Donnerstag, 9. Oktober 2014

Mein Leben: Krankheit

Meine Krankheitsgeschichte mit dem Guillain-Barré-Syndrom begann im Jahr 2009, es war Januar, und ich kam gegen Mittag vom Einkaufen zurück. Draußen war es kalt, und es lag viel Schnee auf den Straßen. Der BILLA-Supermarkt in Seewalchen befindet sich direkt gegenüber des Mietswohnungshauses, in dem ich damals wohnte. In meinen Händen trug ich links und rechts je einen Plastiksack mit den tägliche Einkäufen. Ich stellte die Säcke neben mir ab und sperrte die Eingangstür zum Treppenhaus auf. Die Wohnung meiner Mutter befindet sich im ersten Stock, ich hatte also insgesamt keinen weiten Weg. Ich ging immer gerne einkaufen, schließlich war es eine Abwechslung für mich.
So machte ich mich auf den Weg zu unserer Wohnung, als ich hinter mir Schritte hörte. Eine Frau, die mit ihrer Familie damals in einer der Wohnungen im Obergeschoß lebte, betrat das Treppenhaus. Da ich dazu neige, in solchen Situationen nervös zu werden, wollte ich mich beeilen, damit ich genug Platz und Zeit habe, nach oben zu gehen. In der Hektik stolperte ich über die erste Stufe und fiel hin. Ich habe mich zwar nicht verletzt und war schnell wieder auf den Beinen, aber im Laufe der nächsten Tage bemerkte ich, dass mir das Gehen schwer fiel und ich das rechte Bein nicht mehr richtig bewegen, spreizen oder anheben konnte. Natürlich hätte ich damals sofort einen Arzt rufen sollen, aber ich scheute davor zurück und dachte mir, es würde schon wieder besser werden.
In den Tagen und Wochen darauf erledigte meine Mutter die Einkäufe. Was ich damals noch nicht ahnte, war, dass ich bis zu meiner Einlieferung ins Krankenhaus im Juni 2013 das Haus nur noch einmal verlassen sollte. Ich hatte zunehmend Schwierigkeiten zu gehen oder mich im Bett umzudrehen. Bei den entsprechenden Bewegungen tat mir die rechte Hüfte weh, und so wurde ich immer träger und fauler. Meine Zeit verbrachte ich mit fernsehen, lesen, schreiben, schlafen und Bier trinken. Anfangs waren es noch fünf Halbliterdosen pro Tag, aber diese Dosis steigerte sich im Laufe der Zeit zuerst auf zwölf und dann auf sechzehn. Wieviel ich damals wog, weiß ich nicht, aber es müssen um die 140 Kilo gewesen sein. Als ich ins Krankenhaus kam, waren es 165. So traurig es ist, aber diese Jahre waren ziemlich produktiv. Ich schrieb zwei Romane und täglich Tagebuch.
Das Haus verließ ich dann nur noch einmal. Es war am 30. August 2009, einen Tag nach meinem 40. Geburtstag. Ich fuhr mit meiner Mutter zu dem kleinen Badeplatz in Nußdorf am Attersee, den wir schon seit vielen Jahren besuchten, und wo ich viele unbeschwerte und fast glückliche Stunden verbrachte. Das Gehen fiel mir sehr schwer, und ich konnte die Beine kaum noch anheben. Ich schob es auf mein Gewicht, meine mangelnde körperliche Bewegung und den Sturz an der Treppe im Januar. Aber im Wasser fühlte ich mich wieder wohl und schnorchelte etwa eine Stunde lang.
        Schließlich fuhr ich mit meiner Mutter wieder nach Hause, kämpfte mich in den ersten Stock in unsere Wohnung, setzte mich auf den schwarzen Ledersessel und verließ das Haus erst wieder vier Jahre später.
