nach 20 Minuten Physiotherapie bin ich schon so erschöpft, dass es mir oft nicht gelingt, noch einmal aufzustehen, um eine letzte Übung zu machen. Besonders, wenn ich mit den Krücken trainiere, ist es so gut wie unmöglich. Ich fühle mich unsicher, habe wieder meine alte Angst hinzufallen, die mich schon seit vier Jahren verfolgt. Ich kann niemandem richtig verständlich machen, dass das wackelige aufstehen aus dem E-Rolli mit dem Gehbock für mich auf extreme Art und Weise beängstigend ist. Und dadurch, dass meine Sicherheit bei dieser Reha nach und nach abgenommen hat, weil ich nur Misserfolge erlebe, wird es noch schlimmer.


Ich schwitze, atme schwer, schnaufe, verziehe mein Gesicht und möchte am liebsten im Erdboden versinken. Vielleicht versteht auch das niemand. Es ist mir einfach unangenehm und überaus peinlich, einen derartig jämmerlichen Anblick zu bieten. Zusätzlich gehen in unmittelbarer Nähe ständig Leute vorbei. Patienten und Therapeuten. Und ich mitten drin: zittrig, unsicher, mit rotem Kopf, ängstlich wie der allerletzte Feigling und schweißgebadet, dass es mir aus dem Gesicht auf den Boden tropft. Ich muss sogar noch darauf achten, nicht auf den eigenen Schweiß am Boden zu treten. Einmal wäre ich fast ausgerutscht, konnte mich aber noch fangen.


Auf diese Art lege ich zuerst fünf Meter zurück, mache eine Pause, indem ich mich in den E-Rolli setze, wuchte mich wieder hoch und schürfe mir dabei meinen linken Unterschenkel noch mehr auf. Meine zu weite Trainingshose rutscht immer weiter nach unten. Ab und zu sagt die Therapeutin zu mir, sie müsse mir die Hose wieder raufziehen. Meine Hosenträger habe ich in Altenhof vergessen, und die beiden engeren Trainingshosen, die gut sitzen, sind nicht immer für mich verfügbar, weil sie in der Wäscherei sind. Ich mache weiter, schleppe mich so gut wie möglich voran. Wieder fünf Meter. Wieder hinsetzen. Wieder aufschürfen.


Dann die nächste Etappe, abermals mit aufreiben des Unterschenkels. Gehen, aufpassen, nicht hinzufallen, Schweiß, Unsicherheit, immer wieder Schrecksekunden, wenn ich glaube, nach hinten umzukippen. Um den jeweils nächsten Schritt zu machen, muss ich mich zuerst so gerade wie möglich hinstellen und mein Gleichgewicht finden. Ansonsten würde ich wahrscheinlich stolpern oder einfach nur nach hinten umkippen. Also weiter. Ich überwinde mich zu jedem neuen Schritt und bemerke, dass meine Bewegungen kein richtiges gehen oder trainieren sind, sondern lediglich Unfallverhütung.


Meine Physiotherapie ist reine Sturzvermeidung. Genau so habe ich mich vor eineinhalb Jahren in Altenhof gefühlt, als ich mit dem Gehbock angefangen habe. Mein Therapeut hat mich immer wieder ermutigt, nicht aufzugeben, und mit seiner Hilfe habe ich es dann geschafft, mit großer Anstrengung aber ohne Sturzangst, von meinem Zimmer bis in den Speisesaal zu gehen. Das sind ungefähr 150 Schritte. Jetzt ist für mich wieder jeder Schritt, als würde ich über einen Abgrund balancieren.


Dazu kommen die ständigen Ermahnungen meiner Turnlehrerin, ich solle gleich große Schritte machen, einen Fuß weit und dann noch weiter vor den anderen setzen, mich so wenig wie möglich am Gehbock abstützen, aufrecht gehen, das Brustbein rausstrecken, nach vorne schauen und nicht auf den Boden, gleichmäßig und tief atmen, das Becken nach vorne strecken, die Knie und die Vorfüße anheben, und zwar richtig, kein Hohlkreuz machen, mit der Ferse zuerst am Boden auftreten, die Schuhspitze nicht über den Boden schleifen, und als krönenden Abschluss stellt sie mir noch die Frage, ob das alles vielleicht ein bisschen schneller geht.


