Donnerstag, 9. Oktober 2014

Mein Leben: Kindheit

Über das eigene Leben schreiben. Eine große Herausforderung.
        Ich habe mir vorgenommen, den Verlauf meines Lebens in einer kurzen Übersicht zu schildern und stelle fest, dass es mir sehr schwer fällt, obwohl ich seit 25 Jahren Tagebuch schreibe. Meine Tagebücher habe ich noch alle, aber es wäre zu umständlich, sie zusammenzufassen und vor allem, sie zu lesen und das Wichtigste herauszufiltern. Also habe ich mich dazu entschlossen, von vorne anzufangen.
Genau genommen beginne ich in der Gegenwart. Heute ist der 4. September 2014, es ist 15:26. Ich sitze in einem elektrischen Rollstuhl an einem langen Schreibtisch in meinem Zimmer im Behindertendorf Assista Altenhof am Hausruck in Oberösterreich. Draußen ist es bewölkt, aber die Sonne scheint ein bißchen, ich höre in den Bäumen vor meinem Balkon einen Vogel zwitschern, und irgendwo in der Ferne wird gehämmert.
Während ich hier sitze und mit dem Zeigefinger meiner linken Hand diese Zeilen in die Bildschirmtastatur eines Tablet-Computers tippe, weiß ich, dass ich gute Chancen habe, aus dem Rollstuhl wieder rauszukommen, obwohl ich seit über einem Jahr am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt bin. Das ist eine Lähmung, die durch eine bakterielle Infektion entstanden ist, und die durch eine zu starke Reaktion meines Immunsystems die Isolierschicht der Nerven beschädigt hat. Als Folge wachte ich Anfang Juni 2013 auf der Intensivstation des Landeskrankenhauses Vöcklabruck auf und war vom Hals abwärts vollständig gelähmt.
Hier ist eine Zusammenfassung meines Lebens von meiner Geburt bis heute. Es fällt mir selbst schwer, alles zu glauben und zu verstehen, was auf den folgenden Seiten steht, aber ich versichere: Alles, was hier steht ist wahr. Ich habe nichts beschönigt oder verharmlost.
Geboren wurde ich am 29. August 1969 in Mariazell in der Steiermark. Meine ersten zwei Lebensjahre verbrachte ich dort in einem kleinen Haus mit Garten. Erinnerungen habe ich daran natürlich keine. Es muss ein Idyll gewesen sein, denn meine Mutter, Elfriede Pärm, hat es mir so geschildert. Ich war ein fröhliches und aufgewecktes Kind, und meine Mutter hat mich, meinen Vater und unser Leben in Mariazell sehr geliebt. Damals müssen wir alle sehr glücklich gewesen sein.
        Mein Vater war Arzt und ein gebürtiger Este aus Tallinn. Meine Mutter war aus Fohnsdorf in der Steiermark.
Papa arbeitete als Arzt im Krankenhaus von Mariazell, aber 1971 bekam er das Angebot, eine eigene Praxis auf dem Land in Oberösterreich zu betreiben. Meine Eltern entschlossen sich, mit mir Mariazell zu verlassen, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die die Trennung von dieser kleinen Stadt und der Steiermark nie überwunden hat. Auch mein Vater hat in Seewalchen nie Freunde gefunden.
Meine Kindheit verbrachte ich in Seewalchen am Attersee in Oberösterreich, wie auch den größten Teil meines Lebens. Mein Vater war praktischer Arzt und meine Mutter Diplomkrankenschwester. Papa hatte eine Praxis in Seewalchen, und ich bin in meiner Kindheit und Jugend oft mit ihm zur Patientenvisite gefahren. Das habe ich geliebt. Besonders auf den Bauernhöfen hat es mir gefallen. Ich mochte aber auch seine Patienten sehr gerne, besonders die älteren Damen, die einen viel zu hohen Blutdruck hatten, weil sie so gerne Kaffee tranken und salzigen Speck aßen. Ich erinnere mich noch gut an die einfach eingerichteten Stuben mit den Küchentischen, den Sprüchekalendern an der Wand, den Kredenzen mit buntem Geschirr und Kaffeetassen und den alten holzbetriebenen Öfen, auf denen oft eine Schüssel mit kochender Milch stand.
