Freitag, 10. Oktober 2014

Angst vor der Gesundheit - Aus meinem Tagebuch

Angst ist wohl die größte und schlimmste meiner Krankheiten. Genaugenommen ist sie sogar die einzige, denn die Lähmung scheine ich ja überwunden zu haben. Das ist so besonders frustrierend an meiner Situation. Wenn ich fleissig trainiere, werden meine Muskeln stärker, mein Körpergefühl bessert sich und damit auch die Sicherheit beim Stehen und später beim Gehen. Aber kaum spüre ich etwas in der Harnblase, kommt meine Angst wieder zurück. Innerlich erstarre ich dann und verliere jede Motivation und Freude, etwas zu tun.
   Dazu kommt noch die verrückte Angst, wieder gesund zu werden. Gesundheit verbinde ich mit Unsicherheit. Was wird aus mir werden? Solange ich im Rollstuhl sitze, bin ich zumindest in Sicherheit. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wieder der Alte zu werden. All diese Vorstellungen: einfach aufzustehen und zu gehen, mich auf einen normalen Sessel zu setzen, auf die Toilette gehen zu können, normal zu duschen, mich ins Bett zu legen und daraus wieder aufzustehen. Mir selbst die Hose an- und auszuziehen. So wie früher. Wie ich es fast mein ganzes Leben gemacht habe. Ich weiß ja, dass ich dann trotzdem hier in Altenhof bleiben kann. Auf jeden Fall so lange, bis ich keine Angst mehr vor der Gesundheit, der Zukunft und dem Leben habe.
   Trotzdem…Dann ändert sich für mich wieder alles. Natürlich zum Besseren, das ist mir schon klar, oder zumindest hoffe ich das, aber Veränderungen machen mir Angst, auch, wenn sie noch so viel Gutes bringen. Andererseits ist mir klar, dass ich nicht den Rest meines Lebens im Rollstuhl und im Bett verbringen will. Trotzdem habe ich Angst, gesund zu werden. Ich weiß, wie wahnsinnig sich das anhört. Als ich noch gesund war, hatte ich auch keine Angst davor, gesund zu sein. Ich frage mich, ob es anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation wie ich leben, auch so geht. Ich stelle mir vor, dass die meisten Kranken oder Behinderten so schnell wie möglich so gesund wie möglich werden wollen.
   Will ich das nicht? Das frage ich mich. Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, ob es für mich nicht besser wäre, krank und behindert zu bleiben. Ich weiß, dass jeder, der das liest innerlich aufschreit und sich fragt, ob ich verrückt bin. Um ehrlich zu sein, diese Frage stelle ich mir auch oft. Haben mich mein Leben, meine Krankheit und meine Traurigkeit irgendwann wirklich verrückt gemacht? Nun, klinische Anzeichen gibt es keine dafür. Meine Befunde sagen, dass ich geistig völlig normal bin. Aber kann man jemanden als normal bezeichnen, der den halben Tag im Rollstuhl sitzt, auf den nächsten Harndrang wartet und Angst davor hat, gesund zu werden, anstatt zu trainieren, um aus dem Rollstuhl und aus der Angst wieder rauszukommen?
   Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Alles, was ich tun kann, ist, mich so gut ich kann zu bemühen und abzuwarten, was die Zeit mir bringen wird.

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