Freitag, 18. August 2017

Im Reich der Bergaffen

"Uns hält der Arzt, auf dass er lebe,
zwischen Tod und Krankheit in der Schwebe."
- Karl Kraus

Ich werde mich bemühen, in dem Fazit zu meiner Reha am Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg so sachlich und fair wie möglich zu sein. Das ist für einen Betroffenen nicht leicht, aber ich verstehe, dass die Verantwortlichen, die mich in den vergangenen vier Wochen betreut haben, nur das beste im Sinn hatten. Es liegt wohl vor allem an meiner alten, tief in mir sitzenden Angst vor negativen Konsequenzen, die es mir so schwer macht, meine Probleme und Beschwerden zu schildern. So ist die Kommunikation mit den Pflegekräften, Therapeuten und Ärzten nicht so, wie ich sie gerne hätte.

Hier also eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse während meiner Reha:

Die Probleme begannen für mich, als man damit begonnen hat, mir an den Fingerspitzen Blut abzunehmen, um den Blutzucker zu testen. Dabei hat sich herausgestellt, dass er deutlich erhöht ist. In den folgenden Tagen hat man die Prozedur wiederholt und es gab einen ersten Versuch, bei mir ein Tagesprofil zu erstellen. Dabei wird dem Patienten fünf mal an einem Tag Blut aus einer Fingerspitze entnommen und von einem kleinen Messgerät analysiert. Bei diesen Messungen hat mein Blutzucker zwar geschwankt, war aber doch zu hoch. Dieses Tagesprofil habe ich schließlich abgebrochen.

Hier sind die Gründe, die sicher nicht leicht zu verstehen sind:

2015 wurde bei mir eine Generalisierte Angststörung (GAD) diagnostiziert. Ich habe in meinem Blog schon oft über das Thema Angst geschrieben. Zwar hatte ich nie richtige Panikattacken, aber viel hätte sicher nicht mehr gefehlt. Mit Hilfe einer Therapeutin habe ich durch eine Klientenzentrierte Gesprächstherapie meine Ängste sehr gut in den Griff bekommen.

Es ist schwer, die Symptomatik der Angst zu beschreiben. In meinem Fall war es so, dass sich im Verlauf meiner Krankengeschichte ein ständiges, äußerst beklemmendes Gefühl einer ständigen Bedrohung entwickelt hat. Mehrere Faktoren haben dies verursacht.

•Meine Grunderkrankung: Guillain-Barré-Syndrom
•Tetraparese. Die vollständige Lähmung meines Körpers vom Hals abwärts bis zu den Zehen
•Die Ungewissheit über meine Heilungschancen
•Zwei Monate Intensivstation
•Vier Monate Neuro
•Vier Monate Reha
•Probleme mit einem Dauerkatheter
•Eine Tiefenvenenthrombose mit für mich bis dato ungekannter Todesangst
•Der Beginn eines völlig neuen Lebens in Altenhof am Hausruck
•Der Tod meiner Mutter 
•Der Verlust meiner Mietswohnung in Seewalchen am Attersee
•Die Aussicht darauf, den Rest meines Lebens in einem Rollstuhl und in einem Heim verbringen zu müssen
•Ein starker Einbruch meines Selbstwertgefühls und meines Selbstvertrauens

Das sind die wesentlichen Auslöser meines ständigen, wie ein Druck auf mir lastenden Angstgefühls. Die Folge ist, dass schon die kleinsten Veränderungen meine nicht spezifizierbare Angst noch verstärken. Mittlerweile ist das nicht mehr annähernd so schlimm, wie vor vier Jahren, aber dieses Grundgefühl der Angst, das hinter meiner Brust vibriert, ist immer noch da. Immer. Auch jetzt, während ich dies schreibe, obwohl alles in Ordnung ist. Ich liege gerade, leicht aufgerichtet, in meinem Bett im Therapiezentrum Gmundnerberg und versuche, meine Empfindungen und Probleme der vergangenen vier Wochen verständlich zu machen.

Obwohl ich in absoluter Sicherheit bin, habe ich das Gefühl, dass schon in der nächsten Minute etwas schreckliches passieren könnte. Es ist nichts bestimmtes, vor dem ich Angst habe. Die Angst ist einfach nur da. Sie erklärt mir nichts, sie tut nichts, sie hat keinen tatsächlichen Grund. Sie ist einfach nur da und quält mich an manchen Tagen mehr und an manchen Tagen weniger.

Die Blutzuckertests der letzten vier Wochen haben die alten Ängste und Befürchtungen wieder aufgeweckt. Zwar kann ich die Angst durch die Gesprächstherapie und durch Achtsamkeitsmeditation, die ich mir selbst beigebracht habe, gut unter Kontrolle halten, aber sie verhindern bei mir doch ein Grundgefühl der Lebensfreude. Aber ich erinnere mich daran. Und ich weiß, dass ich es wiederfinden werde.