Was machte ich in dieser Zeit? Dasselbe wie immer: schlafen, fernsehen, lesen, schreiben, Bier trinken, essen und den Wahnsinn meines Lebens verdrängen. Auf diese Art erlebte ich viermal Weihnachten und drei weitere Geburtstage. Ich nahm immer mehr an Gewicht zu und hoffte auf Besserung. Meine Mutter ging einkaufen, kochte und sorgte für mich. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kann ich es selbst nicht glauben, dass ich vier Jahre so gelebt habe und Mama das alles angetan habe. Gegessen habe ich nur wenig, getrunken dafür umso mehr. Die einzige Bewegung, die ich noch machte, war, mich alle zwei Stunden aus dem Fernsehsessel hochzuwuchten, um auf die Toilette zu gehen.
So vergingen ein Tag, eine Woche, ein Monat und ein Jahr nach dem anderen. Irgendwann hatte ich mich so an den Zustand gewöhnt, dass es mir nicht mehr viel ausmachte. Aber durch meine Trägheit und den Umstand, dass ich mich nur notdürftig pflegen konnte, entwickelten sich bei mir drei Abszesse am Gesäß und an den Oberschenkeln, die immer wieder zu bluten begannen. Ich reinigte sie mit Beta Isodona, das ich mit Taschentüchern oder Küchentüchern auftrug. Ich weiß zwar nicht, ob das mit meiner Erkrankung etwas zu tun hat, aber ich vermute es stark. Diese Phase dauerte von Anfang 2013 bis Juni 2013. ich konnte kaum noch aufstehen, verwendete für die Toilettengänge einen Stock und ignorierte meine Situation weiterhin. Sobald ich wieder im Wohnzimmer war, am Computer oder vor dem Fernseher saß und ein Glas Bier in der Hand hatte, war ich zufrieden und die Verdrängung des Irrsinns ging weiter.
Immer wieder sagte meine Mutter, dass ich zum Arzt gehen solle, flehte mich geradezu an, aber ich weigerte mich. Ich wusste ja auch nicht, wie. An Treppensteigen oder mich auf den Beifahrersitz unseres kleinen Honda zu setzen, war längst nicht mehr zu denken. Immer wieder nahm ich mir vor, weniger Bier zu trinken und meine Beine mit einem kleinen Pedaltreter zu trainieren. Das tat ich auch. Phasenweise. Selten.
Schließlich wurde es Juni 2013, und es geschah Folgendes: Schon seit Wochen litt ich immer wieder an Durchfällen und Abszessblutungen, kämpfte mich auf die Toilette, setzte mich wieder auf den Wohnzimmersessel, reinigte die blutenden Stellen mit Beta Isodona und machte die nächste Dose Bier auf. Ich muss mir wohl durch diese Blutungen die Infektion zugezogen haben, die schließlich zum Ausbruch meiner Krankheit führte.
Dann, eines Tages Anfang Juni, es war kurz nach Mitternacht, stand ich von meinem Ledersessel auf, um ins Bett zu gehen. Es fiel mir schwer, ich stützte mich auf meinen Stock, spürte ein leichtes Schwindelgefühl, das aber gleich wieder verschwand, und ging in mein Zimmer, das sich gleich neben dem Wohnzimmer befindet. Das Licht im Wohnzimmer ließ ich brennen, in meinem Zimmer war es dunkel. Meine Mutter befand sich gerade in der Küche oder im Bad und machte sich ihrerseits fertig, ins Bett zu gehen.
Ich ging auf mein Bett zu, es waren nur wenige Schritte, verschätzte mich in der Düsternis irgendwie um einen Schritt, und fiel beim Versuch, mich am Fußende auf das Bett zu knien, hin. Ich schrie auf. Meine Mutter hörte mich und kam ins Zimmer geeilt.
»Markus, was ist denn? Um Gottes Willen«, rief sie und nahm mich unter einem Arm.
Ich versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. »ich kann nicht aufstehen«, sagte ich.
»Ich ruf' die Rettung!« Meine Mutter wollte zum Telefon in der Bauernstube laufen, aber ich hielt sie zurück.
»Nein! Bitte nicht! Es geht schon.« schrie ich.
