Samstag, 4. Oktober 2014

Wenn Sie an GBS leiden

Wenn Sie an GBS leiden, kann ich Ihnen nur raten: Verzweifeln Sie nicht! Ich weiß, wie abgedroschen und allgemein dieser Rat ist, aber das ist es, worauf es hinausläuft: Nicht aufzugeben, geduldig zu sein und den Mut nicht zu verlieren. Wenn Sie Sätze wie »Es wird schon wieder!« oder »Kopf hoch!« schon nicht mehr hören können, wenn Ihnen die Blase vom Dauerkatheter weh tut, wenn Ihre Hände sich einfach nicht bewegen wollen, obwohl Sie ihnen gut zureden und sie darum bitten, ja sogar anflehen, sich endlich zu bewegen, denken Sie daran, dass sich Ihr Zustand bessern wird. Ganz bestimmt. Denken Sie vielleicht auch daran, dass diese Zeilen ein GBS-Patient mit seinen beiden Zeigefingern auf einem Tablet schreibt. Nicht in der Affengeschwindigkeit, in der er früher im Zehnfingersystem auf dem Laptop getippt hat, aber doch so schnell, dass 500 Wörter in einer halben Stunde für ihn kein Problem sind. Vor etwa acht Monaten konnte ich noch nicht einmal normal essen und brauchte eine Ewigkeit, um ein bißchen Kartoffelstampf oder zurechtgeschnittene Fleischstücke mit einer Gabel oder einem Löffel zu essen. Dabei saß ich, halb liegend, in einem Krankenbett mit aufstellbarem Rückenteil, und an meinem Teller war ein Plastikring befestigt, damit ich die Nahrung besser aufnehmen konnte. Damals war ich auf Reha, hatte also das Schlimmste schon hinter mir.
   Jetzt sitze ich in einem elektrischen Rollstuhl an einem breiten Schreibtisch in meinem Zimmer in einem Behindertendorf in Österreich. Ich kann schreiben, problemlos essen, Flaschen zur Hand nehmen und daraus trinken, und fast jeden Tag entdecke ich an mir neue Fähigkeiten, über die ich vor einem Jahr noch gelacht hätte, wenn alles nicht so traurig gewesen wäre. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, du wirst in einem Jahr mit einem Handrolli ins Esszimmer fahren und mit einem E-Rolli in der Gegend herumdüsen und das schöne Wetter genießen, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Wenn ich gekonnt hätte.
   Heute Nacht, kurz nach Mitternacht, konnte ich mich in meinem Bett zum ersten Mal selbstständig aufsetzen. Ohne technische Hilfsmittel, wie Hebelifter, Gurt oder aufstellbares Rückenteil. In den tagen davor hatte ich schon einige Male daran gedacht, es einfach einmal zu versuchen. Eine junge Frau von einer Versicherung hatt mich gefragt, ob ich mich im Bett alleine aufsetzen könne. Ich verneinte und dachte mir in diesem Moment: »Das könnte ich eigentlich einmal probieren.«
   Heute habe ich es probiert, und es gelang mir mühelos, ohne die geringste Anstrengung. Auf einmal - einfach so - saß ich in meinem Bett, die Arme nach vorne ausgestreckt und konnte es nicht glauben. Wie oft bin ich als Kind so im Bett gesessen und habe mit Legosteinen gespielt oder in Bilderbüchern geblättert? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es länger als ein Jahr nicht mehr konnte, und jetzt kann ich es wieder. Nachdem ich vor einem Jahr noch nicht einmal meine Arme neben mir ausstrecken konnte, wenn sie auf meiner Brust lagen. Wie sehr habe ich es monatelang immer wieder versucht, habe meine Schultern so gut ich konnte angespannt, um meine Arme neben meinen Oberkörper zu wuchten. Es war vergeblich. Ich hatte nicht die geringste Chance. Oft ist mir ein Arm über den Rand der Matratze gefallen. Dann wachte ich entweder durch den Ruck auf oder schlief so weiter, während das Blut in meine Finger floss. Dann träumte ich, meine Hände normal bewegen zu können. Ich zeigte es einer Krankenschwester, und die sagte zu mir im Traum: »Gar nichts können Sie. Schauen Sie hin. Ihr Arm liegt gelähmt neben Ihnen.« dann blickte ich auf meine Körperseite und sah, dass ich zwei rechte Arme hatte. Einer war angehoben und bewegte sich, der andere lag regungslos unter ihm und sah aus, als sei er tot. Diesen Traum hatte ich oft. Jetzt deute ich ihn so, dass mein Optimismus, meine Hoffnung, wieder gesund zu werden, sofort von einem negativen Gedanken zerstört wurde.
   Nein, nicht zerstört, aber weggedrängt. Die Angstgedanken hatten bei mir die Macht, jede aufkeimende Freude, jeden kleinen Hoffnungsschimmer sofort mit ihrem abgrundtiefen dunklen Maul zu verschlingen. Trotzdem habe ich die Hoffnung nie aufgegeben. Sie kam aus dem Rachen der Furcht immer wieder hervor. Wie Jonas aus dem Bauch des Wals. Oder Pinocchio.
   Tun Sie alles, was Sie können, um nicht in diesen Abgrund der Angst zu fallen. Nehmen Sie jede Hilfe an. Reden Sie über ihre Ängste, bitten Sie um Hilfe. Es gibt Entspannungstechniken, mit der man die Angst behandeln kann. Ganz verschwinden wird sie wohl nie, aber man kann diesem Ungeheuer die Zähne ziehen. Ich werde später mehr über den Umgang mit Angst und Panikattacken schreiben.
   Was mir oft geholfen und meine Angst gelindert hat, ist ein Rat, den mir eine Psychologin gegeben hat: Schließen Sie Ihre Augen, entspannen Sie sich, atmen sie ruhig und denken Sie sich dabei immer wieder den Satz »Ich beobachte meine Angst und bin dadurch mehr als meine Angst.« wenn man diese Technik einige Male übt, nicht locker läßt und nicht anzweifelt, dass sie funktioniert, ist sie ein gutes Werkzeug, um die Angst in den Momenten, in denen sie einen aufzufressen droht, kleiner zu machen. Die Angst verliert dadurch ihre allumfassende Macht und das Gefühl der völligen Hilflosigkeit verschwindet. Vielleicht nicht sofort und ganz sicher nicht für immer, aber es wird so trübe und unscheinbar wie ein Flirren auf heißem Asphalt. Und je mehr man sich der Angst nähert, desto mehr löst sie sich auf.
   Diese Methode der neutralen Angstbeobachtung hat mich immer zumindest ein Stück von meiner Angst entfernt. Die Angst war dann nicht mehr größer als ich, sie schwebte nicht mehr über mir wie ein Damoklesschwert, sonder war irgendwo vor und unter mir, und wenn ich die Angst mit Formen und Farben beschreibe, würde ich sage, die Angst war nicht mehr eine große, fast schwarze Wolke, die sich über mich legte, sondern sah eher aus wie eine schmutzige graue Rauchschwade. Und sie war nicht mehr undurchdringlich, sondern wurde an vielen Stellen durchsichtig.
   Und glauben Sie mir: Ein durchsichtiges Monster verliert viel von seinem Schrecken.

Markus Gregory Pärm
(Geschrieben am 13. August 2014 in Altenhof, Oberösterreich)

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