So ungefähr fühlt sich das an. Ich war in den letzten drei Jahren nicht nur auf dem Weg der Besserung, sondern war schon so optimistisch und zuversichtlich, dass ich glaubte, ich stünde kurz vor der endgültigen Heilung. Meine Erwartung war, dass ich hier, am Gmundnerberg, den Feinschliff bekommen würde, um meine sehr erfolgreichen Gehübungen noch zu perfektionieren.

Dann kam die Zuckerfee und hat mir eins übergebraten. Sie hat meine Angst sozusagen karamellisiert. Wer sich schon einmal die Finger an geschmolzenem Zucker verbrannt hat, weiß, wie sich das anfühlt.

Natürlich tun die Ärzte ihr bestes, um mir eine ausgezeichnete Therapie zu ermöglichen, und ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, ich würde den Ärzten nicht vertrauen. Zu Ärzten habe ich ein generelles Urvertrauen. Mein Vater war praktischer Arzt in Seewalchen am Attersee, meine Mutter war Diplomkrankenschwester, und mein Bruder ist Facharzt für Urologie in Graz.

Trotzdem habe ich die ständigen Blutzuckertests hier als sehr irritierend und beängstigend empfunden. Wir haben uns schließlich darauf geeinigt, noch einmal ein Tagesprofil zu erstellen, mir die Werte aber nicht zu sagen. Daran haben sich dankenswerterweise auch alle gehalten. So hatte ich den Kopf wenigstens einigermaßen frei für die Therapien.

Aber selbst diese Methode konnte nicht verhindern, dass bei der Physiotherapie bei jedem Schritt, den ich mit dem Gehbock und den Krücken machte, die Gedanken an Amputationen, Schlaganfälle und Blindheit mit mir mitgingen. Meine Physiotherapeutin hat mich mehrmals gefragt, warum ich mich unsicher fühle. Ich habe ihr gesagt, dass mich Veränderungen nervös machen. Am Gang kommen mir Leute entgegen, die Therapeutin ruft mir Anweisungen zu, wie meine Schritte länger zu machen, mich nicht zu sehr am Gehbock abzustützen, locker zu atmen, das Brustbein rauszustrecken, mich aufzurichten, ganz groß, noch größer und gerade zu gehen. Und, wenn' s geht, alles noch ein bisschen schneller. Und auf' s schnaufen nicht vergessen.

Mit all dem hat sie ja recht, und es stimmt auch, dass eine verbesserte Rumpfstabilität die Gehfähigkeit verbessert. Dennoch geht bei jedem Meter, den ich zurücklege, mein alter Freund mit der Sense neben mir her und legt eine Hand auf meine Schulter. Und er flüstert mir mit einem Lächeln ins Ohr:

"Geh' weiter, Markus. Geh immer weiter, und gib nie auf. Je mehr du trainierst, desto schneller kommst du zu mir. Und falls du es nicht schaffst, ich bin immer für dich da und mache dir Beine. Schokolade?"

Eine der Stationsärztinnen sagte bei einer Visite zu mir: "Ihr Blutzucker war a bisserl hoch. Aber es besteht kein akuter Handlungsbedarf." Das war ein wörtliches Zitat. Blutzucker ein bisschen hoch, aber kein akuter Handlungsbedarf.

Bei einer Visite letzte Woche, sagte der Primar zu mir: "Ihr Blutzucker war etwas hoch, aber nicht dramatisch." Auch dies ist ein wörtliches Zitat.

Auf die Einschätzung zweier Ärzte werde ich mich ja wohl verlassen können. Das tue ich auch. Den Langzeitzuckertest werde ich nachholen. Selbstverständlich habe ich vor, den HbA1c-Wert bestimmen zu lassen und notwendige Therapien zu machen. Aber ich will zuerst mein Gewicht von 135 Kilo deutlich reduzieren. Ich war bei drei Vorträgen zur Diabetesschulung. In allen drei Veranstaltungen war der Kanon der Information: Man kann den Diabetes mellitus vom Typ 2 durch die Anwendung Dreier Maßnahmen auf das Niveau eines gesunden Menschen bringen. Diese drei Maßnahmen sind, Bewegung, Gewichtsreduktion und Medikamente. Dies wurde auch als Drei-Säulen-Modell bezeichnet.

Ich werde mich vorläufig auf die ersten zwei Säulen stützen und dabei auf' s schnaufen nicht vergessen. Wenn sich dadurch mein Blutzucker nicht unter einen Wert von 7% senken lässt, werde ich auch die Medikamente nicht verweigern.

Meine Zuckerwerte schwanken schon seit zwanzig Jahren mit meinem Gewicht auf- und ab. Je fetter ich bin, desto fetter sind meine Blutzuckerwerte, und je schlanker ich manchmal werde, desto niedriger ist der Blutzucker. Leider ist es mir nie gelungen, ein deutlich niedrigeres Gewicht langfristig zu halten. Man könnte es als das Drama meines Lebens bezeichnen.

