Samstag, 18. Oktober 2014

Absolutes Glück

Das Glück ist vollkommen.
Da das menschliche Hirn nicht multitaskingfähig ist und in einem Augenblick nur eine Wahrnehmung haben kann, bedeutet das, dass jedes Glück absolut ist. Jede Glücksempfindung und jede Freude sind ungetrübt und einhundertprozentig. Das Hirn kann sehr schnell umschalten, in Sekundenbruchteilen. Dann stellen sich oft negative Gedanken ein, die das Glück scheinbar trüben. Aber eben nur scheinbar.
Im Augenblick des Glücks ist jedes Glück vollkommen.
Das ist doch ein Gedanke, den festzuhalten es sich lohnt. Ich war oft in der Situation, in der ich nicht mehr weiterwusste und mir gewünscht habe, am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen. Aber selbst auf den dunelsten Irrwegen meiner Reise durch die Nacht, war immer wieder ein Gedanke da, der mir Kraft gegeben hat.
Das Leben kann schön sein. Es gibt sie, die schönen, von Glück und Lebensfreude erfüllten Momente. Sie sind da, genau wie der Weg. Man muss ihn nur gehen, selbst, wenn er tief in die dunkle Nacht der Seele führt.
Und Glücksmomente muss man abwarten. Aussitzen im Rollstuhl. Ausliegen auf der Intensivstation mit einer Atemmaske im Gesicht und tausend Schläuchen in den Venen. Austräumen, in den Folterkellern und Wüstenlandschaften des Guillain-Barré-Syndrom. Man muss einfach darauf vertrauen, dass die schönen Erlebnisse bereits auf einen warten, dass sie da sind und geduldig darauf vertrauen, dass man an sie glaubt.
Wer den Glauben an das Glück verliert, stirbt.
Wenn auch nicht unbedingt körperlich, dann bedingungslos seelisch. Die menschliche Seele ist empfindlicher als die dünnste Myelinschicht. Die Seele hat keine Knochen, die sie selbst während der Lähmung einer Tetraparese stützen und auch keine Muskeln, die sich von der Atrophie wieder erholen können. Sie hat keine Lunge, die man künstlich beatmen kann und sie kann auch nicht in ihrem eigenen Blut schwimmen, wenn ihr Darm fast zerplatzt.
Mein Körper kann das alles. Er war an diesen finsteren Orten, aber er hat sie wieder verlassen. Die Lähmung und das Blut hat er abgeschüttelt. Aber meine Seele hinkt. Noch immer. Ein Teil von ihr liegt immer noch auf der Intensivstation. Ein anderer Teil ist gestorben und zu Asche verbrannt und liegt bei meiner Mutter unter einer Hainbuche in Graz.
Aber der Weg lebt weiter. Er ist da. Immer noch. Der Weg, der mich auf meiner Reise durch die Nacht führt, ist ein atmender lebender Organismus.
Er ist der Weg des Lebens.
Klingt wie eine Predigt, finden Sie nicht? Vielleicht ist es sogar eine. Willkommen in der Kirche der akuten inflammatorische demyelinisierenden Polyneuropathie Guillain-Barré-Syndrom. Ziemlich umständlicher Name für eine Glaubensgemeinschaft. Ich will auch gar keine Predigt halten, sondern Sie einfach nur daran erinnern, dass die Straße des Glücks mit glühenden Kohlen gepflastert ist. Egal, ob Sie selbst an GBS leiden oder nicht, denken Sie immer an eines:
Wer den Glauben an das Glück verliert, stirbt.
Unser Hirn verliert diesen Glauben nicht. Ich habe Menschen mit schwersten Körperlichen Behinderungen kennengelernt, die trotzdem noch in der Lage waren, Freude und Glück zu empfinden. Vielleicht sogar gerade deswegen. Ich glaube, wenn die Welt sich um einen herum weiterdreht und weiterlebt, während man selbst zu einem bewegungsunfähigen Körper reduziert wird, sind es gerade diese scheinbar bedeutungslosen und alltäglichen Erlebnisse, die einen nicht verzweifeln lassen.
Da ist zum Beispiel die Putzfrau auf der Intensivstation, die zu mir sagt: "Mit ein bisschen Wünsch geht alles!" Ich schreibe bewusst, dass sie es zu mir sagt und nicht, dass sie es zu mir sagte. Denn ihre Worte höre ich noch immer. Oft, wenn ich wieder zu verzagen drohe, höre ich sie. Danke.
Oder der Primar der Neuro, der auf meine Frage, ob wir eine schmerzhafte Muskeluntersuchung mit langen Nadeln, die tief ins Fleisch gestochen werden, auch bleiben lassen können, zu mir sagt: "Ja, sicher!" und mich dabei anlächelt.
Der Patient mit der Gesichtslähmung, mit dem ich mich über meine Krankheit unterhalte und erzähle, dass ich am Anfang am ganzen Körper gelähmt war, meint: "So ein Blödsinn, was es so alles gibt." Ich fand das sehr erfrischend, weil dieser sympathische und witzige 70jährige Mann eine Krankheit nicht als Schciksalsschlag oder Katastrophe bezeichnet, sondern schlicht als Blödsinn. Und er hat ja auch recht.
Stopf dir das in den Rachen und friss es, Guillain-Barré-Syndrom: Du bist nichts weiter als einfach nur Blödsinn.
Vielleicht hilft es Ihnen, so zu denken, mir hat es jedenfalls geholfen.
Diese Erlebnisse, die Fähigkeit meines Hirns jedes Glück als absolut vollkommen zu erleben, das Wissen, dass der Weg da ist und die Worte der Putzfrau:
"Mit ein bisschen Wünsch geht alles."
Dieses bisschen Wünsch wünsche ich Ihnen auch, mein lieber Leidenskollege.
Und verlieren Sie Ihren Glauben an das Glück nicht, sonst verlieren Sie Ihr Leben.

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