Samstag, 11. Oktober 2014

GBS - Mein Stratosphärensprung

Oft fällt es mir schwer, meine Erfolge und Fortschritte zu sehen. Im Laufe der letzten zehn Monate habe ich so viele Dinge erlebt, die mich beunruhigt, erschrocken, verängstigt und entsetzt haben, dass die Erinnerung daran oft die Sonnenseiten meines Krankheitsverlaufs überschatten. Ich will die Ängste, Schmerzen und die große Trauer nach dem Tod meiner Mutter jetzt gar nicht schildern, vielleicht mache ich das ein anderes Mal. Einiges davon kann man in meinen anderen Blogartikeln ja bereits lesen, und auch einen biographischen Text über mein Leben vor dem Guillain-Barré-Syndrom werde ich demnächst hier posten.
   Aber in meinem heutigen Beitrag möchte ich mich auf die positiven Entwicklungen meiner Krankengeschichte beschränken und von den kleinen Freuden, großen Hoffnungen und enormen Wundern berichten, die ich erfahren und erlebt habe.
   Eines vorweg: Die größten Wunder heißen Mama, Bruder, Verwandte, Ärzte, Krankenschwestern- und Pfleger, Therapeutinnen- und Therapeuten. Viele andere wären noch zu nennen, wie die Rettungssanitäter, die Leute von den Transportdiensten, die Zivis und FSJler und diejenigen aus der Technik und der Verwaltung.
   Aber dann gibt es noch die Fortschritte, die mir als Wunder der Heilung erscheinen. Bei all der Angst und Verzweiflung vergesse ich dann, dass ich mittlerweile Dinge tun kann, wie diesen Text mit beiden Zeigefingern in die Bildschirmtastatur meines Tablets zu tippen. Ich kann meine Arme, Hände und Beine bewegen, ich kann aufrecht sitzen ohne Angst haben zu müssen umzukippen, und ich kann selbstständig aus meinem E-Rolli aufstehen, indem ich mich an den Griffen eines Rollators festhalte und mit den Armen und Beinen hochstemme. Sicher, der Rollatur ist mit drei Zehn-Kilo-Hantelscheiben beschwert und mein Therapeut Wolfgang sitzt auch noch dahinter, um mich zu stützen, falls ich hinfalle.
   Aber ich kann aufstehen. Ich kann eine halbe Minute oder so stehen, ohne dabei das Gefühl zu haben hinzufallen oder schwindlig zu werden. Nur das freihändige Stehen klappt noch nicht. Dafür bin ich mir zu unsicher, und meine Beine sind zu wacklig. Zu schwach sind sie offenbar nicht.
   Wolfgang meint, mein Problem seien nicht so sehr die Muskeln, sondern die Angst. Damit hat er recht. Aber diese Angst zu überwinden ist sehr schwer. Oft glaube ich, dass ich es nicht schaffen kann, aber was mich dann doch motiviert, sind der phantastische Physiotherapeut und Jäger aus Gaspoltshofen Wolfgang, sowie der Gedanke, dass ich nicht mein Leben lang in diesem elektrischen Rollstuhl sitzen und Scherereien mit dem Katheter haben will. So cool der Rolli auch ist, aber letztlich will ich da wieder raus.
   Ein Beispiel für die Notwendigkeit der Angstüberwindung: Um aus dem Rollstuhl aufstehen und mich am Rollator abstützen zu können, muss ich den Schwerpunkt über die Unterstützungsfläche bringen. Das klingt nach physiotherapeutischem Fachchinesisch. Ist es auch. Übersetzt heißt das so viel, wie: nach vorne beugen. Um das zu tun und mich aus den Knien heraus aufzurichten, muss ich mich ein Stück nach vor fallen lassen. Ansonsten habe ich nicht genug Kraft, um auf die Beine zu kommen.
   Was harmlos klingt, ist für mich wie ein Stratosphärensprung. Als Kind konnte ich mich leicht auf die Knie fallen lassen und wieder aufstehen. Ich konnte sogar Purzelbäume schlagen. Ein Gedanke, der mir jetzt geradezu lächerlich absurd erscheint. Wobei...jucken würde es mich schon.
   Ich lasse mich also ein Stück nach vorne fallen und stemme mich dann hoch. Dabei fühle ich mich wie Phönix, der aus der Asche aufsteigt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Nie in meinem Leben hätte ich mir gedacht, dass es so phantastisch sein könnte, einfach nur aufzustehen. Wie oft habe ich das in meinem Leben gemacht und mir dabei gedacht, nein, nicht jetzt, ich möchte viel lieber sitzen bleiben. Jetzt sitze ich für meinen Geschmack schon zu lange und möchte aufstehen und gehen. Gehen kann ich zwar noch nicht, aber ich werde nicht aufgeben, weil die Aussichten wirklich gut sind.