Ich beugte mich nach vor und lehnte mich über das Fußende meines Bettes. In den Beinen hatte ich keinerlei Kraft, es war mir vollkommen unmöglich aufzustehen. Also wuchtete ich mich mit den Armen aufs Bett rutschte irgendwie nach oben, drehte mich auf den Rücken und blieb so liegen.
        »Du musst sofort ins Krankenhaus. Sofort!« sagte Mama.
»Nein. Nein«, war meine Antwort. Ich glaubte, es sei nur ein vorübergehender Schwächeanfall. Etwas später, nachdem ich mich wieder erholt und eine Dose Bier getrunken hatte, versuchte ich, wieder aufzustehen. Ich rutschte ans Bettende, stellte die Füße auf den Boden und versuchte es.
Es war vergeblich. Ich hatte nicht die geringste Chance. Zwar konnte ich die Beine bewegen, aber jegliche Kraft war verschwunden. Ich legte mich wieder hin. Kurz, bevor ich einschlief, bemerkte ich, wie sich ein taubes Gefühl in meinen Fingerspitzen ausbreitete.
Ich muss wohl drei oder vier Tage im Bett verbracht haben. Ich schlief, trank nur noch wenig Bier, aß ab und zu ein Stück Kuchen und urinierte in eine Harnflasche. Ich hatte Verstopfung, was mit der Infektion zusammenhing.
Eines Tages beschloss ich dann, das Bett wieder zu verlassen. Irgendwie. Ich nahm mir vor, mich vorsichtig auf den Boden gleiten zu lassen, ins Wohnzimmer zu kriechen und mich dort auf den Sessel zu stemmen. Ich wollte raus aus dem Bett, weil mir klar war, dass es so nicht weitergehen konnte. Außerdem spielte ich mit dem Gedanken, mich wirklich ins Krankenhaus einliefern zu lassen. In meinem kleinen Zimmer hätten die Rettungsleute aber sicher Schwierigkeiten gehabt, mich auf die Trage zu legen. Also wartete ich, bis meine Mutter wieder einkaufen war und rutschte auf das Fußende meines Bettes zu. Es gelang mir mühelos, auf den Boden zu gelangen, und dann begann ich, ins Wohnzimmer zu kriechen. Es fiel mir zwar schwer, ging aber doch ohne Schwierigkeiten. Auf den Fernsehsessel schaffte ich es aber nicht. Ich konnte mich nicht genug hochstemmen, aber es gelang mir, mich mit dem Rücken an den Sessel zu lehnen. So blieb ich sitzen, bis meine Mutter wieder nach Hause kam. Als ich sie hörte, rief ich ihr zu: »Ich sitze hier!«
Mama blickte durch den Torbogen, der das Wohnzimmer mit der Bauernstube verbindet. Sie war ganz überrascht und freute sich, dass ich das geschafft hatte. Ich war selbst optimistisch. »Ich versuche, später noch einmal aufzustehen. Wenn' s nicht geht, muss ich halt ins Krankenhaus«, sagte ich.
Mama war erleichtert, dass ich endlich zur Vernunft gekommen war, ich auch. In diesem Moment war ich so zuversichtlich wie schon seit Jahren nicht mehr. Jetzt würde sich endlich alles zum Guten wenden, die Zukunft sah wieder freundlich aus, und ich wusste, dass ich es schaffen konnte, wieder auf die Beine zu kommen und gesund zu werden.
Ich schaffte es nicht.
Stattdessen blieb ich einige Tage lang einfach am Boden vor dem Fernsehsessel liegen. Meine Mutter bereitete mir eine Schlafstätte mit einer untergelegten Decke, einem Leintuch, Kopfpolster und einer weiteren Decke zum Schlafen. Ich verbrachte die Zeit mit fernsehen, Bier trinken, wenig essen und den Wahnsinn meines Zustandes zu ignorieren und die Einlieferung ins Krankenhaus auf den jeweils nächsten Tag zu verschieben.
        Mama war verzweifelt, sagte immer wieder, sie würde die Rettung rufen und ich müsse unbedingt ins Krankenhaus. Ich weigerte mich zu gehen. Immer noch. Ich trank in dieser Zeit vielleicht drei Dosen Bier pro Tag und keinen anderen Alkohol. Daran kann es also nicht gelegen haben, dass ich so uneinsichtig war. Nein, es war etwas Anderes.