Irgendwie schaffe ich auf diese Art knapp 30 Meter. Und da ich mich sehr anstrenge, sogar noch ein bisschen schneller. Dann falle ich wieder zurück in meinen E-Rolli und überprüfe meinen Aggregatzustand: flüssig. Ohne Scherz. Nach zwanzig Minuten Physiotherapie könnten Sie mich in Flaschen abfüllen und in den Traunsee schütten.


Und noch etwas: Die Therapeutin perfektioniert meine heutige Physioeinheit mit der Empfehlung, ich solle das alles doch zu Hause auch machen. Denn, wenn ich nur einmal im Jahr auf der Reha trainiere, war alles nutzlos. In Wirklichkeit ist es aber genau umgekehrt. In meinem neuen Zuhause in Altenhof am Hausruck funktioniert das alles einwandfrei. Dort hat man mich wieder auf die Beine gebracht, nicht hier. Meinen Therapeuten und allen Mitarbeitern bei assista Altenhof gebühren die Lorbeeren.


Hier, auf der Reha, ist es nutzlos.


Ohne Zweifel, diese Therapeutin hat mit allen ihren Anregungen und Vorschlägen sicher recht. Ich habe keine Probleme damit, ihre Kompetenz zu akzeptieren und zweifle sie auch nicht an. Ich kenne die Techniken der Bewegung und die Tipps der Physiotherapeuten inzwischen zur genüge. Aber für mich ist das alles, als würde man einem Ertrinkenden den Rat erteilen, sich doch bitte gerade aufzurichten, die Brust rauszustrecken, die Füße anzuheben und einfach über das Wasser zum rettenden Ufer zu wandeln.


Ich schaffe das alles nicht so einfach. Dazu fehlen mir die Kraft, die Koordinationsfähigkeit, die Feinmotorik, aber vor allem die Motivation. Darum habe ich große Hoffnungen in das Pedaltreten am Motomed gesetzt. Jetzt aber stellt sich heraus, dass das in dem supermodernen, weltweit höchst angesehenen und kurz vor der Heiligsprechung stehenden Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg nicht möglich ist. Egal. Ich nehme andere, aber dafür effektive, Therapievorschläge gerne entgegen. Ich will wieder auf meinen eigenen Beinen stehen und gehen können. Das ist alles, was ich mir vom Gmundnerberg erhofft habe. Daran arbeite ich jetzt schon seit Juni 2013.


Die vollständige Heilung und Wiederherstellung der Gehfähigkeit ist bei der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom absolut möglich. Viel habe ich schon erreicht, aber ohne die Hilfe, die Unterstützung, die Aufmunterung und den Humor der Belegschaft von assista Altenhof hätte ich keinen einzigen Schritt gemacht. Eine Pleite wie jetzt habe ich in den letzten vier Jahren noch nicht erlebt. Daran trägt niemand die Schuld. Auch ich nicht.


Aber ich bleibe optimistisch. Eigentlich mag ich diesen Ausdruck nicht, weil in ihm das Wort Mist steckt. Eine zuversichtliche Einstellung zum Leben ist aber auf jeden Fall gut. In Ägypten war der Mistkäfer heilig. Er hat nie aufgegeben, sondern seine Kugel immer weiter und weiter gerollt. Dabei hat er sich im Rückwärtsgang bewegt, aber die Kugel stetig vorangebracht. Er folgte dem Lauf der Sonne und half ihr so, im Osten wieder aufzugehen.


Der Mistkäfer Skarabäus war die Verkörperung des Ptah, dem Gott der Erneuerung. Skarabäus war das Symbol der Auferstehung und des Lebens. Er symbolisierte Re, den Sonnengott und dessen Erscheinungsform Cheper, die Morgensonne. Als Herr aller Götter und höchster Schöpfergott, der Allvater, war Ptah-Skarabäus in anderen Kulturen identisch mit Brahma, Zeus, Teutates, Jupiter und Odin.


Was soll ich noch sagen? Ich bleibe Optimist. Beim Teutates!

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