   Ich wünsche mir gerade, dass Guillain-Barré-Syndrom-Patienten diesen Text lesen und vielleicht ein bißchen Hoffnung schöpfen. Oder noch besser: viel Hoffnung. Denn die gibt es, ich würde sie sogar als konkrete Hoffnung bezeichnen. Bei GBS gibt es einen Ausweg aus der Lähmung, aber der führt über den Kopf. Auch wenn man im Anfangsstadium nicht mehr als den Kopf bewegen kann, ist es letztlich entscheidend, was sich in diesem Kopf abspielt. Nützlich ist es, sich an das Gehen zu erinnern, oder besser gesagt, es zu visualisieren.
   Erinnern Sie sich an einen Augenblick in Ihrem Leben, in dem Sie gegangen sind.
   Am besten, Sie suchen sich ein besonders schönes Erlebnis. In meinem Fall ist es ein Spaziergang über Kieselsteine hin zu einer kleinen Halbinsel an der Adria in Kroatien. Sonnenzeit, unbeschwert und leicht. Oder ein Spaziergang in einem kleinen Waldstück in der Nähe von Seewalchen am Attersee. Wenn Sie an solche Erlebnisse denken, rufen Sie sich so viele Details wie möglich in Erinnerung, insbesondere das Gefühl unter ihren Fußsohlen oder Schuhen. Spüren Sie in Gedanken die Bewegungen Ihrer Beine, der Muskeln, des ganzen Körpers. Tun Sie das immer wieder, und seien Sie dabei so präzise wie möglich.
   So können Sie wieder zu einem Geher werden, einem Läufer, einem Wanderer. Wenn vorerst auch nur in der Erinnerung, aber Sie bekommen wieder ein Gefühl für das, was Sie verloren haben.
   Ich war vollständig gelähmt. Körperlich und seelisch. Nicht geistig. Mein Hirn hat die Krankheit verschont. Ich hatte auch keine Gesichtslähmung, wie viele GBS-Patienten. Ich konnte, denken, sprechen, hatte keine Schluckbeschwerden, konnte mit meinen Augen in alle Richtungen schauen und den Kopf ein bißchen nach links und rechts bewegen.
   Vom Hals bis zu den Zehen war ich tot. Zumindest kam ich mir so vor. Im Laufe der folgenden Monate habe ich immer wieder zu mir gesagt: »Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin tot«. Nicht gerade motivierend, aber diese Gedanken konnte ich nicht verhindern. Zu groß war oft die Verzweiflung. Wenn ich auf der Intensivstation wegen der Dialyse nichts trinken durfte. Meine Nieren haben versagt, und alleine daran wäre ich fast gestorben.
   Wenn meine Hände auf der Brust lagen und ich wollte sie ausstrecken, hatte ich keine Chance. Zuerst konnte ich sie gar nicht bewegen, und als das Gefühl und die Kraft in den Schultern allmählich zurückkamen, war ich noch immer nicht stark genug, meine Arme seitlich vom Körper auszustrecken. Manchmal gelang es mir mit ruckartigen Bewegungen, meine Arme ein paar Zentimeter über die Brust und den Bauch zu bewegen, aber der Stoma an meiner rechten Bauchseite war ein unüberwindbares Hindernis. Für alle, die nicht wissen, was ein Stoma ist: ein künstlicher Darmausgang, also ein Loch in der Bauchdecke, an dem der Darm mit Klammern festgetackert ist. An der Haut klebt eine Plastikfolie mit einem Loch und einem Plastikring, und daran wird ein kleiner Plastiksack befestigt, der den Darminhalt auffängt. Meistens. Wenn nicht, ist Krankenschwester- oder Pfleger eine ziemliche Scheißarbeit. Aber wenigstens tut der Stoma nicht weh. Ich spüre ihn gar nicht. Er soll wieder rückoperiert werden, aber dafür muss ich noch mobiler werden. Oder, mit anderen Worten gesagt: den Thron selbst besteigen können. Doch lassen wir das. Es ist kein sehr appetitliches Thema. Allerdings ist mir der Appetit nie vergangen. Das hat diese Krankheit nicht geschafft.
   So lag ich also Tag und Nacht auf dem Rücken und wurde ab und zu zur Seite gedreht, damit ich mich nicht wundliege. Bei jeder Lagerung hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand mit einem Vorschlaghammer einen Meissel in die rechte Hüfte schlagen. Das einzige, was noch schlimmer für mich war, als auf diesen Schmerz vorbereitet zu sein und ihn dann zu erleben, war, nicht darauf vorbereitet zu sein und davon aufzuwachen. Wenigstens war dieser Schmerz immer nur kurz, wirkte nicht nach und wurde auch nicht chronisch. Aber geplagt hat mich die Hüfte noch, bis ich zehn Monate später hier in Altenhof ein Keilkissen bekam, auf dem ich jeden Abend vier Stunden lang lag.
   Das Keilkissen ist jetzt weg, die Hüftschmerzen sind es auch. Danke, Wolfgang.