Ich hatte Angst. Ich hatte furchtbare Angst vor dem Krankenhaus und davor, dass dann in meinem Leben kein Stein auf dem anderen bleiben würde. Ich glaubte allen Ernstes, dass die Schwäche in den Beinen wieder vergehen würde. Dann würde ich aufstehen, mich auf den Ledersessel setzen und damit beginnen, mich mehr zu bewegen. So würde sich alles zum guten wenden.
Ich glaube, ich habe vier Tage so verbracht. Dann, eines Abends, schlief ich ein und dachte mir: »Morgen gehe ich ins Krankenhaus.«
Ich sollte Recht behalten. Nur kann ich mich an die Ereignisse nicht mehr erinnern. Ich kenne sie nur von den Worten meiner Mutter:
Am frühen Nachmittag des nächsten Tages verschlechterte sich mein Zustand dramatisch. Ich verkrümmte mich, zog Hände und Arme ein und war halb besinnungslos. »lass mich sterben, lass mich sterben«, sagte ich zu Mama, erinnere mich aber nicht daran.
Meine Mutter alarmierte sofort den Hausarzt und das Rote Kreuz, und so wurde ich ins Landeskrankenhaus Vöcklabruck eingeliefert. Ich glaube, es war der 11. Juni 2013. Seitdem habe ich mein Zuhause nicht mehr gesehen. 
Die Angst, die ich damals vor meiner Einlieferung ins Krankenhaus empfunden habe, wird jetzt wieder wach. Ich habe lange Zeit nicht mehr über die Ereignisse der letzten Jahre so intensiv nachgedacht. Es war mir beim Schreiben dieses Textes so, als würde ich alles noch einmal durchleben.
Ich kann nicht glauben, dass ich so gelebt habe, dass dies alles geschehen ist. Dass ich all das habe geschehen lassen. Jetzt befinde ich mich auf dem Weg der Heilung. Ich kann inzwischen aus dem Rollstuhl aufstehen, wenn ich mich mit den Händen abstütze. Mein Physiotherapeut meint, es se nur eine Frage des Muskeltrainings.
Mein Leben ist jetzt besser, als es je zuvor war. Ich werde wohl wieder gesund. Das liegt aber nicht nur an mir, sondern vor allem an der vielen Hilfe und Unterstützung, die ich seit dem Ausbruch erhielt. Mein Dank gilt  den Ärzten, Ärztinnen, Krankenschwestern- und Pflegern, Therapeutinnen und Therapeuten in den Krankenhäusern von Vöcklabruck, Gmunden, Wels und Ried, dem Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg sowie allen Mitarbeitern des Dorfes Assista Altenhof am Hausruck. Ebenfalls verloren wäre ich ohne meinen Bruder Dr. Heimo Pärm und dessen Frau Gertraud, sowie allen Verwandten. Danke Euch allen!
Mein größter Dank aber gilt meiner Mutter und meinem Vater, ganz einfach, dass sie immer für mich da waren und das auch jetzt noch sind. 
Meine Mutter ist tot. Ich mache mir keine Vorwürfe, aber ich kann mir selbst nicht verzeihen, was ich ihr angetan habe. 45 Jahre lang. Trotzdem hat sie einige Wochen vor ihrem Tod noch zu mir gesagt: »Du bist ein lieber Sohn.«
Ich weiß, dass ich das nicht bin, aber das Geschehene kann ich nicht ungeschehen machen. Ich wünschte, ich könnte es. Diese Traurigkeit wird wohl immer ein Teil von mir bleiben. In solchen Momenten, wenn ich voller Abscheu auf den Menschen zurückblicke, der ich früher war, denke ich an ein Gedicht, das meine Mutter geschrieben hat:

"Zünd' eine Kerze an,
wenn du traurig bist.
Ihr Schein gibt Licht,
die größte Dunkelheit zu erhellen."

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