Ach ja, noch etwas. In den letzten drei Jahren habe ich meine Ängste, Depressionen und Horrorszenarien in meinem Kopf mit Schokolade und anderen Süßigkeiten bekämpft. 150 bis 300 Gramm pro Tag waren die normale Dosis. Das Resultat war für mich eindeutig. Die Niedergeschlagenheit, das ständige Angstgefühl und die Trauer um meine Mutter ließen mit der Zeit nach. Genauer gesagt, hat die Trauer um meine Mutter nie nachgelassen, ich habe mich nur daran gewöhnt.

Als leichtsinniger Laie halte ich es durchaus für möglich, dass meine jahrelange hochdosierte Schokoladetherapie (oral) zu einer Art chronischer Blutzuckerentgleisung geführt hat. Seit dem 20. Juli habe ich keine Schokolade und auch keine anderen Süßigkeiten mehr gegessen und keine zuckerhaltigen Limonaden mehr getrunken. Heute, während ich diesen Blogpost schreibe, ist der 18. August 2017. Meine aktuellen Blutzuckerwerte will ich noch immer nicht wissen, zumindest nicht, bis ich wieder in Altenhof bin. Ich werde ja sehen, ob mein Süßigkeitenverzicht, meine Diät und viel Bewegung meinen Blutzucker senken.

So ungern ich das sage: Die drei Wochen Reha am Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg haben mich sowohl physisch als auch psychisch weit zurückgeworfen. Meine Hoffnung, bald den Rollstuhl nicht mehr zu brauchen und wenigstens einigermaßen mit Krücken oder sogar nur einem Stock gehen zu können, ist zerstört. Niemand wollte das. Am allerwenigsten ich.

Gerne würde ich sagen, die Reha war eine schöne Zeit, und ich fahre mit großen Fortschritten und gestärkter Zuversicht wieder nach Altenhof zurück. Das Gegenteil ist der Fall. Meine gesundheitliche Zukunft ist wieder ungewiss, ich fühle mich beim Gehtraining so unsicher wie schon seit zwei Jahren nicht mehr, und mein Traum von Heilung hat sich in einen Albtraum aus Schlaganfällen, Amputationen und Blindheit verwandelt.

In der Hoffnung, dass dieser Traum nicht wahr wird, werde ich in Altenhof bestimmt wieder neue Freude an meinem Dasein gewinnen. Bestimmt wird der Glaube daran, dass für mich noch immer alle Wege offen und begehbar sind, wieder zurückkommen. Ich lasse mich von ein paar finster dreinblickenden Weißkitteln doch nicht fertigmachen und meine Hoffnung zerstören. Bisher ist immer alles wieder gut geworden, und die schlimmsten Prognosen der Ärzte in Bezug auf meine Krankheit Guillain-Barré-Syndrom haben sich alle als falsch erwiesen. Ich habe mich mit sehr viel Hilfe der Menschen in Altenhof wieder auf die Beine gekämpft. Sicher habe ich viele Fehler gemacht, aber die Angst in meinen Knochen hat ein besseres Verhalten verhindert.

Die Angst war weg. Jetzt ist sie wieder da. Aber das ist mir egal. Solche Schwankungen bin ich gewöhnt. Die kommen und gehen wie die Weißkittel mit ihren Pharmaprodukten. Merkwürdigerweise habe ich von alternativen Heilmethoden für Diabetes hier am Gmundnerberg nichts gehört. Woran das wohl liegen mag? Ich will gar nicht darüber nachdenken. Dem Buch "Diabetes adé" entnehme ich jedenfalls, dass Diabetes mellitus auf natürlich Art und ohne Tabletten oder Insulinspritzen vollständig heilbar ist. Auch davon hat man mir nichts gesagt. Na, das wird schon einen Grund haben. Alles ziemlich verwirrend.

Nichts ist aus meinem Traum geworden, durch die Heilkräfte des sagenumwobenen Gmundnerbergs fröhlich über die Almwiesen mit ihren saftigen Graserln und Kräuterln zu tanzen und vierblättrigen Klee zu pflücken. Dreiblättriger hätte mir schon gereicht, aber nicht einmal dafür hatte ich genug Glück. 

Na ja, so verlasse ich das Gebirge mit seinen Wetterumschwüngen wieder. Komisch finde ich, dass ich hier nirgendwo Kühe, Ziegen oder Hirsche gesehen habe. Oder habe ich nicht genau genug hingeschaut? Vielleicht haben sie mich ja geradezu umzingelt, aber ich habe es zu spät bemerkt. Egal. Hauptsache, sie beißen nicht. Sie wollten mich ja nie in ihre Hackordnung eingliedern, mich zu einem Mitläufer ihres Rudels machen oder mir Disziplin vor den Leitwölfen einbläuen. Ich hatte auch nie das Gefühl, dass einige der blauen Kragenbären mich bevormunden oder einfach nur wegbeißen wollten. Davor haben mich die wundervollen himmelblauen Schutzengel bewahrt. Nicht, dass ich mich nicht verteidigen könnte.

Aber eines beruhigt mich dann doch: Gut, dass es im Gebirge keine Bergaffen gibt, sonst hätte ich bei meiner Abreise das Gefühl, in die menschliche Zivilisation zurückzukehren.

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