   Schmerzen, Verzweiflung, Durst, Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird, Blutwäsche, Träume von der Wüste und vom Wassertrinken, und das alles bei vollkommener Reglosigkeit. Bewegungsunfähig. Angst. Der Ausblick durch ein riesiges Fenster auf den Parkplatz eines Supermarktes. Autos. Bewegung. Wegfahren. Nach Hause fahren. Tränen. Albträume, nur unterbrochen vom Meissel.
   Meine Mutter besucht mich. Ich sehe ihr liebevolles, freundliches Gesicht. Alles ist gut. Mama ist da. Sie streichelt meinen Kopf, tröstet mich. Ich bin glücklich.
   Jetzt bin ich es nicht mehr. Mama ist tot. Ihr Gesicht sehe ich nicht mehr, außer auf Fotos, die ich mich aber nicht anzuschauen traue, weil es zu schmerzhaft ist. Wenn ich sterbe, sehe ich sie wieder. So hat der große Tyrann der Menschheit, der Tod, für mich seinen Schrecken verloren.
   Danke, Mama.
   Die erste Bewegung, die ich mit meinen Händen machen konnte, war, den linken Zeigefinger minimal nach links und rechts zu bewegen. Ich konnte den Finger nicht einziehen, durch die Lähmung war er immer ausgestreckt. Aber, als ich das zum ersten Mal konnte und mit eigenen Augen gesehen habe, wusste ich: Jetzt werde ich wieder gesund. Ich konnte zwar meine Arme schon etwas anheben, aber die habe ich nie als vollständig gelähmt erlebt, weil ich die Schultern schon etwas bewegen konnte, nachdem ich auf der Intensivstation aufgewacht war. Wobei ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher bin, ob das wirklich so war, aber, als ich den Zeigefinger bewegen konnte, schöpfte ich zum ersten Mal richtig Hoffnung. Das muss nach etwa drei Monaten Krankenhausaufenthalt gewesen sein. Auf der Neuro-Abteilung des Landeskrankenhauses Vöcklabruck in Oberösterreich.
   Inzwischen kann ich tippen, notdürftig mit der Hand schreiben, vier 1,5-Liter-Flaschen Coca-Cola Zero auf einmal vom Boden auf den Tisch heben, Suppe problemlos mit einem Löffel essen, mich waschen und in der Nase bohren. An meinem letzten Ergotherapietag im Krankenhaus, nach einem halben Jahr, brauchte ich noch eine dreiviertel Stunde, um ein paar Stückchen Lachsfilet mit Kartoffeln zu essen. Das war für mich Schwerstarbeit, noch dazu querbettsitzend, an einen riesigen Schaumgummiwürfel gelehnt und mit tatkräftiger Unterstützung meiner wunderbaren jungen Therapeutin Julia. Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, die man beim Lachsessen anfeuern muss. Danke, Julia.
   Essen ist inzwischen kein Problem mehr, nur schneiden kann ich noch nicht. Bei der Physiotherapie im Krankenhaus musste man mir die Hände noch mit Kletthandschuhen an den Handpedalen eines Trainingsgerätes befestigen, damit ich meine ersten Übungen machen kann. Inzwischen habe ich schon einen ziemlich festen Griff, der mir sogar schon fast normal erscheint, allerdings klappt es mit der Fingerbeugung- und Streckung noch nicht so recht. Aber ich kann die Finger einziehen und ausstrecken, und ich habe den Eindruck, dass es von Tag zu Tag besser wird. Das verdanke ich natürlich auch meinen Therapeuten hier in Altenhof, die mich schon seit fast einem halben Jahr begleiten und unterstützen. Johannes, Bettina, Sandra und Jasmin: Danke.
   Im Krankenhaus konnte ich ein halbes Jahr nur an die Decke schauen, und meine Therapeuten haben wahre Wunder bewirkt, dass ich so etwas wie Querbettsitzen überhaupt geschafft habe. Jetzt, zehn Monate späte sause ich mit einem E-Rolli durchs Behindertendorf. Fun, Fun, Fun, wie die Beach Boys sagen würden.
   Also, liebe GBSler: Nicht aufgeben. Ich weiß, irgendwann kann man es nicht mehr hören, wenn Alle sagen: Das wird schon wieder, aber es dauert. Doch es stimmt. Das Guillain-Barré-Syndrom ist kein ewiges Schicksal, keine unendliche Geschichte. Es ist eine lange Reise in die Abgründe der eigenen Seele. Die Welt um einen herum bewegt sich weiter, aber man selbst steht völlig still. Gelähmt und eingesperrt in sich selbst wie Han Solo im Karbonitblock. Wie Superman ohne Cape. Irgendwie ist es auch eine Reise ins Ich ein Blick in den Spiegel im Spiegel, in dem man sich nicht so sieht, wie man gerne sein möchte, sondern, wie man wirklich ist. Natürlich ist es ein großes Stück Selbsterkenntnis, ein Gnotis Seauton.
   Beim Blick in die Nacht sieht man sein eigenes Spiegelbild.
   Oder, wie Friedrich Nietzsche sagte: Wenn wir in den Abgrund blicken, blickt der Abgrund in uns zurück.

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