        Ich sah meinem Vater beim Blutdruckmessen mit Stethoskop und einem alten Apparat mit Pumpe und Quecksilbersäule zu. Ich fand seinen Beruf sehr interessant, aber Arzt werden wollte ich nie.
Zu Hause spielte ich in unserer Mietswohnung mit Legosteinen, Schlümpfen und im Hof zwischen den Häusern mit meinen Freunden und Big-Jim-Figuren. Wir spielten Winnetou und bauten Burgen in der Sandkiste. Wir holten uns im Sommer Eis aus dem Wirtshaus, und im Winter bauten wir Iglos.
Es wäre eigentlich eine normale Kindheit gewesen, wenn nicht ein Schatten über meinem sorglosen Leben gelegen hätte. Es war der Schatten böser Menschen. Zumindest empfand ich sie damals als böse, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Meine Mutter hatte eine Feindin. Es war eine Nachbarin, die mit ihrem Mann in der Wohnung über uns lebte. Diese Frau hat meine Mutter jahrelang verfolgt, verleumdet und andere Nachbarn gegen sie aufgehetzt. Das hat zwar nicht bei allen geklappt, aber bei manchen fiel der Hass dieser Frau auf meine Mutter auf fruchtbaren Boden. Woher dieser Hass kam, weiß ich bis heute nicht, nur, dass diese Frau bei uns als Aufräumerin gearbeitet und ein paar Dinge gestohlen hat. Kleinigkeiten, wie Teile von Schmuck und Bücher. Als ich noch sehr klein war hat diese Frau auf mich aufgepasst, während Mama in der Ordination meines Vaters als Krankenschwester arbeitete. Eines Tages kam sie zu Mittag von der Arbeit nach Hause. Ich saß in meinem Gitterbett, weinte und war mit einem Berg Spielsachen überhäuft. Meine Mutter war entsetzt, zerstritt sich mit der Nachbarin, und so begann die Zeit der Verfolgung, die dazu führte, dass sich meine Mutter das Leben nehmen wollte. Ich erinnere mich daran, wie Mama immer geweint hat, wenn ich von der Volksschule nach Hause kam. Lange Zeit war sie nervlich völlig am Ende.
Hier ein paar Beispiele der Geschichten, die unsere Nachbarin über meine Mutter in Seewalchen und rund um den Attersee erzählt hat: Sie hätte Verhältnisse mit mehreren Männern, sei Kommunistin, spioniere in Fabriken, würde beim Nachhilfeunterricht, den sie zeitweilig gegeben hat, Schüler verführen, handle mit Drogen und Medikamenten, führe Abtreibungen durch und zerstückele kleine Kinder.
Ich glaube, ich muss nicht extra erwähnen, dass nichts von all diesen Anschuldigungen wahr war.
        All das, die Verzweiflung meiner Mutter, die Machtlosigkeit meines Vaters, dagegen etwas zu unternehmen und die enge Freundschaft vieler Leute zu dieser Nachbarin und ihrem Mann, führte dazu, dass ich in einem Klima der Entfremdung und Bedrohung aufwuchs. Ich hatte zwar nie Probleme mit meinen Freunden oder anderen Menschen aus der Gemeinde, ich würde meine Kindheit sogar als glücklich bezeichnen, aber ich fand nie ein Urvertrauen in die Gemeinschaft, in der ich lebte. Das ist bis heute so geblieben. Die einzigen beiden Menschen, denen ich bedingungslos vertraute, und von denen ich mich verstanden und geliebt fühlte, waren meine Mutter und mein Vater. Beide haben mich in meinem Leben nur ein einziges Mal enttäuscht: Als sie gestorben sind. Mein Vater am 6. September 2001 nach einem Herzinfarkt und einer Darmoperation und meine Mutter am 15. August 2014 an den Folgen eines Herzklappenfehlers. Mein Vater wurde 79, meine Mutter 81 Jahre alt. Ich bin jetzt 45. Es ist erst drei Wochen her, dass Mama gestorben ist, und heute ist Papas Todestag.

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